21. DEZEMBER 2012: PHILIPP
HUMBERT HUMBERT UND WILBUR LARCH

Er erkannte sie sofort wieder.

Sie kam langsam die Treppen herunter, neben ihr ein großer, älterer Herr, der etwas Majestätisches an sich hatte, das ihm sofort ins Auge stach, und der eine Ähnlichkeit mit jemandem hatte, den er früher einmal gekannt hatte, doch es fiel ihm beim besten Willen nicht ein, vielleicht täuschte er sich auch. Die beiden kamen den Gang entlang auf ihn zu, auf ihn, seine weinende Mutter, den Arzt und den Polizisten.

Die große Gestalt, der aufrechte Gang, das schöne, symmetrische Gesicht, die langen Haare. Wie hätte er sie nicht erkennen sollen? Er hatte sie danach wochenlang nicht aus dem Kopf bekommen.

Was zum Teufel machte sie hier im Keller des Bezirkskrankenhauses? Was hatte sie mit seiner Schwester zu tun? War sie eine Freundin? Wer hatte sie angerufen? Sein Gehirn arbeitete langsam, es war, als ob sich Nebelschleier darübergelegt hatten, er verstand nichts. Er war immer noch geschockt von der Tatsache, dass seine Schwester nicht mehr lebte, dass ein Lkw in ihr Auto gedonnert war und sie zu Brei gefahren hatte. Er konnte kaum klar denken.

Und plötzlich dämmerte es ihm: Die Frau, ihr Name war Katharina, das wusste er noch, hatte nichts mit seiner toten Schwester zu tun, sie hatte mit dem Mann zu tun, der neben dem Auto seiner Schwester auf dem Gehsteig gestanden und von dem Lkw ebenfalls erwischt worden war. Sie musste seine Frau sein! Sie, Katharina, war die Frau des Verunglückten, der zufälligerweise seine Schwester nach dem Weg gefragt hatte, in dem Augenblick, als der Lkw auf die Gegenfahrbahn geriet, so hatte es ihnen die Polizei berichtet.

Was für ein eigenartiger Zufall.

Philipp hatte Katharina vor sieben Wochen in einem Hotel in Tirol kennengelernt, es war Anfang November gewesen. Er war Teilnehmer eines Ärztekongresses in Innsbruck gewesen und wollte, bevor er nach Wien zurückfuhr, noch eineinhalb Tage wellnessen und entspannen. (Stephanie empfahl ihm das Interalpen-Hotel, das sich dreißig Kilometer westlich von Innsbruck, mitten im Wald, befand, wir erinnern uns daran.)

Beim Abendessen am Samstag fiel sie ihm bereits auf, sie saß einem Mann gegenüber, der mit dem Rücken zu ihm saß, und sie strahlte diesen Mann voller Liebe an. Er war neidisch, seine Scheidung lag drei Jahre zurück, zu lange war er schon allein. Als er vom Buffet zurückkam, waren die beiden weg.

Am Sonntagmorgen stand er sehr früh auf, schwamm mehrere Runden im Becken und legte sich dann in den Ruheraum, um zu lesen. Als die Tür aufging, kam sie herein, mit einem Buch in der Hand, er sprach sie an und sie kamen ins Gespräch. Die meiste Zeit sprachen sie über Bücher, sie war wie er, sie las ein Buch nach dem anderen, brauchte dieses Eintauchen in eine fremde Welt.

»Wer ist Ihre absolute Lieblingsfigur?«, fragte sie ihn.

Er überlegte eine Weile und antwortete dann: »Ich glaube, das ist Humbert Humbert in Nabokovs ›Lolita‹.«

Sie verzog das Gesicht und er lachte: »Der Mann tut mir leid. Zu wissen, ein pervertierter Kerl zu sein und so bedingungslos zu lieben, muss furchtbar sein. Und Ihre?«

»Ich glaube, der Arzt Wilbur Larch in ›Gottes Werk und Teufels Beitrag‹ von John Irving. Kennen Sie das Buch?«

Philipp nickte.

»Er ist keiner, der verurteilt, und das gefällt mir an ihm. Er akzeptiert die Entscheidungen der Frauen auf so positive Weise. Wenn sie eine Abtreibung haben wollen, bekommen sie ihre Abtreibung, wenn sie das Kind entbinden wollen, es aber nicht aufziehen können, nimmt er es in sein Waisenhaus auf. Er ist voller Liebe.«

Sie fachsimpelten lange über Autoren, Bücher und ihre Charaktere, bis sie auf die Uhr sahen und von den Liegen aufstanden, Katharina wollte frühstücken gehen, wo sie Julius treffen würde, Philipp hatte schon gefrühstückt und musste abfahren.

