Zum Modernismus gehört mehr als nur Kunst und Literatur. Er umfasst heute fast alles, was in unserer Kultur wahrhaft lebendig ist. Und doch ist er, historisch gesehen, etwas recht Neues. Die westliche Zivilisation ist nicht die erste, die ihren Blick zurückwendet und ihre eigenen Fundamente hinterfragt, aber sie ist in dieser Hinsicht weiter gegangen als jede andere. In meinen Augen ist der Modernismus eine Intensivierung, um nicht zu sagen eine Verschärfung dieser selbstkritischen Tendenz, die mit dem Philosophen Immanuel Kant begonnen hat. Weil er der Erste war, der die Mittel der Kritik ihrerseits der Kritik unterwarf, halte ich Kant für den ersten wirklichen Modernisten.

Das Wesen des Modernismus liegt, soweit ich sehe, darin, die charakteristischen Methoden einer Disziplin anzuwenden, um diese Disziplin ihrerseits zu kritisieren – nicht um sie zu untergraben, sondern um ihre Position innerhalb ihres Gegenstandsbereichs zu stärken. Kant benutzte die Logik, um die Grenzen der Logik zu bestimmen, womit er zwar vieles aus ihrem alten Zuständigkeitsbereich ausschloss, die Logik jedoch letzten Endes in dem ihr verbliebenen Bereich einen umso sichereren Stand hatte.

Die Selbstkritik des Modernismus entwickelte sich aus der Kritik der Aufklärung, mit der sie aber nicht identisch ist. Die Aufklärung kritisierte von außen, wie es Kritik im üblichen Sinne tut; der Modernismus kritisiert von innen heraus und bedient sich dabei der Verfahren ebendessen, was er kritisiert. Es scheint nur natürlich, dass diese neue Art von Kritik zunächst in der Philosophie auftrat, die ja qua Definition kritisch ist; doch im Laufe des 19.Jahrhunderts verbreitete sie sich in vielen anderen Gebieten. Man hatte begonnen, von jeder geregelten gesellschaftlichen Aktivität eine rationalere Begründung ihres Tuns zu fordern, und die kantische Selbstkritik, die zunächst innerhalb der Philosophie als Antwort auf diese Forderung entstanden war, wurde nun auch in anderen Bereichen herangezogen, um dieser Forderung nachzukommen und sie zu interpretieren.

Wir wissen, was aus der Religion wurde, die nicht in der Lage 50war, sich der kantischen immanenten Kritik zu bedienen, um sich selbst zu rechtfertigen. Auf den ersten Blick könnte es scheinen, dass die Künste in einer ähnlichen Lage waren. Nachdem die Aufklärung ihnen alle ernsthaften Aufgaben abgesprochen hatte, sah es aus, als sollten sie mit der reinen Unterhaltung gleichgesetzt werden, während es zugleich so schien, als würden die Unterhaltung wie auch die Religion nur noch wegen ihres therapeutischen Werts geschätzt. Die Künste konnten sich vor dieser Herabsetzung nur bewahren, indem sie nachwiesen, dass die Art von Erfahrung, welche sie ermöglichten, ihren eigenständigen Wert besaß und dass sie auf keine andere Weise erlangt werden konnte.

Es erwies sich, dass jede der Künste diesen Nachweis für sich allein führen musste. Es musste nicht nur gezeigt werden, was in der Kunst allgemein einzigartig und irreduzibel ist, sondern auch, was in jeder einzelnen Kunst einzigartig und irreduzibel ist. Jede Kunst musste in ihrer eigenen Arbeitsweise und ihren eigenen Werken die Effekte bestimmen, über die sie allein verfügt. Damit schränkte sie zwar ihren Gegenstandsbereich ein, doch zugleich wurde ihre Herrschaft über diesen Bereich umso unanfechtbarer.

