IV Dreieinhalb Pfennige

So erschwinglich das Kino auch war, Geld war eins unserer Hauptprobleme. Wir bekamen im Internat ein monatliches Taschengeld, aber das waren lediglich fünf Mark, und wir waren daher beständig auf der Suche nach irgendwelchen einträglichen Beschäftigungen, denen wir in der Freizeit zwischen Schulschluss, Essenszeiten und Schlafenszeit nachgehen konnten, um ein paar Mark zusätzlich zu verdienen.

Zwei Monate nach meiner Ankunft in Westberlin hatte ich mich anwerben lassen, durch die Häuser zu laufen und an jeder Wohnungstür zu klingeln, um Abonnenten für Zeitschriften und Zeitungen zu gewinnen. Die Prämien für erfolgreiche Abschlüsse klangen verlockend, und da die Dame in der Werbeagentur mir gesagt hatte, dass bisher jeder ihrer »Präsentanten«, wie sie uns nannten, pro Woche zehn bis zwanzig unterschriebene Verträge vorweisen und daher eine ansehnliche Summe einstecken könne, ließ ich mich darauf ein.

Man gab mir einen Stapel bunter achtseitiger Broschüren, auf denen fast fünfzig Wochen- und Tageszeitungen mit Bildern und einer knappen Beschreibung vorgestellt wurden, sowie einen Block mit den Formularen, um ein Abonnement abzuschließen.

Nach drei Wochen gab ich die Broschüren und den Formularblock wieder in der Agentur ab und teilte der Sekretärin mit, dass ich mich umgehend von ihr und ihrem Unternehmen verabschiedete.

Ich war fünfmal in der Woche zwischen fünfzehn und neunzehn Uhr unterwegs gewesen, hatte Haus für Haus aufgesucht, war die Treppen hoch- und runtergelaufen, hatte an jeder Wohnungstür geklingelt, mein Sprüchlein aufgesagt, dem Mann oder der Frau, die mich misstrauisch aus der nur halb geöffneten Wohnungstür musterten, die Broschüre mit der Liste der zu abonnierenden Presse hingehalten, immer bemüht, höflich zu sein und freundlich zu lächeln. Ich hatte mir schweigend einige Unfreundlichkeiten und dumme Sprüche anhören müssen, hoffend, dass ich wenigstens einen einzigen Abonnenten gewinnen konnte. Manchmal sagte man mir, dass man keinen Bedarf an irgendwelchen Zeitschriften habe, häufiger schloss man nur wortlos, aber geräuschvoll vor mir die Tür. Ich verkaufte kein einziges Abonnement.

Als ich der Sekretärin nun den noch vollständigen Formularblock und die Broschüren zurückgab, nahm sie alles lächelnd entgegen und sagte: »Sie haben uns enttäuscht. Sie haben uns sehr enttäuscht.«

»Gleichfalls«, erwiderte ich, nickte ihr zu und verließ das Büro, wobei ich die Tür zuknallte.

Mein Bruder hatte mit seinen Mitschülern Manker und Veit seit zwei Jahren eine Arbeit bei der Druckerei in der Hubertusallee. Nach Schulschluss fuhren sie zwischen vierzehn und fünfzehn Uhr auf ihren Rädern dort vorbei, holten sich ein großes Bündel Zeitungen, das sie dann nach dem Abendessen in Kneipen und Gaststätten zu verkaufen hatten.

Nach dem Reinfall mit der Agentur fragte ich die drei, ob ich nicht auch für die Druckerei arbeiten könne. Albert wollte auch mit von der Partie sein, da auch er bislang keine Nebenbeschäftigung gefunden hatte. David erkundigte sich bei der Zeitung, und drei Tage später durften wir uns bei dem Mann, der in der Druckerei die Zeitungen verteilte und mit den Verkäufern am Tag darauf abrechnete, vorstellen. Veit sagte, wir müssten aber behaupten, schon sechzehn zu sein, Jüngere nehme er grundsätzlich nicht.

»Zieht euch so an, dass ihr wie Sechzehnjährige wirkt«, sagte er grinsend.

