Es gab, wie ich dem Telefonbuch entnahm, in Ostberlin eine zentrale Berufsberatung. Da am vierten September im ganzen Land die Lehrlingsausbildung begann, schien es mir ratsam, mich dort vorzustellen und nach einem Lehrbetrieb zu fragen.
Die Frau, zu der ich geschickt wurde, sie hieß Spiridow, war empört, dass ich mich derart spät um eine Lehrstelle kümmerte.
»Wir haben Ende August, junger Mann, die anderen haben sich ihre Lehrstellen schon im Mai gesichert.«
»Ja, ich habe es versäumt. Tut mir leid. Ich habe einfach nicht daran gedacht.«
»So, so, so. Na, ich hoffe, dass das nicht Ihre Einstellung zur Arbeit ist.«
Sie fragte nach meinen Interessen und ich sagte, dass ich sehr gern Tischler lernen würde.
»Tischler, das ist gut, das ist ganz ausgezeichnet. Denn da habe ich noch sieben offene Stellen, zwei in Köpenick, drei in Weißensee und je eine in Treptow und Mahlsdorf.«
»Weißensee wäre gut für mich. Ich wohne in der Nähe, in der Bänschstraße.«
»Ich werde sehen, was ich für Sie tun kann. Füllen Sie bitte im Warteraum diese Papiere aus und bringen Sie sie mir dann. Aber bitte vollständig ausfüllen.«
Eine Viertelstunde später brachte ich ihr die ausgefüllten Formulare zurück. Sie verlangte meinen Personalausweis, ich reichte ihn ihr, und sie notierte sich etwas.
»Kommen Sie morgen wieder, gleich früh um neun. Es ist ja alles sehr, sehr spät, auf den letzten Drücker sozusagen. Ich kann Sie überhaupt nicht verstehen, in fünf Tagen beginnt die Lehre, und Sie melden sich erst heute.«
Am Tag darauf erschien ich wieder bei Frau Spiridow. Sie sah mich finster an und sagte, ich hätte ihr am Vortag nicht gesagt, dass ich in Westberlin zur Schule gegangen sei. Das habe sie erst in den von mir ausgefüllten Formularen gesehen. Sie habe mit ihrem Abteilungsleiter gesprochen, und gemeinsam hätten sie entschieden, dass eine Tischlerlehre für mich nicht in Frage käme.
Ich fragte sie: »Und wieso nicht?«
»Das haben der Abteilungsleiter und ich entschieden. Wir haben auch die moralische und gesellschaftliche Eignung der Lehrlinge zu berücksichtigen.«
»Das ist ja großartig. Und welche Berufe darf ich erlernen?«
»Buchhändler«, sagte sie, »wir meinen, Sie sollten eine Buchhändlerlehre machen. Das ist ein schöner Beruf für Sie.«
Da meine Glückstage, meine Affenschwein-Tage, in Westberlin im Besuch einer Buchhandlung bestanden, nickte ich und sagte, ich würde gern eine solche Lehre machen. Ich stellte mir vor, dass ich jeden Morgen in die mir zugewiesene Buchhandlung ginge, mir ein Buch schnappte und es in einer verborgenen Ecke läse.
»Sehr schön«, sagte sie, »dann kann ich unsere Entscheidung unterschreiben. Sie melden sich damit umgehend, am besten noch heute, bei der Berliner Buchhandelsgesellschaft, die ist in der Rungestraße. Dort wird man Ihnen sagen, in welcher Buchhandlung Ihre Lehre beginnt.«
Ich nahm den Zettel, bedankte mich und machte mich auf den Weg in die Rungestraße. Im Hinterhof eines gewaltigen Baus aus der Zeit der Gründerjahre befand sich die Zentrale dieser Gesellschaft. Dort schickte man mich von einem Zimmer zum anderen, zu drei verschiedenen Leuten, denen ich meine Papiere vorzulegen hatte und die mich ausfragten. Schließlich teilte man mir mit, man habe entschieden, dass ich in der Buchhandlung am Alexanderplatz ausgebildet werde, der größten Buchhandlung des Landes.
Ich nickte, nahm das Blatt, auf dem Name und Anschrift der Buchhandlung standen, sowie die Bestätigung meiner Aufnahme als Lehrling. Am vierten September hatte ich mich dort um zehn vor acht einzufinden.
Auf dem Weg nach Hause fuhr ich noch zum Alexanderplatz, um mir meine künftige Arbeitsstelle anzusehen. Ich ging nicht hinein, sondern lief nur um das große Geschäft herum und sah mir die Schaufenster an, in denen Bücher lagen und standen und auch Plakate mit politischen Losungen hingen.