»Ich heiße Philipp«, er gab ihr die Hand.

»Katharina«, sagte sie.

»Sie sind zu zweit hier?«, fragte er neugierig und fügte schnell hinzu: »Ich habe sie gestern beim Abendessen mit jemandem gesehen.«

»Ja, mit meinem Mann«, sagte sie und errötete leicht, »er ist Pharmareferent hier in Tirol und ja, wir leben in Oberösterreich, und ich wünsche mir sehr, dass er sich wieder eine Arbeit in unserer Nähe sucht, damit wir nicht so viel getrennt sind. Darüber haben wir gestern gesprochen. Wozu erzähl ich Ihnen das?«

Sie lachte verlegen.

»Und? Will er es auch?«

»Ja, er ist einverstanden, er will es auch«, sagte sie glücklich.

»Das ist gut. Ein Neustart ist immer gut. Ich freue mich für Sie«, sagte Philipp.

»War nett, mit Ihnen zu plaudern«, sagte sie und reichte ihm lächelnd die Hand.

»Auf Wiedersehen, Katharina«, sagte Philipp.

Er erinnerte sich auch noch an den Gedanken, den er gehabt hatte, als er sie hinter der Ecke verschwinden sah, er dachte: Warum sage ich eigentlich »Auf Wiedersehen«, ich werde sie bestimmt nie wiedersehen, es sei denn, sie rennt versehentlich in Wien vor ein Auto und wird ins AKH eingeliefert, wo festgestellt wird, dass sie an einem Gehirntumor leidet.

Und jetzt sah er sie wieder.

Offensichtlich sah er im Wintermantel anders aus als im Bademantel, denn sie schien ihn nicht zu erkennen. Sie sah blass und müde aus, hatte geschwollene Augen. Sie weigerte sich, mit in die Leichenkammer zu gehen und deshalb begleitete der ältere Mann den Polizisten alleine. Sie setzte sich auf einen der Stühle und starrte an die Wand. Als der Mann zurückkam, schaute sie ihm gespannt ins Gesicht, er nickte und sie brach weinend zusammen.

Philipp brachte die beiden in ein Hotel und fragte den Mann, ob er noch Schlaftabletten aus einer Apotheke besorgen sollte, was der Mann dankend annahm.

»Ich bin übrigens Philipp Mangold, der Bruder von Stephanie. Sie ist – war in diesem Auto«, sagte er und reichte Arthur die Hand. Katharina saß auf einem Stuhl, sie wäre beinahe umgekippt.

»Arthur Bergmüller, das ist meine Schwiegertochter Katharina. Julius und sie haben vier Kinder«, sagte der Mann.

Vier Kinder!

(Eigentlich hätte Katharina der Name Stephanie Mangold etwas sagen müssen, da sie sich aber im Schockzustand befand, war das nicht der Fall, erst Tage später dämmerte es ihr und sie brach völlig zusammen. Philipp hätte der Name Bergmüller etwas sagen müssen, da dies aber ein verbreiteter Name in Österreich ist, war das nicht der Fall.)

Philipp kam mit Beruhigungs- und Schlaftabletten zurück ins Hotel, überreichte sie Arthur und sagte ihm, wie viel er Katharina davon verabreichen durfte. Sie war bereits auf dem Zimmer.

»Ich kümmere mich um alles, Herr Bergmüller, ich rufe morgen ein Bestattungsinstitut an, das die Überstellung übernehmen kann«, sagte Philipp, »wenn Sie nichts dagegen haben, komme ich morgen früh her und bringe Sie zu Ihrem Auto.«

Arthur gab ihm seine Visitenkarte und bedankte sich. Philipp fuhr zu seiner Mutter.

Obwohl er um Stephanie trauerte und mit den Begräbnisvorbereitungen und vor allem mit seiner Mutter, die einen Zusammenbruch erlitten hatte, sehr beschäftigt war, ließ ihn der Gedanke an Katharina nicht los. Er hoffte die ganze Zeit auf einen Anruf aus P. Am Abend nach Stephanies Bestattung rief er Arthur an und erfuhr, dass Julius’ Begräbnis am nächsten Tag stattfinden sollte. Spontan entschloss er sich hinzufahren.

Er parkte außerhalb des Ortes und spazierte hinein. In der Kirche fand gerade die Begräbnismesse statt, er setzte sich in eine der hinteren Reihen und hörte zu. Die Kirche war fast ganz voll, vorne links konnte er Katharina erkennen, neben ihr die vier Kinder und Arthur. Zwei blonde Mädchen, ein älteres und ein jüngeres, standen auf und lasen einen bewegenden Text, den sie selbst geschrieben hatten, die Kleinere fing dabei zu schluchzen an. Er hieß »Das war mein Vater« und rührte alle in der Kirche zu Tränen, auch ihn.

