XIII Der Affenschwein-Tag

Im Internat hatte jeder von uns seine ganz speziellen Glückstage, seine »Affenschwein-Tage«, wie wir sie nannten.

Für Manker waren es die zwei Tage im Jahr, an denen er seine Fresspakete von daheim bekam. Manker verdankte seinen Spitznamen der Herkunft aus dem gleichnamigen Dorf, in dem seine Eltern einen Bauernhof besaßen. Nach kurzer Zeit konnte sich niemand mehr an seinen wirklichen Namen erinnern, und wenn einer der Lehrer seinen richtigen Namen nannte, wussten wir für einen Moment nicht, wer aufgerufen worden war.

Zweimal im Jahr schlachtete Mankers Vater, und eine Woche später kam dann ein schweres Paket, dessen Einpack-Papier bereits von Fett durchtränkt war. Wie es seinen Eltern gelang, die Lebensmittelpakete nach Westberlin zu schmuggeln, war für uns ein Rätsel, denn Fleisch, Wurst und Käse durften aus Ostdeutschland nicht ausgeführt werden, und sie wurden beschlagnahmt, wenn man sie bei einem Reisenden oder in einem Paket fand.

Das Auspacken seines Fresspakets gestaltete Manker zu einem Fest. Erst wenn alle Bewohner seines Zimmers im Raum waren, räumte er seinen Schreibtisch völlig leer, schnitt die Schnur des Pakets auf und öffnete es. Er öffnete die einzelnen Päckchen, besah sich den Inhalt, schnupperte daran und verkündete dann laut und vernehmlich, was es war: Schweinekoteletts, Bratwürste, Hackepeter, Geselchtes, Eisbein, Leberwurst. Anschließend packte er alles wieder in den Karton, um ihn in die Küche zu bringen und ihn Gerda, einer unserer Köchinnen, zu geben.

Keiner von uns hat je auch nur ein Wurstzipfelchen von Manker abbekommen, er aß alles allein. Wir vermuteten, dass er einen Teil seines Schatzes Gerda gab, denn sie bereitete für ihn in den darauffolgenden Tagen immer eine Extraportion vor, und während wir den Internats-Fraß bekamen, erhielt er einen Teller mit einem duftenden Schnitzel oder einer leckeren Bratwurst.

Für Schrieni waren es Affenschwein-Tage, wenn er mit seinem Ostausweis für einen der Westberliner Schüler in Ostberlin begehrte Ware beschafft hatte. Bei ihm gab es feste Preise, jeder, der bei ihm etwas bestellte, hatte ihm fünfzehn Prozent des Kaufpreises in Westgeld zu bezahlen. Dafür unternahm er das Wagnis, teure Kameras und Musikinstrumente, die er für Ostgeld einkaufte, nach Westberlin zu bringen. Der Umtauschkurs der westdeutschen Mark gegenüber der ostdeutschen wechselte fast täglich und lag meistens zwischen eins zu vier und eins zu fünf.

Dieser Handel war für die Westberliner Schüler ein glänzendes Geschäft, und auch Schrieni kam auf seine Kosten. Seine Aktionen waren nicht ungefährlich, schließlich stand er gewiss so wie wir alle auf irgendeiner Fahndungsliste und riskierte eine Verhaftung oder Abschiebung in seine Heimatstadt.

Schrieni allerdings war unbesorgt, er wollte und brauchte das Geld. Die erworbenen Gitarren, Klarinetten und Fotoapparate steckte er stets in alte, abgeschabte Verpackungen – er hatte auf dem Flohmarkt mehrere zerschlissene Transporthüllen und Beutel gekauft, in denen er die Musikinstrumente und andere Schmuggelwaren über die Grenze brachte. Wenn einer der Schüler auf die originale Verpackung seiner Trompete oder Flöte Wert legte, bestieg Schrieni das nächste Mal mit einem nagelneuen Instrumentenkoffer die S-Bahn nach Westberlin, in dem sich aber lediglich seine Schulhefte und sein Frühstück befanden. Er war sich völlig sicher, dass ihn die Polizei nicht schnappen würde, falls aber doch, er sich herausreden könnte, und blieb bei seinen waghalsigen Fahrten über die Grenze, da diese Aktionen ihm an einem einzigen Tag fünfzig bis hundert Mark einbrachten.

