Die Hausordnung, in der ab zweiundzwanzig Uhr Nachtruhe vorgeschrieben war, verärgerte vor allem jene Schüler, die schon sechzehn waren, also die Sekundaner und Primaner. Sybelius beharrte darauf, dass er in Vertretung unserer Eltern der Erziehungsberechtigte sei, der Verantwortung für uns trage und dafür zu sorgen habe, unser Leben und unsere Gesundheit nicht zu gefährden.
Es gab wenige Ausnahmen, für die man zuvor beim Internatsleiter einen schriftlichen Antrag zu stellen hatte. Diese Ausnahmen wurden erteilt, wenn die Eltern oder nahe Verwandte nach Berlin kamen oder wenn wir in die Oper oder ins Theater gehen wollten. Ein längerer Kneipenabend wurde nicht erlaubt, und auch nach einem Kinobesuch mussten wir bis zweiundzwanzig Uhr wieder im Internat sein.
Im Mai wurde im Filmkunsttheater noch einmal für einige Tage der Horrorfilm Das Kabinett des Professor Bondi gezeigt, einer der ersten 3D-Filme. Er war Jahre zuvor in Westberlin schon gelaufen, das Filmkunsttheater hatte ihn noch einmal ins Programm genommen, zeigte ihn aber nur am späten Abend. Da die Vorstellungen erst um einundzwanzig Uhr begannen und frühestens um dreiundzwanzig Uhr endeten, hätten wir erst kurz vor Mitternacht zurück im Internat sein können.
Basti fand eine Lösung. Alle Bewohner des Schrankzimmers – mit Ausnahme von Siegbert, dem wir unseren geplanten Kinobesuch verheimlichten – reichten gemeinsam bei Sybelius einen Antrag auf verlängerten Ausgang ein. Wir begründeten unsere Bitte mit schulischen Erfordernissen, da wir zu einem Weiterbildungskurs bei Professor Bondi gehen wollten.
Als Basti und Albert den schriftlichen Antrag mit unseren Unterschriften dem Internatsleiter vorlegten, sagte dieser nur: »Aber wieso Professor Bondi? Ihr Professor heißt doch Professor Doktor Bellnitz.«
»Bei Professor Bellnitz haben wir Mathe. Professor Bondi ist Anatom und gibt einen Biologiekurs für uns.«
»Na schön. Aber nutzt die Erlaubnis nicht aus, sondern kommt nach dem Kurs sofort ins Internat zurück.«
»Versprochen, Herr Sybelius. Wenn Professor Bondi seinen Unterricht beendet, kommen wir sofort zurück.«
Nach dem Abendbrot zogen wir los. Die Ostausweise hatten wir eingesteckt, um die Kinokarten mit DDR-Geld bezahlen zu können.
Das Kabinett des Professor Bondi war ein 3D-Farbfilm, der dem Zuschauer den Eindruck stereoskopischen Sehens vermittelte. An der Kasse bekamen wir für ein Pfand eine 3D-Brille. Sie war sehr leicht und aus billigem Kunststoff gefertigt, und sie hatte zwei verschiedenfarbige Gläser, ein rotes und ein grünes. Die Eintrittspreise waren teurer als üblich, weil dieser Film nicht nur dreidimensional gezeigt wurde, sondern auch mit Stereoton.
Das Kino war nur zu einem Drittel gefüllt, wir setzten uns als Gruppe zusammen über zwei Reihen hinweg, so dass wir uns gemeinsam über den Gruselfilm amüsieren konnten.
Der Film spielte im Wachsfigurenkabinett von Bondi, der seine Figuren jedoch nicht aus Wachs herstellt, vielmehr ermordet der wahnsinnige Professor Menschen, um die Leichen dann mit einer Wachsschicht zu überziehen und auszustellen, bis er am Schluss des Films selbst in seinen Bottich mit brodelndem Wachs stürzt. Die Dreidimensionalität verstärkte die gruseligen Eindrücke, doch wenn man die Brille abnahm, sah man alles verschwommen, außerdem war alles doppelt zu sehen, und auch noch sehr unscharf.