Es wurde bald deutlich, dass der eigene und eigentliche Gegenstandsbereich jeder einzelnen Kunst genau das ist, was ausschließlich in dem Wesen ihres jeweiligen Mediums angelegt ist. Die Aufgabe der Selbstkritik war es folglich, aus den spezifischen Effekten einer Kunst all jenes herauszufiltern, was eventuell auch von dem Medium einer anderen Kunst – oder an das Medium einer anderen Kunst – entliehen werden könnte. So würden die einzelnen Künste »gereinigt« und könnten in ihrer »Reinheit« die Garantie für ihre Qualitätsmaßstäbe und ihre Eigenständigkeit finden. »Reinheit« bedeutete Selbstdefinition, und das Unternehmen der Selbstkritik wurde in den Künsten zu einer rigorosen Selbstdefinition.

Die realistische oder naturalistische Kunst pflegte das Medium zu verleugnen, ihr Ziel war es, die Kunst mittels der Kunst zu verbergen; der Modernismus wollte mittels der Kunst auf die Kunst aufmerksam machen. Die einschränkenden Bedingungen, die das Medium der Malerei definieren – die plane Oberfläche, die Form des Bildträgers, die Eigenschaften der Pigmente –, wurden von den alten Meistern als negative Faktoren behandelt, die allenfalls indirekt eingestanden werden durften. Der Modernismus betrachtete dieselben Einschränkungen als positive Faktoren, die nun offen an51erkannt wurden. Manets Gemälde waren die erste modernistische Malerei, weil sie offen heraus erklärten, dass sie auf einer planen Fläche gemalt waren. In der Nachfolge Manets verzichteten auch die Impressionisten auf Grundierung und Lasuren, um dem Auge keinen Zweifel daran zu lassen, dass die Farben in ihren Bildern aus Tuben und Töpfen kamen. Cézanne opferte die naturgetreue Darstellung, oder deren Korrektheit, um seine Zeichnung und seinen Bildaufbau deutlicher an die Rechteckform der Leinwand anzupassen.

Die Betonung der unvermeidlichen Flächigkeit des Bildträgers war jedoch für die Selbstkritik und Selbstdefinition der modernistischen Malerei fundamentaler als alles andere. Denn nur die Flächigkeit ist ausschließlich der Malerei eigen. Die durch seine Umgrenzung bestimmte Form des Bildes ist eine Bedingung oder eine Norm, welche sie mit dem Theater gemeinsam hat; die Farbe ist eine Norm und ein Mittel, das sie nicht nur mit dem Theater, sondern auch mit der Skulptur teilt. Weil die Flächigkeit die einzige Bedingung ist, welche die Malerei mit keiner anderen Kunst teilt, strebte die modernistische Malerei vor allem zur Flächigkeit.

Schon die alten Meister hatten verspürt, wie nötig es ist, das zu bewahren, was man die Integrität der Bildfläche nennt, das heißt, unter- und oberhalb der lebhaftesten Illusion eines dreidimensionalen Raumes die fortwährende Präsenz der Flächigkeit anzudeuten. Der darin angelegte augenscheinliche Widerspruch war von entscheidender Bedeutung für das Gelingen ihrer Gemälde und ist überhaupt entscheidend für das Gelingen aller Malerei. Die Modernisten haben diesen Widerspruch weder umgangen noch aufgelöst, sondern ihn umgekehrt: Auf die Flächigkeit ihrer Bilder wird man nicht erst im Nachhinein aufmerksam gemacht, sondern noch bevor man erkennt, was in dieser Flächigkeit enthalten ist. Während man bei einem alten Meister zumeist erst sieht, was innerhalb des Bildes geschieht, bevor man das Bild selbst sieht, sieht man ein modernistisches Gemälde zuerst als Bild. Das ist natürlich die beste Art, ein Bild zu betrachten, ganz gleich ob alter Meister oder modernistisch, aber die modernistische Malerei macht dies zur einzigen und notwendigen Sehweise, und der dadurch erzielte Erfolg des Modernismus ist ein Erfolg der Selbstkritik.