Am nächsten Tag radelten wir mit David und Manker in die Hubertusallee, Veit erwartete Besuch aus seiner Heimatstadt und hatte die beiden gebeten, für ihn abzurechnen. Hinter der Toreinfahrt der Druckerei war die Tür für die Zeitungsausgabe. Ein älterer Mann mit einer speckigen Kappe sah kurz von seiner Schreibarbeit auf, als wir eintraten. Nach ein paar Minuten winkte er unsere beiden Begleiter zu sich, ließ sich die restlichen Zeitungsexemplare geben, die Makulatur, die er »Macke« nannte, blätterte sie rasch durch und schrieb dann ein paar Zahlen auf einen Block.

»So, ihr Piefkes«, sagte er schließlich, »sieben fuffzig für die Siebenundzwanzig, die Neunundzwanzig nur sechs achtzig und euer Freund, die Nummer Einunddreißig, bekommt acht zwanzig. Unterschreibt hier, auch für euren Freund. – Und wie viel nehmt ihr heute mit? Wieder je hundertzwanzig? Nehmt ihr auch Exemplare für die Einunddreißig mit? – So, na schön. Aber morjen solltet ihr mir eine bessere Abrechnung vorlegen. Unter fuffzig je Blatt, das bringt uns nüscht. Dazu is das Standgeld zu hoch. Ihr seid mir lieb und teuer, aber die Knete muss stimmen.«

David und Manker ließen sich jeder zwei abgezählte und verschnürte Zeitungsstapel sowohl von der Nachtdepesche wie vom Telegraf geben und nahmen für Veit ebensolche Pakete mit.

Der Mann von der Druckerei winkte uns mit dem Zeigefinger zu sich.

»So, und ihr beede wollt schon sechzehn sein?«

»Sind sie, alle beide«, warf David ein, »sie sind in der Klasse unter uns.«

»Ihr seht mir noch sehr grün aus, aber ick kann et mit euch versuchen. Ihr wisst, wie das Geschäft läuft?«

Ich nickte heftig; »Ja, die beiden haben es uns erklärt.«

»Die Nachtdepesche zu zehn, der Telegraf kostet fünfzehn. Ihr bekommt drei beziehungsweise dreieinhalb Pfennige. Standgeld kriegt ihr ooch, das sind fünf volle Märker, aber die jibt es erst bei siebzig verkauften Blättern. Darunter jibt es nüschte. Ich bin bereit, es mit euch beiden Grünlingen zu versuchen. Könnt ihr sofort anfangen?«

»Selbstverständlich.«

»Gut, dann gebe ich euch heute von beiden Blättern je fuffzig. Für den Anfang muss das reichen, in der ersten Woche gibt es ohnehin kein Standgeld. Dit ist die Probewoche. Klar?«

Wir nickten.

»Jut. Ich bin Marquardt. Herr Marquardt. Verstanden?«

»Ich heiße Albert, und das …«

»Stop, stop, stop, keene Namen. Ick bin für euch Herr Marquardt. Oder ihr sagt Chef, dit reicht. Verstanden?«

Wir nickten.

»Und ihr seid Nummer Neununddreißig und Vierzig, verstanden. Bei mir werdet ihr unter dieser Nummer geführt, unter dieser Nummer wird abgerechnet. Ich kann mir doch nicht all eure Namen merken. – So, und nun zu eurem Einsatzjebiet. Kommt hierher an die Karte. Seht ihr die vier weißen Flecken? Die Jebiete sind noch frei. Ihr könnt euch jeder eins auswählen.«

Ich sah mich nach David und Manker um und fragte, ob sie uns bei der Auswahl helfen können.

»Die sind alle gleich. Nehmt, was der Kronberger am nächsten ist«, meinte Manker.

Wir tippten auf zwei der weißen Flecke.