Am späten Nachmittag ging ich in die Linienstraße, wo es eine Abendschule in der Nähe meines künftigen Arbeitsplatzes gab, und meldete mich für die Abiturklasse an. Ich sagte, ich habe die zehnte Klasse abgeschlossen und wolle hier noch die elfte und zwölfte machen. Da ich keine Papiere über meinen Besuch des Gymnasiums vorweisen konnte, wurde ich nur probeweise aufgenommen, man wollte nach einem Monat entscheiden, ob ich tatsächlich in eine elfte Klasse gehörte.
Am Gymnasium hätte ich noch fast drei Jahre bis zum Abitur gebraucht, aber ich war sicher, dass ich die eingeschränkten Anforderungen einer Abendschule spielend schaffen würde. Meine alten Sprachen würden mir in der Linienstraße überhaupt nicht helfen, doch ich war sicher, dass ich mit Deutsch, Mathe und allen anderen Fächern keinerlei Schwierigkeiten haben würde. Allein der Russischunterricht könnte ein Problem werden, denn was wir bei Frau Kehl gelernt hatten, war für die Katz.
Auch David hatte sich bei der zentralen Berufsberatung gemeldet. Sie hatten ihm, weil er in Westberlin zur Schule gegangen war, eine Lehre als technischer Zeichner verweigert und ihm stattdessen eine dreijährige Ausbildung als Krankenpfleger angeboten. David war daraufhin zu IPRO gegangen, einem Betrieb, der Großprojekte plante und baute, hatte sich in der Kaderabteilung gemeldet, die über die Einstellungen entschied und alle Personalakten führte, und dort um eine Lehrstelle als technischer Zeichner ersucht, die ihm sofort zugesichert wurde, denn der Betrieb hatte noch vier unbesetzte Lehrstellen. Die Lehre würde drei Jahre dauern, und er musste sich verpflichten, danach für zwei Jahre in seinem Ausbildungsbetrieb zu arbeiten, was er sofort akzeptierte. Er wollte studieren und wusste, dass er dafür eine Empfehlung seiner Arbeitsstelle brauchte, und ein Schreiben eines Großbetriebs wie IPRO wäre da sicherlich hilfreich.
Ich beneidete meinen Bruder, weil er sich von den Idioten der Berufsberatung nicht von seiner Entscheidung hatte abbringen lassen. Vielleicht hätte ich auch zu den Tischlereien gehen und mich dort nach einer Lehrstelle erkundigen sollen, doch andererseits war ich mit einer Ausbildung in einer Buchhandlung zufrieden, schließlich liebte ich Bücher und las gern und viel.
Am vierten September war ich pünktlich am Personaleingang der Buchhandlung, der sich auf der Rückseite des Ladengeschäfts befand. Eine Frau sprach mich an, fragte, was ich wolle, und nachdem ich es ihr gesagt hatte, schickte sie mich in das Zimmer des Chefs. Ich klopfte an und ging hinein.
Hinter dem Schreibtisch saß ein etwa fünfzigjähriger Mann mit einem Schnauzbart, der eine Hasenscharte verdecken sollte. Er stand auf, begrüßte mich freundlich, fragte nach meinem Namen und sagte, er heiße Heuer. Dann erklärte er, ich solle mich hinsetzen, wir müssten noch einen Augenblick warten, es komme noch ein anderer Lehrling und er wolle nicht alles zweimal sagen.
Drei Minuten später erschien der andere neue Lehrling, ein Mädchen, Ingrid, ein Jahr älter als ich, die das Abitur bereits gemacht hatte und nach der Lehre am Bibliothekswissenschaftlichen Institut studieren wollte. Heuer begrüßte sie und sagte uns dann, was er von uns erwarte und welche Arbeiten wir zu erlernen und auszuführen hätten. An vier Tagen wären wir in der Buchhandlung, am Mittwoch und Donnerstag seien wir in der Berufsschule in der Greifswalder Straße. Dann rief er nach einer Frau Grützke, stellte uns ihr vor und sagte, sie sei zuständig für die Lehrlingsausbildung und würde uns einweisen.