Die modernistische Malerei hat in ihrer jüngsten Phase die Darstellung erkennbarer Gegenstände nicht prinzipiell aufgegeben. 52Was sie jedoch prinzipiell vermeidet, ist die Darstellung jener Art von Raum, in dem erkennbare Gegenstände vorkommen können. Die Abstraktion oder Ungegenständlichkeit hat sich bislang nicht als ein unbedingt notwendiges Moment in der Selbstkritik der Malerei erwiesen, auch wenn so bedeutende Künstler wie Kandinsky und Mondrian dieser Ansicht waren. Die Darstellung oder Abbildung als solche stellt keine Beeinträchtigung der spezifischen Eigenheiten der Malerei dar; dies gilt jedoch nicht für die Assoziationen von dargestellten Gegenständen. Alle erkennbaren Gegenstände existieren (wie auch die Bilder selbst) im dreidimensionalen Raum, und die leiseste Andeutung eines erkennbaren Gegenstands genügt, um Assoziationen dieses Raumes wachzurufen. Dazu genügt schon der fragmentarische Umriss einer menschlichen Gestalt oder auch einer Teetasse, der den Bildraum von der faktischen Zweidimensionalität entfremdet, welche die Eigenständigkeit der Malerei gegenüber den anderen Künsten gewährleistet. Denn, wie bereits gesagt, die Dreidimensionalität ist das Territorium der Skulptur. Um ihre Autonomie zu gewinnen, musste sich die Malerei vordringlich all dessen entledigen, was sie mit der Skulptur gemeinsam hat; und in diesem Bestreben, und weniger – ich wiederhole mich – in der Absicht, das Darstellende oder Literarische auszuschließen, wurde die Malerei abstrakt.

Zugleich zeigt die modernistische Malerei jedoch gerade in ihrem Widerstand gegen das Skulpturale, wie sehr sie, allem Anschein zum Trotz, an der Tradition festhält. Denn der Widerstand gegen das Skulpturale ist weitaus älter als der Modernismus. Die westliche naturalistische Malerei verdankt vieles der Skulptur, von der sie anfangs lernte, durch Schattierung und Modellierung eine Illusion des Plastischen zu erzeugen und diese Illusion auch in eine entsprechende Illusion von räumlicher Tiefe einzubetten. Doch manche der größten Leistungen der westlichen Malerei entstanden aus ihrem schon seit vierhundert Jahren währenden Bestreben, sich des Skulpturalen zu entledigen. Dieses Bestreben, das im 16.Jahrhundert in Venedig begann und im 17.Jahrhundert in Spanien, Belgien und Holland seine Fortführung fand, wurde zunächst im Namen der Farbe vorangetrieben. Als David im 18.Jahrhundert versuchte, die skulpturale Malerei wiederzubeleben, geschah dies auch, um die Malerei vor der dekorativen Flächigkeit zu bewahren, auf die die Betonung der Farbe hinzuführen schien. Dennoch liegt 53die Stärke von Davids besten Gemälden, die zumeist seine informellen sind, zu einem bedeutenden Teil in ihren Farben. Ingres, Davids getreuer Schüler, wies der Farbe zwar weitaus konsequenter eine untergeordnete Rolle zu, doch er malte auch Porträts, die zu den flächigsten, am wenigsten skulpturalen Bildern zählen, die im Westen seit dem 14.Jahrhundert von einem versierten Maler gemalt wurden. So trafen sich in der Mitte des 19.Jahrhunderts alle ambitionierten Tendenzen der Malerei, trotz all ihrer Unterschiede, in einer anti-skulpturalen Richtung.

Der Modernismus hat diese Richtung fortgeführt und sie zugleich bewusster gemacht. Bei Manet und den Impressionisten ging es nicht mehr um den Gegensatz von Farbe und Zeichnung, sondern um den zwischen der rein optischen Erfahrung und einer von taktilen Assoziationen überlagerten oder modifizierten optischen Erfahrung. Als die Impressionisten das Schattieren und Modellieren und alles andere in Frage stellten, was in der Malerei an das Skulpturale erinnerte, geschah dies nicht im Namen der Farbe, sondern im Namen der rein und ausschließlich optischen Erfahrung. Im Namen des Skulpturalen, des Schattierens und Modellierens wiederum wandten sich Cézanne und nach ihm die Kubisten gegen den Impressionismus, so wie David sich gegen Fragonard gewandt hatte. Aber wie die Gegenreaktion von David und Ingres paradoxerweise in einer Malerei kulminierte, die noch weniger skulptural war als die ihrer Vorläufer, so führte die kubistische Gegenrevolution schließlich zu einer Malerei, die flächiger ist als die gesamte westliche Malerei seit Giotto und Cimabue – so flächig, dass sie kaum noch einem erkennbaren Bildmotiv Raum bieten kann.