»Jut«, sagte Marquardt, »det sind Vierzehn und Fünfzehn. Die gehören ab sofort euch beeden. Prägt euch den Bereich gut ein, damit ihr nicht in einem fremden Revier wildert. Niemals, verstanden, denn das jibt Ärger. Und nun kommt an den Tisch. Ich brauche von euch noch die Kaution. Wisst ihr, was das ist? Ein kleiner Idiot sagte mir einmal, et sei wohl etwas zum Kauen, also zum Essen.«

»Es ist eine Sicherheit, Chef, ein Faustpfand.«

»Jenau. Schließlich drücke ich euch einen Schatz in die Hand. Ich bekomme von jedem zehn Märker. Ihr bekommt von mir einen Kautionsschein. Falls ihr hier aufhört oder ich euch rausschmeiße, bekommt ihr das Geld zurück. Es sei denn, ihr habt bis dahin den Kautionsschein verloren, dann jibt es nüscht. Alles klar?«

Die anderen hatten uns über die Kaution informiert, und wir hatten tatsächlich so viel mitbringen können und legten ihm die Geldstücke auf den Tisch.

»Schön, und hier der Kautionsschein, von mir unterschrieben für Nummer Neununddreißig und Vierzig. Und jetzt bekomme ich von jedem von euch noch zwei Märker für den Regenschutz. Auf der Pelerine steht der Name der Druckerei, damit die Leute wissen, ihr kommt von uns und seid nicht irgendwelche Gauner.«

Er ging zu einem Schrank und nahm zwei Pelerinen für uns heraus, auf denen fettgedruckt der Name der Druckerei stand.

Wir kramten auch noch diese zwei Mark aus der Hosentasche, und nun waren wir wirklich blank und konnten nur hoffen, mit dem Zeitungsverkauf bald wieder zu etwas Geld zu kommen.

»So, und hier eure Bündel, fuffzig Mal Nachtdepesche, fuffzig Mal Telegraf. Und Standgeld jibt et wie jesagt erst nach der ersten Woche. Enttäuscht mich nicht, Neununddreißig und Vierzig. Und immer dran denken, Straßenverkauf ist für euch tabu, ihr habt die Kneipen und Gaststätten eures Reviers. Die Straßen sind anders vergeben, werden von anderen Leuten versorgt. Wenn ihr da wildert, erfahre ich das umgehend, und dann jibt's Ärger.«

Er hob die Hand, und damit waren wir entlassen.

Wir verließen mit David und Manker die Druckerei, packten die Zeitungen in unsere Fahrradtaschen und klemmten die billige Regenpelerine auf dem Gepäckträger fest. Mit der schweren Last wollten wir nicht auf die Räder steigen, sondern schoben sie. David und Manker erzählten uns, dass der Straßenverkauf lukrativer sei, da verkaufe man mehr und könne sich überdies eine gute Ecke aussuchen und müsse nicht die Zeitungsbündel durch die Straßen schleppen, doch diese Reviere bekomme keiner der Schüler, das seien alles Leute, die es beruflich machten.

»Das Beste aber sind die großen Betriebe. Da kannst du bei Schichtwechsel innerhalb einer Stunde hundert, hundertfünfzig Zeitungen loswerden. Und wenn dann noch eine zweite Firma daneben liegt, kommt man auf zwei- bis dreihundert. Doch dazu müsste man mit Marquardt befreundet sein, diese Ecken vergibt er nur an seine Kumpel.«

»Oder an die, die ihn bestechen«, meinte Manker.

»Gut möglich. Um zu Geld zu kommen, muss man mit Geld schmieren, sonst läuft der Laden nicht. – Also, nach dem Abendbrot gehen wir los. Vorher lohnt es nicht, da sind die Kneipen leer, und die Rentner, die dort zu der Zeit ihren Kaffee trinken, rechnen mit jedem Pfennig. Die wollen nur einen Blick hineinwerfen, kaufen aber nichts.«

»Und man kann tatsächlich jeden Tag siebzig Zeitungen loswerden? Was ist, wenn man einen rabenschwarzen Tag hat?«, erkundigte ich mich.

David und Manker lachten auf.