Wir gingen mit ihr durch die Räume der Buchhandlung, sie zeigte uns die verschiedenen Fachabteilungen und stellte uns den Mitarbeitern vor, die uns alle sehr freundlich begrüßten. Um neun Uhr wurde die Ladentür aufgeschlossen, und wir gingen mit Frau Grützke ins Lager, um Bücher auszupacken und einzusortieren. Ich sagte ihr, dass ich das Abitur auf der Abendschule mache und daher an diesen vier Abenden keinen Spätdienst machen könne, da der Unterricht bereits um achtzehn Uhr beginne, und sie erwiderte, sie würde es bei der Dienstplanung nach Möglichkeit berücksichtigen.
Nun bestanden meine Wochentage aus den acht Stunden in der Buchhandlung und dem Unterricht an der Abendschule, wo ich an vier Abenden die Woche jeweils vier Stunden abzusitzen hatte. Um sieben Uhr früh ging ich aus dem Haus und war erst kurz nach zweiundzwanzig Uhr wieder daheim. Die Arbeit in der Buchhandlung war körperlich nicht anstrengend, was für den abendlichen Schulbesuch vorteilhaft war, denn zwei Abendschüler in meiner Klasse, ein Maurer und ein Schreiner, waren an jedem Tag so erschöpft, dass sie in der dritten, spätestens in der vierten Stunde einschliefen und nach einem Monat ihre Bemühungen, das Abitur nachzuholen, aufgeben mussten.
Ende Oktober wurden ich und zwei andere Abendschüler nach der zweiten Unterrichtsstunde zum Direktor gerufen. Er sagte uns, dass wir drei, die alle in Westberlin zur Schule gegangen waren, in der kommenden Stunde vom Lehrer für Staatsbürgerkunde auf unsere politische Verlässlichkeit überprüft werden sollten. Wir sollten daher nach der Schulpause nicht ins Klassenzimmer zurückgehen, sondern im Flur warten, bis Herr Leuchtenbrink, wie er hieß, einen nach dem anderen aufrufen würde.
Leuchtenbrink sah mich misstrauisch an, als ich nach seiner Aufforderung in das Schulzimmer kam. Das Erste, was er zu mir sagte, war, dass die Raketen der Nationalen Volksarmee – »unserer heldenhaften und erprobten Volksarmee« – auf Westdeutschland ausgerichtet seien.
»Was halten Sie davon?«, fragte er mich.
Ich begriff sofort, worauf er hinauswollte, und antwortete ausweichend, dass ich Raketen und Waffen aller Art für bedrohlich und gefährlich hielt und für eine weltweite und vollständige Abrüstung sei.
Sein Blick verfinsterte sich, er schnaubte unwillig.
»Danke, Sie können gehen«, sagte er, »ich meine, dass ein Mensch mit einer solchen Einstellung zu unserer Republik auf keiner unserer Universitäten studieren und auch keine weiterführenden Schulen besuchen sollte. Hier, an meiner Schule, werden Typen mit einer derart feindlichen Einstellung kein Abitur bekommen.«
»Und was heißt das?«, fragte ich trotzig.
»Der Schulbesuch ist hiermit und ab heute für Sie beendet. Sie sind exmatrikuliert.«
»Ich habe den Kurs bezahlt, da können Sie mich nicht einfach aus der Abendschule schmeißen.«
»Das Geld können Sie sich im Sekretariat erstatten lassen. Von Leuten wie Ihnen wollen wir kein Geld. Keinen Pfennig. Und nun gehen Sie endlich.«
Ich knallte die Tür hinter mir zu und ging ins Sekretariat. Ich sagte der Sekretärin, dass mich das Riesenarschloch Leuchtenbrink hinausgeworfen habe und ich mir das Schulgeld bei ihr abholen solle. Sie sah mich mitleidig an, sagte aber nichts und ließ auch meine Wortwahl unkommentiert. Sie ging zum Schrank, schloss ihn auf, nahm eine Kassette heraus und zählte mir das Geld hin.
Ich war wütend und verzweifelt und erzählte David, dass ein Lehrer der Abendschule mich rausgeworfen habe. Er sagte, an seiner Schule – er hatte sich in Friedrichshain angemeldet – werde nicht gefragt, ob einer von einem Westberliner Gymnasium komme.
Als ich vierzehn Tage später auf der Straße ein Mädchen traf, das mit mir den Abendkurs begonnen hatte, erzählte ich ihr, dass dieser Leuchtenbrink mich nach einer politischen Fangfrage von der Schule geschmissen habe. Ich fragte sie, was mit den anderen beiden sei, die gleichfalls in Westberlin zur Schule gegangen waren und wie ich zu einem Gespräch vorgeladen worden waren. Das Mädchen sagte, dass diese beiden weiterhin zum Unterricht kamen. Ich lachte kurz auf und fragte mich, wie das möglich sei und was diese zwei wohl auf die Fangfragen geantwortet hatten.