Unterdessen waren seit dem Beginn des Modernismus auch die übrigen Hauptnormen der Malerei einer vielleicht weniger spektakulären, aber ebenso gründlichen Revision unterzogen worden. Es würde mehr Raum beanspruchen, als mir hier zur Verfügung steht, wollte ich erläutern, wie die Norm des Rahmens als eingrenzende Form von verschiedenen Generationen moderner Maler nacheinander gelockert, gestrafft, dann wieder gelockert, isoliert und wiederum gestrafft wurde, oder wie die Normen der Farbtextur und der Helligkeits- und Farbkontraste ein ums andere Mal revidiert wurden. Bei all diesen Normen wagte man Neues, nicht nur um der Ausdrucksmöglichkeiten willen, sondern auch, um sie deutli54cher als Normen sichtbar zu machen. Indem man sie solchermaßen veranschaulichte, prüfte man zugleich, wie unverzichtbar sie sind. Dieser Vorgang ist noch keineswegs beendet, und dass er im Laufe der Zeit immer eingehender geworden ist, erklärt die radikalen Vereinfachungen wie auch die radikalen Komplizierungen, die in der neuesten abstrakten Malerei zu sehen sind.

Keines dieser Extreme entsteht aus einer Laune oder Willkür. Im Gegenteil, je eindeutiger die Normen einer Disziplin definiert sind, umso geringer wird in der Regel der Freiraum, den sie in verschiedene Richtungen gewähren. Die essenziellen Normen und Konventionen der Malerei sind zugleich die Bedingungen, denen ein Bild entsprechen muss, damit es überhaupt als Bild erfahren werden kann. Der Modernismus hat entdeckt, dass diese Bedingungen nahezu vollständig zurückgenommen werden können, bevor ein Bild kein Bild mehr ist, sondern zu einem beliebigen Objekt wird; aber er hat zugleich auch entdeckt, dass je weniger man von diesen Bedingungen beibehält, es umso notwendiger wird, sie einzuhalten und sichtbar zu machen. Die sich kreuzenden schwarzen Linien und farbigen Rechtecke eines Gemäldes von Mondrian scheinen kaum auszureichen, um ein Bild zu ergeben, doch indem sie die Rahmenform des Bildes streng wiederholen, erklären sie diese Form mit neuer Kraft und Absolutheit zur regulierenden Norm. Mondrians Malerei ist weit davon entfernt, sich dem Risiko der Beliebigkeit auszusetzen; sie erweist sich vielmehr im Laufe der Zeit als beinahe zu diszipliniert, in gewisser Hinsicht zu traditions- und konventionsgebunden; wir erkennen nun, nachdem wir uns einmal an ihre völlige Abstraktheit gewöhnt haben, dass sie beispielsweise in ihrer Farbgebung und auch in ihrer Unterordnung unter den Rahmen konservativer ist als die späten Bilder von Monet.

Es versteht sich hoffentlich, dass ich in meiner Darlegung der Grundlagen der modernistischen Malerei manches vereinfachen und übertreiben musste. Die Flächigkeit, welche die modernistische Malerei anstrebt, kann niemals absolut sein. Die größere Sensitivität für die Bildfläche lässt vielleicht keine skulpturale Illusion, kein Trompe-l’œil mehr zu, aber sie gestattet – notwendigerweise – weiterhin die optische Illusion. Der erste Pinselstrich auf einer Leinwand zerstört bereits deren faktische vollständige Flächigkeit, und selbst aus den Pinselstrichen eines Künstlers wie Mondrian entsteht immer noch eine gewisse Illusion, die eine Art 55dritter Dimension suggeriert. Nur handelt es sich jetzt um eine strikt bildliche, strikt optische dritte Dimension. Die alten Meister erzeugten eine Illusion der räumlichen Tiefe, bei der man sich vorstellen konnte, in diesen Raum hineinzugehen, während man in die entsprechende Illusion der modernistischen Malerei allenfalls hineinsehen kann: Man kann sie, wörtlich oder metaphorisch verstanden, nur mit den Augen durchwandern.

