V Mit Kranichen zweispännig pflügen

Die alten Sprachen waren, wie ich es erwartet und befürchtet hatte, die schwierigsten Schulfächer, zumal die C-Klassen bis zum Abitur zusätzlich zum vorgesehenen Lehrstoff des Gymnasiums noch ein Nachholpensum zu bewältigen hatten.

Latein gefiel mir. Eine klare, schöne Sprache, die mir durch Spanisch und Italienisch vertraut schien, zwei Sprachen, die ich zwar nur äußerst mangelhaft und eingeschränkt kannte, aber die für mich eine Brücke zu der toten Sprache schlugen. Doktor Breyer, der uns in diesem Fach unterrichtete, hatte die Marotte, die grammatikalischen Regeln durchzunummerieren. Die Ziffernfolge ergab sich aus dem Fortgang seines Unterrichts, die Regel, die er in der allerersten Stunde lehrte, war damit Nummer eins, die anderen folgten entsprechend, und er bezog sich stets nur auf diese Nummerierung. Wir vermuteten, dass er in allen Klassen, in denen er Latein unterrichtete, dasselbe System eingeführt hatte und dass darum in jeder Klasse seine Lektionen völlig identisch sein mussten.

Beim Griechischen fehlte mir ein Zugang durch vertrautere Sprachen, und daher blieb diese Bildungssprache für mich abstrakt und tot. Ich lernte sie eher mechanisch, paukte die Vokabeln, lernte bestimmte Satzkonstruktionen auswendig, versuchte mir ganze Sätze einzuprägen. Ich fand keinen Weg zu dieser Sprache und war daher entschlossen, mich, wenn in zwei Jahren eine weitere Sprache zu wählen sein würde, für Französisch oder Spanisch anzumelden, aber keinesfalls für Hebräisch. Der Griechischlehrer, Doktor Friedrich Michalka, war als sehr junger Mann direkt nach dem Abitur zur Wehrmacht eingezogen worden und hatte zwei Jahre in Griechenland als Infanterist gedient. Er erzählte uns viel von seiner Soldatenzeit, die für ihn offenbar ein großes Abenteuer gewesen war.

Einige seiner Geschichten hielten wir für unglaubwürdig. Wir amüsierten uns, wenn er von Lastenseglern ohne Motor erzählte. Das seien Segelflugzeuge gewesen, die mit schwerer Last hochgezogen wurden und dann lautlos über die Frontlinie schwebten. Oder wenn er von Kriegsschiffen sprach, die nicht aus Stahl, sondern aus Beton hergestellt worden seien. Gegen Ende des Krieges sei in Deutschland der Stahl knapp geworden, und so war die Heeresleitung darauf verfallen, Betonschiffe zu bauen, wobei durch die Betonschalung kostensparender Serienbau möglich wurde. Auch seien die Pflege und die Reparaturen bei diesen Schiffen viel leichter und billiger als bei den Stahlschiffen.

Nach zwei Jahren habe seine Einheit in Griechenland kapituliert und sie seien alle in ein Kriegsgefangenenlager verbracht worden. Dort hatten er und andere deutsche Soldaten in der Landwirtschaft arbeiten müssen. Mit zwei Pferden oder auch nur zwei Ochsen und mit einem altertümlichen Pflug habe er die Felder beackert, dennoch war es für ihn eine lehrreiche und beglückende Zeit. Er habe die griechischen Bauern und ihre Familien kennengelernt und ihre Sprache, er habe tagtäglich in einer der schönsten Landschaften dieser Welt gearbeitet mit einem erstaunlichen Tier- und Pflanzenreichtum, wobei er besonders von den Kranichen schwärmte.

Die Jahre in Griechenland bestimmten fortan sein Leben. Entlassen aus der Kriegsgefangenschaft, studierte er Griechisch und, da es für das Neugriechische kaum einen Bedarf an Lehrern gab, auch Altgriechisch und erwarb die Facultas Docendi, die Lehrbefähigung.

Durch seine Erzählungen und seine Begeisterung für Griechenland erwarb er sich den wohl nicht nur an unserem Gymnasium längsten Spitznamen eines Lehrers, hieß er seiner Geschichten wegen bei uns doch »Mit Kranichen zweispännig pflügen«.