Seitdem einer der Westberliner aus der Oberprima ihn gefragt hatte, ob er es sich zutrauen würde, auch ein Klavier über die Grenze zu bringen, grübelte er Tag und Nacht, wie sich das anstellen ließe, jedenfalls ging er uns wie damals, als er über das perfekte Verbrechen fantasiert hatte, nach dem Beginn der Nachtruhe mit immer neuen und immer irrwitzigeren Plänen auf die Nerven.

Auch mich hatte einmal einer der Westberliner Mitschüler auf dem Schulhof angesprochen und gefragt, ob ich noch den Zonenausweis besitze und für ihn in Ostberlin eine Gitarre kaufen könne.

»Nur eine Gitarre? Warum nicht ein Klavier? Oder gleich einen Flügel?«

»Das wäre noch besser. Könntest du denn ein Klavier für mich kaufen?«

»Warum nicht? Du musst nur sagen: ein Klavier oder einen Flügel. Machbar ist alles.«

»Ein Klavier reicht aus. Wie schnell könntest du mir das denn besorgen?«

»Weiß nicht. Ich sage dir rechtzeitig Bescheid, wann du es dir am Alexanderplatz abholen kannst.«

»Abholen? Am Alexanderplatz? Nein, das geht nicht. Wie soll ich ein Klavier über die Grenze bringen?«

»Ja, und wie soll ich das schaffen? Ein Klavier passt nicht in einen S-Bahn-Waggon. Und ich wüsste auch nicht, was ich den Grenzpolizisten erzählen sollte, wenn sie von mir wissen wollen, wieso ich mit einem nagelneuen und nachweislich in Thüringen produzierten Klavier nach Westberlin reise. Junge, um die Wahrheit zu sagen, für dich würde ich nicht mal eine Blockflöte in den Westen schmuggeln. Ist mir viel zu gefährlich.«

»Das ist typisch für ein Arschloch aus der Russenzone.«

»Selber Arschloch.«

Mich sprach jedenfalls keiner mehr an, ihm etwas im Ostteil der Stadt zu beschaffen, und der Freund von Thüringer Klavieren würdigte mich keines Blickes mehr.

Für Friedl wiederum waren die Affenschwein-Tage jene, an denen er allein oder mit Hilfe von Kameraden mehr oder weniger einfallsreiche Streiche ausführen konnte. Er nahm gern andere auf den Arm oder wollte all jene ärgern, die ihn gekränkt hatten oder die er nicht leiden konnte.

Auf den Schulpapst, den Pfarrer Cognata, der uns in Religion unterrichtete, hatte er einen besonderen Rochus, seitdem der sich beim Direktor über ihn beschwert und sogar an den Internatsleiter Sybelius einen denunziatorischen Brief geschrieben hatte.

Friedl überredete eines Tages in einer Schulpause drei Mitschüler, das Goggomobil des ungeliebten Schulpapsts, das dieser in der Warmbrunner Straße geparkt hatte, zu viert anzuheben und auf den Bürgersteig zwischen einem Baum und einer Straßenlaterne abzustellen. Das Goggomobil passte genau in diese Lücke, Cognata hatte keine Chance, es herauszumanövrieren, er musste drei Männer finden, die mit ihm das Auto heraushoben.

Ein anderes Mal überredete Friedl zwei Klassenkameraden, mit ihm in eine Kneipe zu gehen. Als der Wirt an den Tisch kam und sich nach ihren Wünschen erkundigte, wandte er sich an die beiden Kameraden und fragte sie: »Menin aeide, thea?«

Darauf hatte der Mitschüler den Anfang der Ilias zu zitieren: »Menin aeide, thea, Peleïadeo Akhileos oulomenen, he myri' Akhaiois alge' etheken.«

Und der andere musste dann aus der Odyssee zitieren: »Ạndra moi ẹnnepe, moụsa, polỵtropon, họs mala pọlla plạnchthē, epeị Troiẹ̄s hierọn ptoliẹthron epẹrse.«

Friedl wandte sich dann an den Wirt und übersetzte ihm, dass der eine ein möglichst kaltes Bier aus einer deutschen Brauerei wünsche und sein Kamerad ein obergäriges Weizenbier.

