Thomas’ Geschichte ließ Katharina nicht los.
Gleich am nächsten Tag wollte sie sich die CD anhören, doch sie kam nicht dazu. Leonora und Luisa erkrankten an Bauchgrippe und sie pendelte zwischen Betten und Toilette und Küche hin und her, bis sie sich selbst ansteckte. Erst zwei Tage später konnte sie am Abend endlich die CD einlegen. Zuerst hörte sie einfach nur zu, dann, beim zweiten Mal, tippte sie alles wortwörtlich in ihren PC, um anschließend ganze Sätze daraus zu formulieren, denn Thomas sprach eigenartig verdreht, oft sagte er nur einzelne Worte.
Die Stimme, der Katharina zuhörte, kam ihr auf seltsame Weise vertraut vor, doch sie schob den Gedanken achtlos zur Seite. Und das, was sie hörte, machte sie fassungslos.
Es ist ein ungewöhnlich warmer Tag, das Schmelzwasser ist überall.
Wir setzen unsere Füße in Pfützen, als wir aus dem Jeep aussteigen. Ludovica knicken beim Aussteigen vor Schwäche die Beine weg und ein Soldat muss sie auffangen. Vor uns stehen Wladimir Iwanowitsch Teljan und drei andere Soldaten. Teljan lächelt uns auf eigenartige Weise an, ja, irgendwie wirkt er entrückt oder, ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll. Er tritt auf Lu zu und fasst ihr unter das Kinn. Sie wendet das Gesicht ab.
»Wie siehst du denn aus, meine kleine Pianistin?«, fragt er, »ich habe dich vermisst und überall gesucht.«
Er unterzeichnet ein Papier, das ihm einer unserer Begleitsoldaten aushändigt. Er schickt die drei sofort in die Küche, wo das Mittagessen auf sie wartet. Erleichtert ziehen sie ab.
»Löst den beiden die Fesseln«, sagt er und der Soldat, der neben ihm steht, tut es.
Man führt uns durch das Lager bis zum Badehaus. Niemand ist zu sehen, alles wirkt gespenstisch ruhig und ausgestorben. Im Badehaus stehen zwei Holzwannen voll mit Wasser, daneben jeweils zwei Stühle, darauf liegen Seife, Handtuch und Kleidungsstücke. Ein dritter Stuhl steht etwas abseits.
Wir sind mit Teljan alleine.
»Ihr zieht euch jetzt aus und genießt ein Bad«, sagt er ruhig.
Er zieht seine Pistole aus dem Halfter, setzt sich auf den dritten Stuhl und beobachtet uns ungerührt, während er mit der Waffe spielt. Wir stehen betreten da und würgen an unserer Angst herum.
»Bitte seien Sie doch gnädig!«, platzt es schluchzend aus Ludovica hervor.
»Scht, scht«, macht Teljan und deutet mit der Waffe auf die Wannen, »einfach ausziehen, ins Wasser steigen und ordentlich waschen.«
Wir ziehen uns aus und vermeiden beide, jeweils einen Blick auf den anderen zu werfen. Aus den Augenwinkeln heraus sehe ich, dass Ludovica mit blauen Flecken übersät ist und dass sie am ganzen Körper zittert.
Das Wasser in der Wanne ist kalt. Ich seife mich ein, auch die Haare, und tauche unter. Dann steige ich aus dem Wasser und trockne mich ab.
»Anziehen«, befiehlt Teljan.
Ich ziehe die Kleidung an, die auf dem Stuhl liegt. Als ich fertig bin, sehe ich zu Lu hinüber und zucke zusammen. Sie trägt ein langes, elegantes rotes Kleid und hohe Schuhe. Der Offizier geht zu ihr und schließt die Haken auf dem Rücken.
»Sieht sie nicht großartig aus?«, sagt er, »das war das Lieblingskleid meiner Frau.«
Lu wirft mir einen verzweifelten Blick zu. Teljan zieht aus seiner Jackentasche einen Lippenstift heraus und reicht ihn ihr.
»Zieh deine Lippen nach und färb deine Wangen ein bisschen rot«, sagt er.
Mit zitternden Händen tut sie es. Das Ergebnis sieht grotesk aus. Sie sieht wie eine wächserne Puppe aus, in deren Gesicht ein kleines Kind mit einem Lippenstift herumgemalt hat. Wir verlassen das Badehaus und gehen zu Teljans Unterkunft. Drinnen im Wohnraum steht der Flügel und auf dem Tisch ist für sechs Personen gedeckt.