»Ach, Kleiner«, meinte Manker, »es gibt die höhere Mathematik, aber auch die kreative Mathematik ist nicht zu verachten. Wir rechnen bei diesem Marquardt immer siebzig und mehr Zeitungen ab, egal, was wir verkauft haben. Auch wenn es nur fünfzig oder vierzig waren.«

»Und wie macht ihr das?«

»An solchen Tagen wandern zwanzig, dreißig Zeitungen in den Müll, und ein paar verteilen wir an Freunde.«

»Aber die müsst ihr dann voll bezahlen.«

»Klar.«

»Dann macht ihr mir aber Minus.«

»Das, mein Kleiner, das eben ist kreative Mathematik, von der einer wie Marquardt gottlob keine Ahnung hat. Wenn wir zwanzig dieser Abendblätter dorthin befördern, wohin sie gehören, in den Müll, haben wir einen Verlust von wie viel?«

»Ich weiß nicht. Zwei Mark, drei Mark.«

»Genau. Und schlimmstenfalls verlieren wir vier Mark. Da wir aber mindestens siebzig verkaufte Zeitungen abrechnen, bekommen wir das Standgeld, machen also unterm Strich trotz Verlust zwei, drei Mark gut oder auch nur eine. Vor allem bleiben wir aber nicht unterm Limit, laufen nicht Gefahr, dass Marquardt uns feuert. Und wenn es ein ganz übler Tag ist und wir fünfzig Zeitungen in einen Abfalleimer werfen müssen, selbst dann haben wir einen kleinen Gewinn«, erklärte uns David.

Manker ergänzte noch: »Ihr versteht, wir verlieren etwas mehr als sechs Mark, können aber das Standgeld einstreichen samt den drei und dreieinhalb Pfennigen für die angeblich verkauften Zeitungen. Das ist dann immer noch etwas mehr als unser Verlust, und vor allem, wir behalten die Arbeit.«

»Das, mein Lieber«, meinte David, »das nennen wir kreative Mathematik, von der einer wie Marquardt nichts weiß, die er wohl nicht mal verstehen würde, wenn man sie ihm erklärte. Er kann uns nur mit Nummern anreden, weil er kein Primaner ist, kein Oberprimaner, kein Unterprimaner, nur ein Primat. Verstehst du? Und so ein Primat wird nie begreifen, dass man den vollen Preis einer Zeitung zahlt, obwohl man nur einen Bruchteil zurückerhält. Aber wir wollen es ihm auch nicht stecken, dafür ist das Standgeld zu schön. Und darum müssen wir es unbedingt vermeiden, die restlichen Zeitungen in die Mülleimer in der Nähe der Druckerei zu entsorgen. Durch irgendeinen blöden Zufall könnte jemand ein Bündel allerneuester Zeitungen in einem Abfalleimer finden und es der Druckerei melden. Dann würde unser Marquardt ins Grübeln kommen, bekäme womöglich Kopfschmerzen und das will keiner von uns.«

Manker lachte auf und sagte: »Und begreifen würde er es ohnehin nicht. Er würde uns für Idioten halten, weil wir die restlichen Zeitungen wegwerfen und dann ihm den vollen Preis zahlen müssten.«

Ich hatte auch etwas Mühe, ihre abenteuerliche Rechnung zu verstehen, und meinte: »Das ist schön gerechnet, aber unterm Strich auch etwas teuer.«

»Kleine Verluste gibt es sowieso«, meinte Manker, »unsere natürlichen Feinde sind die Wirte und die Kellner. In meinem Revier habe ich in zwei Gaststätten Hausverbot, und in drei Kneipen erwartet der Wirt von mir, dass ich ihm eine Nachtdepesche schenke. Das ist dann ein Minus von dreißig Pfennigen für mich, aber wenn ich dafür zehn Exemplare in seiner Kneipe loswerde, komme ich unterm Strich auf mein Geld. Immer kreativ bleiben, Jungs.«

»Und noch eins«, warf David ein, »etwas, auf dass ihr unbedingt achten müsst. Der Zeitungsverkauf ist uns von unserem Sybelius nicht direkt verboten worden, aber möglicherweise nur, weil er nichts davon weiß. Ihm wäre es sicher lieber, wir würden unsere Freizeit als ehrenamtliche Helfer im christlichen Pflegeheim in der Königsallee zubringen oder in der Kreuzkirche die Bänke putzen und dem Küster helfen. Also, im Internat ist großes Stillschweigen angesagt. Verstanden?«

Wir nickten, wir waren ihnen sehr dankbar.