Als sich die Prozession mit dem Sarg in Gang setzte, schloss er sich hinten an. Auf dem Friedhof sprach der Pfarrer noch ein paar Worte, bevor der Sarg hinabgelassen wurde und jeder Trauergast mit einer kleinen Schaufel Erde hineinwarf. Als er vortrat, um Katharina sein Beileid auszusprechen, schüttelte sie seine Hand und sagte nichts. Sie sah aus, als hätte sie einige Kilo abgenommen.

Arthur schüttelte herzlich seine Hand und sagte: »Schön, dass Sie gekommen sind. Gehen Sie doch nachher mit zum Leichenschmaus, es würde uns sehr freuen!«

Im Gasthaus saß er, das hatte Arthur spontan entschieden, an der großen Tafel mit Familie Bergmüller und einer anderen Familie, das Paar hieß Doris und Andreas und war offenbar mit Katharina gut befreundet. Die vier blonden Kinder saßen wie die Orgelpfeifen zwischen Katharina und Arthur und Philipp stellte fest, dass sie wie die Mutter groß, blond und blauäugig waren, selbst dass die Art zu sprechen eine ähnliche war. Sie alle sahen aus, als wären sie ihr aus dem Gesicht geschnitten.

Ob Julius das gestört hatte?, fragte er sich, hatte er sich manchmal gewünscht, dass wenigstens eines so wäre wie er?

Man beäugte ihn neugierig und die Jüngste, sie hieß Luisa, fragte ihn unverblümt: »Bist du der Bruder von der Frau, die auch überfahren wurde?«

»Ja, der bin ich«, sagte er.

»Warum bist du hier?«, fragte sie weiter, »du hast meinen Papa ja gar nicht gekannt.«

»Weil ich gerade in der Nähe war und da dachte ich, ich schaue vorbei«, sagte er und warf Katharina einen Blick zu.

Er merkte, dass sie ihn aufmerksam betrachtete.

(Es ist unnötig zu erwähnen, dass er ihr gefiel, er hatte ihr schon im Interalpen-Hotel gefallen, sie stand auf große dunkelhaarige Männer mit Brille.)

Später, als alle das Gasthaus verließen, waren sie einen Moment allein.

»Wie geht es Ihnen?«, fragte er sie leise.

Sie zuckte nur mit den Schultern und schüttelte leicht den Kopf, er merkte, dass sie die Tränen zurückhalten musste.

»Nicht besonders gut, wie Sie sich denken können«, sagte sie bitter, »und Ihnen?«

»Es geht, ich muss zugeben, ich hatte wenig Kontakt mit meiner Schwester«, antwortete er, »für meine Mutter ist es schlimmer, die beiden hatten eine sehr enge Bindung.«

Sie verließen das Gasthaus und er begleitete sie zum Auto, wo zwei der Kinder schon warteten, die beiden anderen stiegen gerade zu Arthur ins Auto.

»Mein Mann hat sechs Jahre lang als Pharmareferent in Westösterreich gearbeitet und vor Kurzem gekündigt, er wollte wieder mehr bei uns sein. Im Frühling wollten wir außerdem für längere Zeit alleine verreisen. Ich habe mich sehr darauf gefreut«, sie knetete ihre Hände, »ja, es hätte ein Neuanfang werden sollen.«

»Ich weiß«, sagte Philipp und dann gab er sich einen Ruck und fragte sie: »Erinnern Sie sich nicht an mich?«

»Wie meinen Sie das? Natürlich erinnere ich mich an Sie! Sie waren in diesem Krankenhaus in Kitzbühel, Sie sind der Bruder der verunglückten Frau«, sagte Katharina irritiert.

»Ihre Lieblingsfigur ist Dr. Wilbur Larch in ›Gottes Werk und Teufels Beitrag‹ von John Irving, weil er den Frauen hilft, egal ob sie sich eine Abtreibung wünschen oder ein Waisenkind zurücklassen«, sagte er.

Katharina blieb abrupt stehen und sah ihn erstaunt an.

»Das ist jetzt nicht wahr!«, sagte sie, »das gibt es einfach nicht!«

»Wir haben uns in diesem Wellnesshotel im November unterhalten, im Ruheraum, wissen Sie noch?«

Sie nickte.

»Was für ein eigenartiger Zufall«, sagte sie.

Sie sah an ihm vorbei und presste ihre Lippen zusammen.

»An dem Wochenende war ich so glücklich«, sagte sie.

Und dann begann sie zu weinen.

Sie konnte sich gar nicht mehr beruhigen.