Der Wirt schaute sie mit zusammengekniffenen Augen gelangweilt an. Er erwiderte nichts, schüttelte jedoch den Kopf und brachte, nach ein paar Minuten und noch immer kopfschüttelnd, die gewünschten Getränke, die er mit einer vermutlich polnischen Bemerkung vor sie auf den Tisch stellte.

Am Abend teilte uns Friedl dann stolz diese neueste Heldentat mit, wobei es ihn nicht störte, dass eigentlich alle im Zimmer derlei Unsinn für kindisch und witzlos hielten.

Meine großen Glückstage gab es nur zweimal im Jahr. In jedem Frühjahr und Herbst bekamen alle Internatsschüler einen Büchergutschein, der nicht für unsere Schulbücher bestimmt war, sondern mit denen wir uns Bücher nach unseren Vorlieben kaufen konnten. Von Sybelius bekam jeder ein abgestempeltes und unterschriebenes Papier, einen Gutschein über fünfzig Mark, der ausschließlich für den Ankauf von Büchern bestimmt war. Noch in derselben Woche ging ich in meine Lieblingsbuchhandlung, um den Gutschein einzulösen. Ich überreichte ihn dem Buchhändler, Herrn Frühbus, und begann mit der Auswahl der Bücher. Das dauerte den ganzen Nachmittag, da meine Buchwünsche umfänglich waren und ich das eine und andere Exemplar wieder ins Regal zurückstellen musste. Der Gutschein reichte nicht aus, und nicht einmal mit einem Scheck über dreihundert Mark hätte ich alle für mich wichtigen Bücher kaufen können.

Ab und zu war ich, um Bücher zu kaufen, auch nach Ostberlin gefahren, wo sie billiger waren und ich sie mit meinem Ostausweis und dem umgetauschten Geld eigentlich zu einem Viertel des Preises kaufte, aber in der großen Buchhandlung am Alexanderplatz gab es nur ein sehr eingeschränktes Angebot. Die für mich wichtigen Autoren waren dort kaum zu finden, und die reichlich vorhandenen Ausgaben der deutschen und der internationalen Klassiker interessierten mich in jenen Jahren wenig.

Bei Herrn Frühbus hatte ich am späten Nachmittag die zwei oder drei für mich allerwichtigsten Bücher auf seinen Tisch neben der Registrierkasse gelegt, doch dann kam die Qual der Wahl. Entscheidend war immer der Preis, und wenn eins der begehrten Bücher zu viel kostete, musste ich es schweren Herzens ins Regal zurückstellen. Ich bemühte mich, dass die Gesamtsumme fünfzig Mark nicht überstieg. Ich hatte dennoch immer drei oder vier Mark als Reserve dabei, um keinesfalls unter der ausgewiesenen Summe zu bleiben und dem Buchhändler einen nicht völlig ausgeschöpften Rest zu schenken.

Herr Frühbus, ein älterer Buchhändler, ließ mich in Ruhe aussuchen, er ahnte meinen Geldmangel, und da ich ihn nie mit Fragen belästigte, störte es ihn nicht, dass ich stundenlang durch die drei Räume lief und vor seinen Regalen stand.

Wenn ich fertig war und mich bei ihm meldete, lachte er anerkennend und tippte die Preise der ausgesuchten Bücher in seine alte Registrierkasse, und ich konnte mich mit meinen Schätzen, für die ich extra die ansonsten nie genutzte Schultasche aus dem Kofferabstellraum geholt hatte, auf den Heimweg machen.

In meinem Zimmer im Internat packte ich die neuen Bücher aus, stellte sie auf meinen Schreibtisch und nahm jedes noch einmal in die Hand, um darin zu blättern und zu entscheiden, welches von ihnen ich zuerst lesen würde. Ich war sehr glücklich, so glücklich, dass ich an allen meinen Affenschwein-Tagen abends nur schwer einschlafen konnte.