Nach dem Abendessen nahmen Albert und ich unsere Räder und zogen los. Ich hatte mir mein Revier zuvor im Stadtplan noch einmal genau angesehen und mir eine Route zurechtgelegt und notiert, auf der ich durch alle mir erlaubten Straßen ohne Umwege kam.

Bei der ersten meiner Kneipen stellte ich das Fahrrad an der Hauswand ab und schloss es an. Dann öffnete ich eine der beiden Taschen, die ich auf Anraten von Manker mit winzigen Vorhängeschlössern gesichert hatte und entnahm ihr zwanzig Zeitungen, zehn Nachtdepeschen und zehn Exemplare vom Telegrafen.

Im Windfang der Kneipe fächerte ich die Blätter auf und hielt sie mit dem linken Arm fest, dann trat ich ein, schaute mich kurz nach dem Wirt oder Kellner um und lief dann von Tisch zu Tisch. Der alte Kellner sah mich nur kurz an, sagte aber nichts, und die Gäste schüttelten den Kopf oder beachteten mich überhaupt nicht. Ich wurde keine einzige Zeitung los.

Nach drei Stunden hatte ich lediglich dreißig Zeitungen verkauft und dabei etwa sechzig Pfennig Trinkgeld eingenommen. Als ich in einer Stampe in der Westfälischen mit meinen Zeitungen die Tische ablief, sah ich plötzlich David an der Tür stehen, er beobachtete mich. Ich beendete meine Runde und ging zu ihm.

»Wo kommst du denn her?«

»Ich war auf dem Heimweg und sah dein Rad. Komm, wir müssen jetzt zurück, sonst sind wir zu spät.«

Wir verließen die Kneipe, nahmen unsere Fahrräder, David steckte einen Teil meiner nicht verkauften Blätter in seine Fahrradtasche, dann fuhren wir los.

»Wie viele hast du verkauft?«, fragte er mich.

»Siebenunddreißig nur.«

»Das ist für deinen allerersten Tag gar nicht übel. Marquardt wird nicht zufrieden sein, aber in der ersten Woche kann er nicht zu viel erwarten. Du rechnest genau ab, denn kreative Mathe geht nur, wenn du Standgeld bekommen kannst. Versuche nur, jeden Tag etwas mehr zu verkaufen, dann sieht er, dass du dich bemühst.«

»Verstehe.«

»Aber du gehst das falsch an. Du läufst nur von Tisch zu Tisch und hältst die Blätter hin. Du musst etwas sagen. Schau dir zuvor die Zeitungen an und suche dir ein, zwei Meldungen heraus, und die verkündest du dann an jedem Tisch. Irgendwas mit Mord und Totschlag. Oder ein kleiner Skandal aus dem Stadtbezirk. Eine kleine Schweinerei ist auch immer gut. Schau dir die Leute an, sieh in ihre Gesichter, dann siehst du, was sie interessiert. Eine kurze, knappe Schlagzeile, die auf dich aufmerksam macht und die die Leute interessiert, reicht schon.«

»Danke. Ja, das war wohl ein Fehler.«

»Wird schon, Daniel. – Und noch eins, schließ immer das Rad ab, an jeder Kneipe. Wenn dich einer beobachtet, weiß er genau, dass du erst in vier oder fünf Minuten wieder auftauchst. Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste.«

»Ja, werde ich machen.«

Wir waren mittlerweile am Schülerheim angekommen, schlossen die Räder an, und David bog in Richtung seines Zimmers ab.

»Antío, Kleiner!«

»Gute Nacht.«

Nun hatte sich mein Tagesablauf verändert: Nach der Schule beeilte ich mich, ins Schülerheim zu kommen, um zu essen und die Hausaufgaben zu erledigen, damit ich mit Albert pünktlich an der Druckerei war. Marquardt erwartete uns zwischen zwei und drei, wer bis drei nicht erschienen war, wurde angeschnauzt oder stand vor einer verschlossenen Tür, und das war montags für uns ein Problem, da wir an dem Tag bis zwei Uhr in der Schule waren.