»Bitte esst, ihr müsst ja hungrig sein«, fordert uns Teljan auf, »setzt euch und feiert mit uns ein Fest! Das Fest eurer Rückkehr!«
Wir müssen uns nebeneinander setzen und Teljan nimmt uns gegenüber Platz. Wir sind sehr hungrig und schlingen das Essen förmlich hinunter. Die Pilmenis und der Borschtsch sind köstlich. Die drei Soldaten betreten den Raum und setzen sich neben Teljan. Die vier essen kaum und schauen uns belustigt zu. Der Offizier trinkt ein Glas Rotwein nach dem anderen, seine drei Schergen sind mehr dem Wodka zugeneigt.
Nach dem Essen fordert er Lu auf, etwas auf dem Klavier zu spielen. Sie setzt sich an den Flügel und spielt Schumanns »Kinderszenen« und anschließend Beethovens »Mondscheinsonate«. Teljan schließt die Augen und beginnt mit seinen Händen und seinem Kopf ruckartige Bewegungen zu machen, als würde er dirigieren.
Was hat er vor mit uns, denke ich die ganze Zeit panisch, was soll dieses groteske unwürdige Spiel? Mir wäre es fast lieber, er würde uns einfach in die Karzer sperren, dann wüsste ich wenigstens, was mich erwartet.
Plötzlich steht Teljan auf und die Männer erheben sich ebenso. Der Offizier packt Lu am Arm und schleift sie mit sich in das angrenzende Zimmer. Im selben Moment packen mich die Männer und –
Hier hatte der Erzähler für eine lange Weile gestockt, bis er wieder weitersprach.
– schleppen mich zum Tisch. Als ich mich wehren will, verpasst mir einer einen so festen Schlag in die Magengrube, dass ich außer Gefecht gesetzt bin. Meinen Oberkörper pressen sie mit dem Gesicht nach unten auf den Tisch. Sie spreizen meine Beine und reißen meine Hose hinunter. Der Reihe nach vergewaltigen sie mich. Der Schmerz ist furchtbar, ich habe das Gefühl, dass es mich innerlich zerreißt. Sie grölen dabei.
Dann lassen sie von mir ab und fordern mich auf, meine Hose hochzuziehen. Ich kann kaum aufrecht stehen. Teljan kommt mit Ludovica aus dem Zimmer, sie hat einen Strick um den Hals, an dem er sie hält. Ihr Gesicht ist noch mehr mit Lippenstift verschmiert.
»Bitte lassen Sie sie in Ruhe«, bettle ich, »machen Sie doch mit mir, was Sie wollen, aber bringen Sie sie einfach in die Frauenbaracke!«
Teljan lacht lauthals, es klingt, als wäre er ein Wahnsinniger.
Die vier trinken wieder, bis Teljan die Tür öffnet. Mir werden die Hände auf den Rücken gebunden.
»Jetzt beginnt das Fest so richtig«, sagt er und reicht einem Soldaten einen Leinensack, der neben der Tür lag.
Wir entfernen uns immer weiter vom Lager. Ich weiß nicht, ob es eine halbe oder ganze Stunde ist, die wir gehen und gehen. Jeder Schritt bereitet mir höllische Qualen. Ich bin überzeugt davon, dass sie uns einfach erschießen werden, ohne jede Gerichtsverhandlung, ohne Urteil. Es ist gut so, das Leiden hat ein Ende, denke ich, wir sterben gemeinsam in der Weite Sibiriens und ich bin dankbar, dass ich die letzten Monate gemeinsam mit Lu verbringen durfte. Ich schließe innerlich mit meinem Leben ab, verabschiede mich von meiner Mutter und meinem kleinen Bruder.
Neben einem Bach, an einer Stelle, an der vereinzelt kleine Bäume wachsen und auch Baumstümpfe zu sehen sind, bleiben wir stehen. Lu wird gezwungen, vor einem Baumstumpf stehen zu bleiben und der Soldat öffnet den Sack.
Er zieht eine kleine Axt hervor.
Von da an hatte Thomas nur noch stockend gesprochen, mit langen Pausen zwischen den Worten. Es waren die Pausen gewesen, die Katharina so nahegegangen waren. Sie hatte sich den Mann vorgestellt, wie er um Worte ringend auf dem Stuhl saß und versuchte, das Unbeschreibliche zu schildern. Wieder einmal hatte sie es bedauert, den alten Mann nicht persönlich kennenlernen zu dürfen. Wie mochte er wohl aussehen?
Mein Herz setzt aus. Lu entfährt ein Schrei. Entsetzt starrt sie die Axt an, die der Soldat an Teljan weitergibt.