Um dreiundzwanzig Uhr starb Bondi in seinem kochenden Wachs, der Film war zu Ende, und wir machten uns sofort auf den Heimweg, hatten wir doch Sybelius versprochen, direkt nach Hause zu kommen, sobald Professor Bondi endet.
Am nächsten Tag forderte Sybelius uns fünf Kinogänger auf, direkt nach dem Mittagessen in seinem Arbeitszimmer zu erscheinen. Wir schauten uns beklommen an, ahnten wir doch, was uns erwartete.
Tatsächlich wusste der Internatsleiter inzwischen, wohin wir gegangen waren und dass dieser Professor Bondi kein Anatom war, der uns in Biologie unterrichtete, sondern ein gefährlicher fiktiver Massenmörder. Er sagte, er sei schwer enttäuscht, und ganz besonders ärgerten ihn unsere unverschämten Lügen.
»Das ist ehrlos und würdelos von Ihnen«, sagte er, »ich werde Ihnen in Zukunft nicht mehr trauen können. Und für eine Woche haben Sie alle Hausarrest, vom Schulschluss bis zum nächsten Morgen. Die Herren Adjunkten habe ich bereits informiert. Sie können gehen.«
In unserem Zimmer erwartete uns Siegbert. Er lächelte uns höhnisch an und erkundigte sich, was Sybelius gewollt habe.
»Das kannst du dir ja denken. Und ich bin sicher, er hat es von dir erfahren, wo wir gestern waren«, zischte Albert.
»Von mir? Nein, ich wusste nicht, wohin ihr gestern verschwunden seid. Herr Sybelius hatte mich heute Morgen gefragt, wieso ich nicht zu dem Biologiekurs mitgegangen sei, und da konnte ich ihm nur sagen, von einem zusätzlichen Biologiekurs am Abend hätte ich nie etwas gehört.«
»Vielen Dank auch, Siegbert. Du hast uns ganz schön in die Scheiße geritten.«
Das Ärgerlichste an dem Hausarrest war, dass Basti und ich nachmittags keine Zeitungen verkaufen konnten und wir eine Woche lang auf unsere Zeitungspfennige und das Standgeld verzichten mussten, während für Siegbert die Saison auf dem Tennisplatz des Millionärs Paicos gerade wieder begann und er uns zweimal in der Woche stolz erzählen konnte, was er wieder eingenommen hatte.
Paicos, dessen Villa schräg gegenüber von unserem Internat lag, hatte sein Vermögen mit Zigaretten und Zigarren gemacht, für die er aus Griechenland, seiner Heimat, den Tabak importierte.
Berühmt war Paicos für seine Packung P4, eine winzige Papiertüte, in der nur vier Zigaretten steckten und die dreißig Pfennige kostete. In einer Zeit, in der die Löhne niedrig waren und es gang und gäbe war, sich beim Zeitungshändler eine einzelne Zigarette zu kaufen, war seine P4 nicht nur bei Schülern und Studenten beliebt, auch Arbeiter und Arbeitslose kauften die kleine Packung, die es in zwei Sorten gab, mild oder extra würzig, beide mit dem Werbeslogan P4 rauchen wir! versehen.
In der Woche, in der wir Schrankzimmer-Bewohner – mit Ausnahme von Siegbert – Hausarrest bekommen hatten, kam er eines Abends von seinem Millionär zurück, schwenkte zwei Geldscheine und erklärte uns herablassend, er habe heute als Balljunge zusätzlich zu der üblichen Summe einhundert Mark eingenommen. Da er bemerkte, dass wir ihm nicht glaubten, drehte er sich um und zeigte auf seine Hose.