Zuerst hatten wir abzurechnen, auf einem Vordruck hatten wir notiert, wie viele Zeitungen wir verkaufen konnten, Marquardt kontrollierte ab und zu und zählte rasch und sehr flüchtig die zurückgegebenen Exemplare, aber öfter nahm er den Vordruck nur mit einem Kopfnicken entgegen, notierte die Zahlen und rechnete die uns zustehenden Pfennige aus. Mit dem Geld gab er uns die neuen Zeitungsbündel.

Ab der zweiten Woche gab es tatsächlich auch für Albert und mich Standgeld, und erst ab dieser Zeit wurde dieses Geschäft für uns finanziell interessant. Wir folgten den Regeln der kreativen Mathematik, um an jedem Tag außer den drei und dreieinhalb Pfennigen auch das Standgeld zu kassieren.

Wir bemühten uns, an jedem Wochentag spätestens um drei am Stellplatz zu sein, und wenn einer von uns verhindert war, hatte der andere für ihn abzurechnen, damit uns die Pauschale nicht verloren ging. Wir wussten, wenn wir erst am übernächsten Nachmittag auftauchten, also einen Tag später abrechneten, fielen die fünf Mark weg und es gab lediglich die drei Pfennige pro Zeitung, die jedem von uns höchstens zwei Mark einbrachten. Mit den Zeitungen beladen, klapperte dann jeder für sich die Gaststätten und Kneipen der uns zugewiesenen Gebiete ab.

Nach den ersten Tagen kannte sich jeder in seinem Revier aus. Ich wusste, in welcher Kneipe ich mehrere Zeitungen verkaufen konnte und wo es fast aussichtslos war, weil die Stammkunden keine Zeitungen lasen.

Nach ein paar Wochen hatte ich in meinem Revier auch fünf feste Abnehmer, alte Leute, die kaum noch laufen konnten und denen ich ihr Abendblatt an die Wohnungstür lieferte, was mir jedes Mal ein paar zusätzliche Groschen einbrachte.

Einer der Alten, den ich mit »Herr Professor« anzusprechen hatte und der mich stets als seinen Studenten bezeichnete, schaute, wenn ich bei ihm klingelte, zuerst durch den Türspion. Ich konnte sein Auge erkennen und grüßte ihn, indem ich die Zeitung vor sein Guckloch hielt. Ich hörte, wie er zwei Schlösser aufschloss und einen Eisenriegel zurückschob, bevor er die Tür öffnete. Bei jedem Besuch gab er mir eine Mark und verzichtete auf sein Wechselgeld.

»Mein Student soll auch leben«, sagte er dabei immer, dann griff er nach seiner Zeitung, verschloss wieder sorgfältig seine Wohnungstür, die beiden Schlösser schnappten vernehmlich ins Schloss, und der eiserne Riegel wurde vorgeschoben.

Ich blätterte, bevor ich allabendlich mit den Zeitungsstapeln mein Revier abklapperte, im Internat stets die beiden Abendausgaben rasch durch, um eine Nachricht zu finden, die aufsehenerregend genug war, um bei den Gästen in den Kneipen Interesse zu wecken. Mit zwei Sätzen über einen Mord oder einen möglichst sensationellen Einbruch vermochte ich Käufer zu gewinnen. Das Ereignis musste unbedingt in Berlin stattgefunden haben, am besten in meinem Revier. Dann musste es gar nicht mal eine reißerische Meldung sein, nahezu jedes Geschehen im eigenen Kiez brachte an jedem Kneipentisch irgendeinen dazu, mir eine Zeitung abzukaufen, selbst wenn es nur eine Bekanntmachung von lokaler Bedeutung vom Bürgermeister des Stadtbezirks war.

Stets waren es diese zwei knappen Sätze, die über den Verkauf der Blätter entschieden, und die wählte ich an jenen Tagen besonders bedacht aus, an denen es nur Meldungen aus der Politik gab oder von Kriegen und Scharmützeln in fernen Ländern, an denen die Leute nicht interessiert waren.