In allen anderen Fächern hatte ich keine Schwierigkeiten. Die Klassenlehrerin Fräulein Marmarschke war eine sehr große und hagere Frau mit einer seltsamen rötlichen Hautflechte unter dem rechten Auge, die sie stark puderte. Sie war eine begeisterte Leserin und bemühte sich, uns über den Schulstoff hinaus für die Bücher ihrer geschätztesten Autoren zu gewinnen, für Gottfried Keller, Gustav Freytag und Edzard Schaper und ganz besonders für die Romane von Werner Bergengruen. Leidenschaftlich liebte sie die Lyrik und versuchte uns die Schönheit ihrer Lieblingsverse nahezubringen. Uns Vierzehn- und Fünfzehnjährigen waren die von ihr vorgetragenen Verse – die meisten der Gedichte las sie nicht ab, sondern rezitierte sie aus dem Gedächtnis – zu verquast und verworren, wir empfanden sie als nichtssagendes Wortgeklingel und schätzten mehr die härteren und klareren Sätze eines Hemingway.

Fräulein Marmarschke war eine überaus freundliche Frau, immer bemüht, uns zu helfen, unser Verständnis für die schwierigeren Grammatikregeln wie das Futur zwei oder die Präpositionen mit zwei Kasus oder gar einem schwankenden Kasus zu wecken. Man merkte ihr an, dass es sie geradezu schmerzte, wenn sie einem von uns ein Unbefriedigend erteilen musste. Am Ende der Stunde bat sie den Betreffenden zu sich an den Lehrertisch, um mit ihm zu besprechen, wie er seine Leistungen und damit seine Schulnote verbessern könne.

Der Mathe-Unterricht bei Bellnitz forderte von uns allen größte Aufmerksamkeit, da Bellnitz sehr rasch voranging und unsere Verständnisschwierigkeiten nur kopfschüttelnd zur Kenntnis nahm, um dann im Stoff fortzufahren.

In der ersten Stunde hatte er die Klasse belehrt, dass die korrekte Form der Anrede an ihn nicht Herr Prof. Dr. Kurt Bellnitz sei, denn damit würde man die akribisch genaue Sprachlehre und die althergebrachte Sitte verletzen. Der Vorname habe stets vor dem Titel zu stehen, folglich habe man ihn mit Herr Kurt Professor Doktor Bellnitz anzusprechen, alles andere offenbare nur Unwissen und ordinäre Pöbelhaftigkeit. Eine daraufhin aufkommende Heiterkeit unterband er, indem er sich umgehend der Wandtafel zuwandte und die Schüler mit rasch hingeschriebenen Formeln eindeckte.

So skurril und schroff Bellnitz auch wirkte, er war wohl der respektierteste Lehrer am Gymnasium, zumal er nur wenige Klassen unterrichtete, da er gleichzeitig als Mathematik-Professor an der Freien Universität angestellt war. An den Umgang mit Studenten gewöhnt, ging er kaum auf Verständnisschwierigkeiten ein, beantwortete Anfragen und Einwände nur mit einer knappen Handbewegung oder lediglich mit einem Hinweis auf ein Kapitel im Schulbuch.

Bellnitz war gleichermaßen geachtet wie gefürchtet, und wie ich bald mitbekam, wurden über ihn so viele Geschichten und Anekdoten erzählt wie über keinen unserer anderen Lehrer.

Dass wir uns über seine bizarren Gewohnheiten und kleinen Patzer amüsierten, drückte unsere Anerkennung aus, erzählte aber auch etwas von seiner gefürchteten Autorität. Er war der heimliche König des Gymnasiums, was auch die Lehrerschaft und Herr Seeger, der Direktor, anerkannten, da der Mathematiklehrer nicht nur ihr Kollege, sondern auch ein an der Universität geschätzter Professor war, dessen Schulstunden bei uns offenbar einer altruistischen und völlig uneigennützigen Laune von ihm geschuldet waren, jedenfalls hatten wir keine andere Erklärung dafür, dass er uns unterrichtete.