Die neueste abstrakte Malerei versucht die impressionistische Forderung zu erfüllen, dass eine Kunst, die ausschließlich und essenziell bildlich ist, sich allein auf die optische Sinneswahrnehmung berufen soll. Wenn man sich dessen bewusst wird, wird man auch erkennen, dass die Impressionisten oder zumindest die Neoimpressionisten nicht völlig fehlgingen, als sie mit den Naturwissenschaften liebäugelten. Die kantische Selbstkritik hat, wie sich heute zeigt, ihren vollkommensten Ausdruck nicht in der Philosophie, sondern in den Naturwissenschaften gefunden, und als man begann, sie in der Kunst anzuwenden, kam die Kunst dem wahren Geist der wissenschaftlichen Methode näher als je zuvor – näher als in der Renaissance bei Alberti, Uccello, Piero della Francesca oder Leonardo. Dass die bildende Kunst sich ausschließlich auf das beschränken soll, was in der visuellen Erfahrung gegeben ist, und sich auf nichts beziehen soll, was in einer anderen Art von Erfahrung gründet, ist ein Gedanke, dessen einzige Berechtigung in seiner wissenschaftlichen Konsequenz liegt.

Nur die wissenschaftliche Methode verlangt, oder könnte verlangen, dass ein Sachverhalt in genau denselben Kategorien analysiert wird, in denen er sich präsentiert. Aber diese Konsequenz verspricht nichts im Hinblick auf die ästhetische Qualität, und die bloße Tatsache, dass die beste Malerei der letzten siebzig oder achtzig Jahre sich dieser Konsequenz mehr und mehr annähert, beweist nicht das Gegenteil. Aus der Sicht der Kunst ist ihre Annäherung an die Wissenschaft rein zufällig, und weder die Kunst noch die Wissenschaft gibt oder verspricht der jeweils anderen heute mehr als früher. Ihre Annäherung beweist jedoch, wie weitgehend die modernistische Kunst an derselben spezifischen Tendenz unserer Kultur teilhat wie die moderne Wissenschaft, und dies ist als eine historische Tatsache von höchster Bedeutung.

Auch sollte es sich verstehen, dass die Selbstkritik in der modernistischen Kunst nie anders als in einer spontanen und weit56gehend unbewusst gebliebenen Weise stattgefunden hat. Wie ich bereits sagte, war es im Großen und Ganzen eine Frage allein der Praxis und nie ein Thema der Theorie. In Zusammenhang mit der modernistischen Kunst ist viel von Programmen die Rede, aber die modernistische Malerei besitzt tatsächlich weitaus weniger Programmatisches als die Renaissance oder die akademische Malerei. Mit wenigen Ausnahmen, wie zum Beispiel Mondrian, hatten die Meister des Modernismus ebenso wenige feststehende Ideen über Kunst wie Corot. Gewisse Neigungen, gewisse Behauptungen und nachdrückliche Hervorhebungen wie auch gewisse Ablehnungen und Verweigerungen scheinen nötig geworden zu sein, einfach weil in ihnen der Weg zu einer stärkeren, expressiveren Kunst liegt. Die unmittelbaren Ziele der Modernisten waren und sind vor allem individueller Natur, und auch die Wahrhaftigkeit und das Gelingen ihrer Werke bleiben vor allem individuell. Es musste sich erst über Jahrzehnte hinweg so einiges an individueller Malerei ansammeln, damit die allgemeine selbstkritische Tendenz der modernistischen Malerei sichtbar wurde. Kein Künstler war oder ist sich ihrer bewusst, und kein Künstler, der sich ihrer bewusst wäre, könnte jemals unbeschwert arbeiten. Insofern – und das heißt: sehr weitgehend – entwickelt sich die Kunst im Modernismus kaum anders als zuvor.