In den Kneipen waren wir geduldet, in einigen Gaststätten jedoch wurden wir von den Kellnern rüde abgewiesen, sie warfen uns vor, ihre Gäste zu belästigen, und verwiesen uns des Hauses.

Eine der Gaststätten meines Reviers durfte ich nicht einmal betreten. Das war das Asia, eine Baracke, die in die Reste einer Kriegsruine hineingebaut worden war und vor deren Eingang ein bullig wirkender Glatzkopf stand, der darüber entschied, wer Einlass bekam und wer nicht. Ich versuchte dreimal, mit meinen Zeitungen in diese Bar hineinzukommen, wurde aber stets von dem Kerl rüde vertrieben, der mit einem Bein auf der Straße stand, das andere stand hinter der halbgeöffneten Tür. Ich wollte ins Asia, weil dort Striptease-Tänzerinnen auftraten, denen ein junger Elefant assistierte. Meine beiden Abendzeitungen hatten darüber mit ausführlichen Beschreibungen und Fotos berichtet. Der junge Elefant nahm mit seinem Rüssel den Tänzerinnen die abgelegten BHs und Höschen ab und legte sie dann auf einen Stuhl. Nach den ersten Pressemeldungen über die Vorstellungen im Asia standen die Leute dort Schlange, doch drei Wochen später machten die Tierschützer diesem Spektakel ein Ende.

Wenn es regnete oder schneite, waren wir glücklich. Sobald im Gymnasium die ersten Regentropfen an die vier großen Fenster klopften oder Schneeflocken zu sehen waren, stieß Albert mich an, deutete auf die Fenster und rieb Daumen und Zeigefinger aneinander. Ich nickte und wir lächelten für einen Moment.

Bei Schnee und Regen gab es ein besseres Trinkgeld, das war immer so. Man wurde an den verregneten Nachmittagen zwar klitschnass, die Haare trieften, und man hatte Mühe, all seine Zeitungen trocken zu halten, da einem keiner einen nassen Papierfetzen abnahm, doch es lohnte sich mehr als sonst. Einmal kaufte mir an einem völlig verregneten Tag ein älterer Mann sämtliche Zeitungen ab, mit denen ich in der Kneipe erschienen war, elf Nachtdepeschen und vierzehn Exemplare vom Telegrafen, freilich war der Mann schon recht angetrunken.

Für die Regentage hatten wir die Pelerinen aus billigem hellblauem Plastik mit dem Namen der Druckerei auf dem Rücken, die wir bei Marquardt hatten kaufen müssen. Sie ließen sich schwer zusammenfalten und dienten weniger als Regenschutz für uns, wir benötigten sie vielmehr, um unsere Zeitungsbündel trocken zu halten.

Siegbert, unser Klassenprimus, hatte auch beim Geldverdienen die Nase vorn. Ihm war es gelungen, eine nahezu feste Anstellung als Balljunge bei Paicos, dem Tabakmillionär, zu ergattern. Er war in der Schule ein Meister im Anwanzen, so dass ihn fast alle Lehrer immer wieder lobten und als Vorbild hinstellten, und so wird er sich auch bei dem Tabakmillionär eingeschleimt haben. Oder dieser Besserwisser, der »Know-it-all«, wie wir ihn nicht nur hinter seinem Rücken nannten, hatte einfach ein unverschämtes Glück.

Zwei- bis dreimal in der Woche spielte er an den Nachmittagen für mehrere Stunden bei Paicos den Balljungen. Das war leicht verdientes Geld, er hatte nur zu rennen und dabei aufzupassen, keinesfalls das Spiel zu stören oder gar einem der Tennisspieler den Weg zu versperren, und bekam dafür zwei Mark fünfzig für die Stunde. Das war sehr viel mehr, als der Sportklub Blau-Weiß bezahlte, wo jeder Balljunge pro Stunde lediglich fünfzig Pfennige erhielt.