Wir schätzten und bewunderten ihn, doch ein wirklich guter Lehrer und Pädagoge war er wohl nicht, denn abgesehen von den drei, vier Koryphäen in der Klasse, zu denen selbstverständlich auch Siegbert zählte, die in seinem Unterricht mithalten konnten, begriffen wir anderen vor allem, dass wir von der höheren Mathematik wenig Ahnung hatten. Trotzdem waren wir stolz darauf, dass er sich für einen Unterricht in allen Klassen des C-Zweiges entschieden hatte, und nur in diesen Klassen, weil den Ostdeutschen, wie er sagte, in der Grundschule etwas mehr mathematisches Verständnis beigebracht worden sei.

Religionsunterricht erteilte uns Pfarrer Cognata, der Schulpapst, wie ihn alle Schüler nannten. Außer dem Unterricht in den Klassen hielt er die allwöchentliche Andacht in der Aula, und sonntags predigte er in der Kreuzkirche. Seine Schulstunden waren stets ein Gemisch von Christenlehre und Gegenwartskunde, und er stellte uns kenntnisreich die Weltreligionen vor.

Auch bei ihm gab es Noten, doch beurteilte er, wie er häufiger ausführte, allein unsere Mitarbeit in seinem Fach, da er ein Glaubensbekenntnis und eine religiöse Haltung nur zu respektieren, nicht aber zu bewerten habe. Folglich nahmen wir seine Unterrichtsstunden gelassen und locker hin, beteiligten uns sehr zurückhaltend, zumal die Note in diesem Fach kaum eine nennenswerte Bedeutung auf dem Maturazeugnis haben würde. Als wir bereits in der Untersekunda waren, schlief Albert einmal mitten in der Religionsstunde ein, was Pfarrer Cognata aber erst bemerkte, als Albert vernehmlich schnarchte.

In der Untersekunda hatten wir Sexualkunde. Die Jungen wurden vom Schulpapst aufgeklärt, die Mädchen getrennt von uns von der Sportlehrerin. Was uns Cognata mitzuteilen hatte, war äußerst dürftig, und wir konnten uns kaum das Lachen verkneifen. Zum Ende seiner Unterrichtung gab der Pfarrer jedem von uns eine Broschüre in die Hand mit dem Titel Reif werden und rein bleiben. Auch in diesem Heftchen wurde alles umständlich und verschwurbelt beschrieben, der Autor dieses Machwerks konnte sich nur verdruckst und verkrampft äußern und sprach von der »Sünde der Selbstbefleckung«, so dass diese Broschüre unsere Lieblingslektüre im Internat wurde.

Die übermäßige Religionsunterweisung und die ständigen Andachten im Gymnasium wie im Internat stärkten nicht unseren Glaubenseifer, sondern führten zu einem allgemeinen Überdruss, zumal die Mädchen in der Klasse in medizinische Berufe strebten und die Jungen sich mehrheitlich für technische Berufe interessierten. Drei von uns wollten Architekten werden, keiner in der Klasse hatte vor, Theologie oder Religionsgeschichte zu studieren.

Doch die amüsanteste Lehrerin war und blieb Anna Kehl, die Russischlehrerin, die uns, ohne jede Ausbildung und Befähigung für eine Lehrtätigkeit, kaum mehr als ein paar russische Gebete – Господь мой Пастырь в жаркий летний полдень/Gospod moy Pastyr v zharkiy letniy polden – beibrachte, stattdessen ließ sie ihrem Zorn über die Machthaber im Kreml und Unterdrücker ihrer lettischen Heimat freien Lauf. Wir kannten uns in den osteuropäischen Ländern wenig aus, waren nur eingeschränkt an den politischen Vorgängen in der Welt interessiert, so dass uns ihre Tiraden eher amüsierten als beeindruckten. Die Ära des Kalten Krieges, wie die Lage zu jener Zeit bezeichnet wurde, ging an uns vorbei, dafür waren wir zu jung und zu sehr an anderen Dingen des Lebens interessiert.

Unser Sportlehrer hieß Frühbus, Horatius Frühbus, ein für uns so lächerlicher Name, dass wir ihn immer wieder spöttisch verdrehten und ummodelten, doch wir schätzten ihn. Er war, wie es hieß, vor vielen Jahren ein bekannter Profihandballer gewesen, und so wurden seine Stunden bevorzugt für Ballspiele genutzt, was uns recht war. Frühbus sorgte auch dafür, dass in jedem Jahr ein Handballturnier an unserem Gymnasium stattfand, das für die Klassen des C-Zweiges besonders wichtig war.