»Damit habe ich das Geld verdient.«
Quer über den Hintern bis zum Oberschenkel hatte seine Hose einen dreißig Zentimeter langen Riss.
»Die Hose hatte ich präpariert. Sie ist sowieso schon etwas hinfällig, und da habe ich, bevor ich zum Tennisplatz ging, mit der Schere diesen Riss hineingeschnitten. Dann habe ich mit einem einzigen Faden den Riss notdürftig geflickt. Um beim Tennis die verschlagenen Bälle rasch aufzunehmen, springe ich gelegentlich auch über das Netz, und wunschgemäß riss diesmal die Hose.«
Er lachte selbstgefällig auf.
»Alle amüsierten sich, und die Frauen haben sich totgelacht, ich dagegen spielte den völlig Verzweifelten. Und als Herr Paicos mir mein Geld gab, legte er fünfzig Mark dazu und meinte, das sei für eine neue Hose. Seine Frau sagte zu ihm, er solle mir etwas mehr geben, damit ich mir eine anständige Hose kaufen könne, und da griff er noch einmal in sein Portemonnaie und gab mir einen zweiten Schein. Genial, nicht wahr?«
Er lachte laut auf, hob den rechten Arm und wedelte mit den Geldscheinen in der Luft. Wir waren weniger amüsiert, aber sein Trick war beachtlich, und hundert Mark so auf die Schnelle verdient, das war bombig. Aber ein Arschloch war er und blieb er, da waren wir uns alle einig.
Obwohl uns der Hausarrest ärgerte und ein finanzielles Desaster für uns war, hielten wir das Zweiundzwanzig-Uhr-Gebot häufig nicht ein. Entscheidend war, welcher Adjunkt Abenddienst hatte. Mit Faro konnte man reden, und auch Frieder ließ sich erweichen, wenn man nur eine gute Begründung hatte und ihn zuvor über die Verspätung informiert hatte.
Im Oktober, ein halbes Jahr nach unserer Konsultation bei Professor Bondi, trat Bill Haley mit His Comets im Sportpalast auf. Uns allen war klar, Sybelius würde uns niemals gestatten, zu diesem Konzert zu gehen, denn in den Zeitungen war zu häufig über Ausschreitungen und Tumulte bei Bill-Haley-Konzerten berichtet worden, und Spanien hatte sogar offiziell ein Auftrittsverbot über ihn verhängt. Aber wir wollten, wir mussten Rock Around the Clock live hören.
Wir sprachen Faro an, sagten ihm, dass wir es für aussichtslos hielten, den Internatsleiter um eine Ausnahmegenehmigung für dieses wohl einmalige Konzert zu bitten. Er verstand unseren Wunsch, Bill Haley zu erleben, und unsere Sorge, es verboten zu bekommen. Er versprach uns, über eine Lösung nachzudenken.
Zwei Tage später machte er uns einen Vorschlag: An dem Abend würde Frieder die Aufsicht im Internat übernehmen, und er selbst würde uns in den Sportpalast begleiten. Wir sollten genau notieren, wer alles zu dem Konzert gehen wollte. Er stellte drei Bedingungen: Keiner in der Gruppe dürfe unter sechzehn Jahren sein, über die Aktion müsse absolutes Stilschweigen bewahrt werden, und alle hätten sich auf dem Weg und im Sportpalast seinen Anweisungen bedingungslos und umgehend zu fügen, denn er trage die Verantwortung für uns. Da es in der Vergangenheit zu Krawallen und Rangeleien gekommen sei, sei das auch für diesen Abend nicht auszuschließen und er würde mit schlimmen Konsequenzen zu rechnen haben, wenn irgendetwas passiere, zumal er seine Zustimmung gegeben habe, ohne den Internatsleiter zu fragen oder zu informieren.