Wie der Angeber uns erzählte, beeindruckte es den Millionär, dessen Ehefrau und die Gäste, wenn er, um einen Ball aufzuheben, mit einem sogenannten Scherensprung über das Netz sprang, ohne es zu berühren. Diesen Sprung nannte er den Stiersprung, so wie er alles, was er tat, als eine außerordentliche Leistung darstellte, die ihn seiner Meinung nach vor allen auszeichnete. Er wurde von allen gehasst, von den Mitschülern wie den Jungen im Internat, aber das kümmerte ihn nicht, und ich vermutete immer, er war darauf sogar stolz, da auch dies ihn wieder von allen anderen unterschied.

Bei Paicos jedenfalls hatte er eine Stelle gefunden, um die wir ihn alle beneideten, da er jedes Mal für die drei, vier Stunden auf dem Tennisplatz hinter der Villa zehn Mark erhielt. Diese Villa, ein prächtiger Bau auf einem riesigen, stets gepflegten Grundstück mit vier Garagen auf der Straßenseite und einem großen Park hinter dem Haus, in dessen Mitte sich der Tennisplatz befand, stand unserem Wohnheim schräg gegenüber. Siegbert hatte also nur die Straße zu überqueren, während wir anderen weite Wege hatten und eine halbe Stunde brauchten, ehe wir überhaupt bei der Druckerei oder der Agentur waren.

Auch Basti hatte eine lohnende Beschäftigung gefunden, bei der er zwar seltener als Siegbert etwas zu tun bekam, dafür aber auch im Winter gebraucht wurde. Er arbeitete für den Blumenladen am Roseneck als sogenannter Fleurop-Rosenkavalier. Auf dem Heimweg von der Schule ging er jeden Tag an dem kleinen Blumenladen vorbei, um sich zu erkundigen, ob es für ihn Aufträge gäbe. Wenn dies der Fall war, ließ er seine Schulsachen im Laden liegen und brachte den bestellten Blumenstrauß zu der auf dem Kuvert notierten Adresse oder kam, falls eine bestimmte Uhrzeit für die Übergabe vorgegeben war, zu dieser Zeit nochmals in den Blumenladen, um die Blumen abzuholen und zum Empfänger zu bringen. Diese wohnten alle in der näheren Umgebung.

Der Blumenladen gab ihm für jeden seiner Botendienste zwar nur fünfzig Pfennige, aber es gab fast immer ein Trinkgeld, eine Mark oder auch zwei. In manchen Wochen hatte Basti nur einen einzigen Blumengruß auszutragen, aber es gab auch Zeiten, wo drei oder vier Aufträge am Tag anfielen. Und wenn im Oktober die beiden Gärtner von Paicos den Tennisplatz winterfest machten und Siegbert dann sechs Monate lang keinen Pfennig verdiente, musste sich Basti keine Sorgen machen, denn im Winterhalbjahr gab es mehr Aufträge als im Sommer, und in der Zeit um Weihnachten und Silvester benötigte der Blumenladen am Roseneck manchmal für mehrere Stunden am Tag seine Hilfe.

Basti wie Siegbert bemühten sich, ihren Arbeitgebern jederzeit zur Verfügung zu stehen und keinen Termin zu versäumen, damit nicht ein Ersatzmann für sie einspränge, der womöglich mehr beeindruckte als sie selbst. Basti blieb deswegen zum Jahreswechsel immer in Berlin, da er ohnehin nicht zu seinen Eltern fahren konnte, denn in Thüringen drohte ihm der Jugendwerkhof. Da das Wohnheim in den Weihnachtsferien geschlossen war, wohnte er bei einer Tante in Steglitz und rief von dort aus jeden Vormittag im Geschäft am Roseneck an, um sich nach Aufträgen zu erkundigen.

Ich beneidete ihn, denn mit dem Zeitungsverkauf nahmen ich und die anderen sehr viel weniger ein, aber ihm gönnte ich es. Ganz im Unterschied zu Siegbert, der es fertigbrachte, uns noch zu verhöhnen, weil wir stundenlang und bei jedem Wetter unterwegs waren, nur um ein paar Pfennige pro verkaufter Zeitung zu verdienen.

»Den Seinen gibt's der Herr im Schlaf«, sagte er grinsend, »und manche sind halt nur die schlecht bezahlten Ruderknechte, die Galeerensträflinge.«

Dann lachte er laut auf und klimperte mit den Münzen in seiner Tasche.