»Na los, du widerliches Stück Dreck, schlag mir doch den Kopf ab!«, schreit sie Teljan an und spuckt ihm ins Gesicht.
Ruhig wischt er mit seinem Ärmel Wange und Stirn ab und entgegnet: »Nicht so eilig, meine Liebe.«
Er kommt zu mir, in der linken Hand die Axt, in der rechten Hand die Pistole, die er an meine Schläfe hält. Meine Hände bindet man los. Zwei Soldaten zwingen Lu in die Knie und halten ihre rechte Hand auf dem Baumstumpf fest. Sie beginnt zu wimmern.
»Du sollst jeden Tag deines Lebens an diese Stunden zurückdenken, hörst du«, flüstert er in mein Ohr, »denn du hast mir das genommen, was mein Leben in den letzten Jahren wieder erträglich gemacht hat. Du sollst überleben! Das ist deine Strafe! Du sollst überleben!«
Er beginnt die Worte hysterisch lachend zu wiederholen: »Du sollst überleben! Du sollst überleben!«
»Bitte lasst sie leben«, flüstere ich, »es ist alles meine Schuld, ich habe sie gezwungen, mit mir mitzukommen.«
Er schüttelt den Kopf und neigt seinen Mund wieder an mein Ohr.
»Nimm die Axt und hack ihr den Daumen ab oder den kleinen Finger, du kannst es dir aussuchen!«, flüstert er, »tu es oder ich erschieß dich hier auf der Stelle!«
Ich stöhne auf. Eine Weile ist es ruhig.
»Dann erschieß mich doch!«, brülle ich ihn an, »los, drück ab, worauf wartest du?«
»Gut«, sagt er und betrachtet mich aufmerksam, »wenn es dir lieber ist zuzusehen, dann bitte.«
Dann –
Thomas hatte hier zu reden aufgehört und laut zu stöhnen begonnen, dann war sein Stöhnen in Schreie übergegangen. Katharina war es in Mark und Bein gefahren. Man konnte zwei Mal ein Klick hören, das Aufnahmegerät war offenbar aus- und wieder eingeschalten worden.
Er deutet zwei Soldaten und obwohl ich mich heftig wehre, binden sie mich an einem Baum fest. Ein Strick schnürt dabei so fest in meinen Hals, dass ich meinen Kopf nicht bewegen kann und kaum Luft bekomme.
Teljan, mit der Axt in der Hand, nähert sich Lu. Ihre Augen weiten sich vor Angst. Sie wehrt sich und der Soldat hat Mühe, sie festzuhalten. Ein zweiter kommt ihm zu Hilfe.
»Bitte nicht«, flüstert sie, »ich tu alles, was du willst.«
»Die Gelegenheit hattest du bereits! Alles habe ich für dich getan! Ging es dir nicht gut bei mir?«, schreit er, »musstest du unbedingt mit diesem elenden Kerl davonlaufen?«
Er schaut auf sie herab.
»Du wirst nie wieder Klavier spielen, das schwör ich dir!«, sagt Teljan, »du bist eine liederliche untreue Frau, genauso wie meine Ehefrau es eine war, und es wird dir so ergehen wie ihr!«
»Oh mein Gott, es tut mir so leid«, schreie ich, »Lu, es tut mir so leid!«
Die Axt saust auf den Baumstumpf hinab und das Blut spritzt. Lu schreit auf. Das ist kein Schrei mehr, es ist unmenschlich, es ist wie das lang gezogene Röhren eines Tieres. Teljan hört nicht auf, mit weiteren Schlägen hackt er ihr die restlichen vier Finger ab, wobei er nicht jedes Mal genau trifft. Mit der blutigen Axt streift er die Finger in das Gras. Ich muss mich übergeben. Lu schreit und schreit.
Die Soldaten lassen die rechte Hand los und pressen die linke Hand auf den blutüberströmten Baumstumpf. Dieses Mal macht er sich nicht mehr die Mühe, die einzelnen Finger zu erwischen. Er hackt mit einem Hieb die ganze Hand ab, die wie eine rote, geschwollene Spinne liegen bleibt.
Die Soldaten lassen Lu los und sie fällt zurück ins Gras, schreiend, stöhnend, wimmernd. Sie richtet sich auf und bewegt sich auf ihren Knien auf mich zu. Es ist so – so ein grauenhaftes Bild. Oh mein Gott!
Lu!
Thomas hatte wieder zu schreien und stöhnen begonnen und es machte Klick. Jemand hatte die Aufnahme damit vorerst beendet.
Katharina ging wankend ins Bett, Thomas’ Schreie verfolgten sie.