»Wenn Sybelius das erfährt, wirft er mich raus, dann sitze ich auf der Straße, und ihr bekommt einen weniger freundlich gesinnten Adjunkten vor die Nase gesetzt. Da wird Sybelius rigoros sein, zumal er Bill Haley für eine kulturlose Schmalzlocke hält. Ist euch das klar?«
Wir waren sofort einverstanden und dankten ihm. Nach diskreten Absprachen mit den älteren Internatsbewohnern stellten wir schließlich eine Liste von vierundzwanzig Schülern zusammen. Auf meinen Vorschlag hin hatten alle eine Mark zusätzlich zu zahlen, um das Geld für Faros Eintrittskarte zusammenzubekommen, schließlich ging er nur uns zuliebe zu dem Konzert.
Als wir Faro mitteilten, dass wir seinen Eintritt bezahlen würden, war er so gerührt, dass er uns anbot zu versuchen, die fünfundzwanzig Karten über seinen früheren Kommilitonen zu besorgen, der im Senat für Öffentlichkeitsarbeit zuständig war. Wir sollten auf der Liste notieren, wer von den vierundzwanzig einen gültigen Ostausweis besaß, um die Karten mit Ostmark bezahlen zu können. Ein paar Tage später sagte er uns, sein Kommilitone könne tatsächlich Karten besorgen. Alles ganz offiziell, da wir geflüchtete Ostdeutsche seien, wofür es gesonderte Bestimmungen gebe, und er würde dafür sorgen, dass alle Schüler ihre Karten für Ostgeld bekämmen, auch die, die keinen Ostausweis mehr besäßen. Nur seine, Faros Karte, müsste mit Westmark bezahlt werden.
Tatsächlich konnten wir unser Vorhaben vor Herrn Sybelius geheim halten, und am zwanzigsten Oktober, sechs Tage vor dem Auftritt von Bill Haley, hatten wir unsere Eintrittskarten.
Am Abend des Konzerts übernahm Frieder die Aufsicht im Internat, und wir fuhren mit Faro in die Potsdamer Straße. Wir trafen sehr zeitig am Sportpalast ein, fast eineinhalb Stunden vor Beginn, doch die Potsdamer Straße war in der Höhe des Sportpalastes bereits voller Menschen, fast nur Jugendliche, die meisten trugen Jeans und Jeansjacken. Wir hatten Mühe, als geschlossene Gruppe bis zum Eingang des Gebäudes zu kommen, und wurden immer wieder angesprochen, ob wir nicht eine Karte zu verkaufen hätten.
Wir hatten gute Plätze bekommen und saßen alle in einer Reihe nicht weit von einem der Ausgänge. Als es zwanzig Uhr war und das Konzert beginnen sollte, liefen immer noch Tontechniker über die Bühne, von Bill Haley war nichts zu sehen.
Als sich eine Viertelstunde später immer noch nichts tat, wurde es unruhig im Publikum, man rief in Sprechchören nach Bill Haley, pfiff ohrenbetäubend und schlug auf die Sitze ein. Ein Sprecher kam mit einem Mikrofon auf die Bühne und wartete, bis der Lärm sich legte, dann teilte er mit, jetzt würde als Vorband – er sprach von »opening act« – die Big-Band von Kurt Edelhagen spielen und danach Bill Ramsey auftreten. Ein kollektiver, sehr lauter Wutschrei erschütterte den Sportpalast, und das Geschrei ging in ein ohrenbetäubendes Brüllen über, als Edelhagen und die Musiker seiner Jazzband auftraten.
Die Musiker wirkten irritiert, begannen dann aber unter der Leitung Edelhagens zu spielen. Von unseren Plätzen aus hörten wir allerdings nur vereinzelt Töne, da der Lärm nicht nachließ. Offensichtlich – wir konnten es nur an dem Verhalten der Big-Band erraten – spielten sie danach ein zweites Stück, bei dem wir zumindest die Töne des Trompeters vernahmen, doch dann brach Edelhagen ab, drehte sich zum Publikum um und schüttelte sekundenlang den Kopf, bevor er mit seiner Band die Bühne verließ. Nun brauste höhnischer Beifall auf. Der Sprecher erschien wieder mit dem Mikrofon, hob den linken Arm in die Höhe und wartete, dass sich der Lärm legte, was eine Minute dauerte.