Und ich kann nicht genügend betonen, dass der Modernismus nie einen Bruch mit der Vergangenheit bedeutet hat. Vielleicht bedeutet er den Niedergang, die allmähliche Auflösung einer Tradition, doch er bedeutet zugleich auch eine Weiterentwicklung. Die modernistische Kunst führt die Vergangenheit lückenlos und ohne Bruch fort, und egal wohin sie führen mag, man wird sie immer im Hinblick auf ihre Vergangenheit verstehen können. Das Herstellen von Bildern unterliegt seit seinen ersten Anfängen jenen Normen, von denen ich gesprochen habe. Der steinzeitliche Künstler konnte die Norm des Rahmens nur deshalb unberücksichtigt lassen und seine Flächen in einer buchstäblich skulpturalen Weise bearbeiten, weil er Abbilder anfertigte und keine Bilder und weil er auf einem Trägermaterial – einer Felswand, einem Knochen, einem Horn oder einem Stein – arbeitete, dessen Begrenzung und Oberfläche von der Natur willkürlich vorgegeben waren. Aber das Erschaffen eines Bildes bedeutet unter anderem auch das bewusste Herstellen oder Auswählen einer planen Fläche und deren bewusste Abgren57zung und Begrenzung. Und eben diese Bewusstheit wird in der modernistischen Malerei immer wieder betont: dass nämlich die einschränkenden Bedingungen der Kunst menschlichen Ursprungs sind.

Doch ich möchte nochmals wiederholen, dass die modernistische Kunst keine theoretischen Beweisführungen liefert. Viel eher könnte man sagen, dass sie theoretische Möglichkeiten in empirische umsetzt und dass sie dabei viele Theorien über Kunst daraufhin prüft, inwieweit sie für die tatsächliche Praxis und die tatsächliche Erfahrung von Kunst von Belang sind. Nur in diesem Sinne kann man den Modernismus subversiv nennen. Gewisse Faktoren, von denen wir früher annahmen, dass sie für das Erschaffen und die Erfahrung von Kunst essenziell seien, haben sich als entbehrlich erwiesen, da die modernistische Malerei ohne sie auskommen kann und doch weiterhin alle wesentlichen Aspekte der Erfahrung von Kunst bietet. Dass außerdem die meisten unserer alten Werturteile davon unberührt geblieben sind, macht diesen Nachweis um so schlüssiger. Vielleicht hat der Modernismus etwas mit dem neuerlich gestiegenen Ansehen von Uccello, Piero della Francesca, El Greco, Georges de La Tour und auch Vermeer zu tun; und zweifellos bekräftigte er Giottos neuen Ruhm, wenn er ihn nicht überhaupt begründet hat; aber er hat damit das Ansehen von Leonardo, Raffael, Tizian, Rubens, Rembrandt und Watteau nicht geschmälert. Vielmehr hat der Modernismus gezeigt, dass die Vergangenheit diese Meister zwar zu Recht hochschätzte, jedoch oft aus falschen oder belanglosen Gründen.

In gewisser Hinsicht hat sich dies bis heute kaum geändert. Die Kunstkritik und die Kunstgeschichte sind hinter der modernistischen Kunst zurückgeblieben, wie sie schon hinter der vormodernistischen Kunst zurückgeblieben waren. Noch immer kommt das meiste, was über modernistische Kunst geschrieben wird, aus dem Journalismus, nicht aus Kunstkritik und Kunstgeschichte. Es ist journalistisch – und zeugt von dem Jahrtausendkomplex, an dem heute so viele Journalisten und journalistische Intellektuelle leiden –, dass jede neue Phase der modernistischen Kunst als der Beginn einer völlig neuen Epoche, als ein entscheidender Bruch mit den Gebräuchen und Konventionen der Vergangenheit gefeiert wird. Jedes Mal erwartet man eine Kunst, die so grundsätzlich anders ist als alle frühere Kunst und so wenig an die Normen der 58Praxis und des Geschmacks gebunden, dass jedermann, egal wie wissend oder unwissend er sein mag, mitreden kann. Und jedes Mal ist diese Erwartung wieder enttäuscht worden, als die betreffende Phase der modernistischen Kunst schließlich ihren Platz in der Kontinuität des Geschmacks und der Tradition fand.

Nichts ist weiter von der authentischen Kunst unserer Zeit entfernt als die Idee eines Bruchs mit der Kontinuität. Kunst ist – unter anderem – Kontinuität, und ohne diese wäre sie undenkbar. Ohne die Kunst der Vergangenheit und ohne das Bedürfnis und das Verlangen, deren Qualitätsmaßstäbe beizubehalten, hätte die modernistische Kunst weder Substanz noch Berechtigung.

Aus dem US-Amerikanischen von Christoph Hollender