»Wir haben entschieden, auf den opening act zu verzichten«, sagte er, als es ein wenig ruhiger geworden war, »und wir kommen jetzt direkt zum Hauptteil und Höhepunkt des Konzertes: Bill Haley and His Comets. Die Rock-'n'-Roller sind bereits auf dem Weg in den Sportpalast. In wenigen Minuten werden Bill Haley and His Comets hier auf der Bühne stehen. Bitte bewahren Sie Ruhe und gedulden Sie sich ein paar Minuten. Wir wollen keinen Krawall, sondern einen großartigen Rock-'n'-Roll-Abend erleben.«
Seine restlichen Worte gingen in dem neu aufflammenden Lärm unter, wieder wurde gebuht und gepfiffen, und der Mann verschwand. Das Saallicht wurde angeschaltet, was die lautesten Krakeeler verstummen ließ und zu einer gewissen Beruhigung führte.
Es dauerte fast eine Viertelstunde, bis der Mann mit dem Mikrofon wieder auf die Bühne kam und brüllend verkündete: »Und nun: Bill Haley and His Comets!«
Ein ohrenbetäubender Aufschrei erfüllte den Palast, das Saallicht erlosch, der Vorhang teilte sich, und der König des Rock-'n'-Roll und seine Kometen erschienen. Haley kam mit ausgebreiteten Armen einige Schritte auf das Publikum zu, dann setzte sich der Drummer an sein Schlagzeug, einer ging zu der Pedal-Steel-Gitarre, die anderen griffen nach ihren Gitarren und dem Kontrabass, und mit einem lauten Akkord setzte Rock, rock, rock everybody, roll, roll, roll everybody ein.
Das Publikum verstummte augenblicklich. Alle hörten zu, wobei die meisten heftig und ruckartig im Rhythmus den Kopf bewegten. Als der erste Titel endete, fuhr ein Orkan von Beifall, Jubel, Pfiffen und Geschrei durch den Palast, und erst nach einigen Minuten wurde es ruhiger, so dass die Band den zweiten Titel spielen konnte: Shake, Rattle and Roll.
Und wieder bewegten sich die Köpfe im Rhythmus der Musik roboterhaft ruckartig. Viele sangen das Lied mit: Get out from that kitchen and rattle those pots and pans, und doch spürte ich bei aller Zustimmung und Begeisterung des Publikums eine unterschwellige Aggressivität, ein Unbehagen oder gar Wut. Vielleicht lag es an dem merkwürdigen Beginn des Konzerts mit einer Vorband, deren Musik viel zu sanft und großväterlich altmodisch war, was die durchweg jüngeren Leute, die wegen Bill Haley gekommen waren und Rock-'n'-Roll hören wollten, als Provokation und Betrug empfanden.
Ich bemerkte, dass auch Faro die eigenartig bedrohliche Stimmung im Palast bemerkt hatte. Er verfolgte weniger das Geschehen auf der Bühne, sondern registrierte aufmerksam das Verhalten des Publikums. Nachdem Haley und seine Band den vierten Titel gespielt hatten, mischten sich in den Beifall Schreie und gereizte, hitzige Rufe. Faro flüsterte vernehmlich: »Achtung, Leute, jetzt ist es Zeit zu gehen. Keine Widerrede, sofortiger Aufbruch.«
Er stand auf, bedeutete uns mit einer heftigen Handbewegung, ihm zu folgen, und flüsterte halblaut, während er gebückt durch die Reihe zum nächsten Ausgang lief, zu jedem von uns immer wieder: »Raus, raus, raus.«
Wir folgten ihm alle ohne Widerrede, wie vereinbart. Auf der Straße waren mehrere Polizeiwagen zu sehen, Faro eilte an ihnen vorbei und lief sehr rasch zum U-Bahnhof Bülowstraße. Wir folgten ihm, wobei wir uns lautstark bei ihm über den abgebrochenen Konzertabend beschwerten.
Als wir die Bülowstraße erreichten, blieb er plötzlich stehen.
»Hört mal her«, sagte er zu uns, »da drin herrschte eine ganz aggressive Stimmung. Da sind Typen im Publikum, die wollen Krawall, die wollen randalieren, so wie in Hamburg und Essen. Im Hamburg gab es mehrere Verletzte, darum habe ich euch rausgeholt. Habt ihr die Polizei gesehen? Wenn die unsere Personalien aufgenommen hätte, was, glaubt ihr, würde dann passieren? Die Polizei würde Sybelius darüber informieren, und wir bekämen alle Ärger, vor allem ich, ich wäre die längste Zeit Adjunkt bei euch. So, nun hoffe ich, ihr habt verstanden.«
Beim Frühstück am nächsten Morgen hörten wir, dass es tatsächlich zu wilden Ausschreitungen im Sportpalast gekommen war. Kurz nach unserem Aufbruch soll Bill Haley samt Band aus dem Palast geflohen sein, da es zu einer Saalschlacht gekommen war. Wir waren sehr erschrocken und entschuldigten uns bei Faro, der alles rechtzeitig erkannt und uns wohl gerettet hatte.
Als ich am Montag mit Albert nach dem Unterricht und dem Mittagessen die Abendzeitungen von der Druckerei holte, konnten wir sowohl in der Nachtdepesche wie im Telegrafen ausführliche Berichte über den Abend im Sportpalast lesen. Wir hatten von Haley wohl nur ein einziges Lied verpasst, denn der Tumult war direkt nach unserem Aufbruch losgegangen.
Bei den Ausschreitungen seien zwei Zuschauerränge demoliert und der große Konzertflügel zerhackt worden, sämtliche Scheiben seien zerschlagen worden und es habe viele Verletzte gegeben. Einige der Besucher seien offenbar bereits mit Schlagstöcken zum Konzert gekommen, andere hatten sich mit den Stuhlbeinen der zerschlagenen Sitzreihen bewaffnet. Außerdem sei die Lautsprecheranlage völlig zerstört worden. Die Bereitschaftspolizisten hätten schließlich mit Gummiknüppeln den Palast geräumt, wobei sie mit Hilfe von Wasserfontänen aus Feuerwehrschläuchen Bill Haley und seine Band zu schützen hatten, als die Randalierer die Künstlergarderoben stürmen wollten.
Die Polizei hätte mehr als hundertzwanzig Personen festgenommen, und an die hundert seien zur Wundbehandlung in nahe gelegene Krankenhäuser gebracht worden. Der Sportpalast sei so stark demoliert worden, dass er nun ein Trümmerfeld sei.
Albert wies mich noch auf eine kurze Mitteilung hin, die auf der vorletzten Seite stand. Es war ein knapper Bericht über die Gäste der RIAS-Kaffeetafel. Diese Veranstaltung fand einen Tag nach dem Auftritt von Bill Haley im Sportpalast statt. Offenbar waren die Berichte über die Zerstörung des Gebäudes übertrieben und aufgebauscht, wenn dort bereits zwanzig Stunden später eine bunte Veranstaltung für Rentner stattfinden konnte. Doch die sensationellen Berichte mit vielen Fotos sorgten dafür, dass ich an diesem Abend sämtliche Exemplare der beiden Zeitungen verkaufen konnte, zumal ich an allen Kneipentischen erzählte, dass ich selbst bei Bill Haley war, und sogar behauptete, bei dem Krawall im Sportpalast noch dabei gewesen zu sein.