In der Buchhandlung war es mir gelungen, tatsächlich zwei oder drei Stunden in aller Ruhe Bücher zu lesen. Die große Buchhandlung machte täglich einen gewaltigen Umsatz, der am nächsten Morgen abgerechnet werden musste, eine Aufgabe, die meine Mitarbeiterinnen – außer dem Chef und seinem Stellvertreter arbeiteten nur Frauen in dem Geschäft – ungern erledigten, die jeweils dazu verdonnerte Kollegin benötigte dafür mehrere Stunden.
Da ich mit Mathematik ebenso wenig Schwierigkeiten hatte wie mit dem bloßen Rechnen, erklärte ich mich bereit, diese Arbeit jeden Morgen zu erledigen. Mit dem Pappkarton, in dem die Kassiererinnen die Kassenbons gesammelt hatten, setzte ich mich in den kleinen Aufenthaltsraum, in dem man mittags sein mitgebrachtes Essen einnehmen konnte, machte in weniger als einer Stunde die gesamte Aufstellung der Einnahmen vom Vortag und blieb dann noch zwei Stunden sitzen, um ein Buch zu lesen, bevor ich hinausging und Frau Grützke die fertige Abrechnung übergab. Wenn ich gelegentlich verlauten ließ, dass es an diesem Tag besonders schwierig und kompliziert gewesen sei, dankte sie mir überschwänglich.
Herr Heuer rief mich Ende Oktober in sein Büro und erklärte mir, dass die Berliner Volksbuchhandlungen miteinander im Wettstreit um den Titel Kollektiv der sozialistischen Arbeit stünden, und dabei sei es von entscheidender Bedeutung, dass alle Lehrlinge in der Freien Deutschen Jugend aktiv seien. Er schob mir einen Aufnahmeantrag über den Tisch und sagte, er erwarte, dass ich ihn am nächsten Tag ausgefüllt zurückbrächte. Ich erwiderte, ich wolle nicht in diesen Verein eintreten, ich sei überdies der Sohn eines Pfarrers, und die Jugendorganisation der Kirche, die Junge Gemeinde, werde von der staatlichen Jugendorganisation verleumdet und drangsaliert.
»Überlegen Sie sich das bitte. Wenn wir Ihretwegen den Titel nicht bekommen, also Ihretwegen die Kollegen auf eine Prämie verzichten müssen, wird das nicht ohne Folgen bleiben.«
»Ich kann diesem Verein nicht beitreten. Das wäre eine Lüge und ein Betrug, das können Sie nicht von mir erwarten.«
In den folgenden Wochen sprach mich sein Stellvertreter, der Herr Stießke, noch drei Mal auf eine Mitgliedschaft in der FDJ an und wurde beleidigend, als ich es zum dritten Mal ablehnte. Er drohte mir sogar mit arbeitsrechtlichen Strafmaßnahmen.
Im Dezember bekam die Buchhandlung eine Prämie, da sie die Planvorgaben nicht nur erfüllt, sondern sogar übererfüllt hatte. Jede Buchhändlerin und jeder Lehrling erhielt eine stattliche Summe, nur ich ging leer aus, weil meine Weigerung, in die FDJ einzutreten, die Kollegen im Wettbewerb zurückgeworfen hätte.
David grinste nur, als ich es ihm erzählte.
»Was hast du denn gedacht? Was meinst du, warum du Buchhändler werden sollst und nicht Tischler? Buchhändler ist ein Frauenberuf, nur die Chefs sind da Männer. Ein schlecht bezahlter Frauenberuf. Als Tischler würdest du richtig Geld verdienen, und das wollen sie nicht. Mich wollten sie ja auch nur zum Krankenpfleger ausbilden lassen, auch so eine mickrig bezahlte Arbeit.«
»Das hättest du mir früher sagen können!«
»Was kann ich dir schon sagen! Du weißt ja alles besser.«
Was er aussprach, überraschte mich. An das Herabsetzende der Berufsentscheidung der Behörde hatte ich nie gedacht, ich hatte an den Umgang mit Büchern gedacht, der mich zufrieden stimmte, und mir keinerlei Gedanken über den späteren Lohn gemacht. Nun wurde mir schlagartig bewusst, dass David recht hatte.
Nach dem Rausschmiss an der Abendschule, den Beschimpfungen in der Buchhandlung, weil ich nicht in die FDJ eintreten wollte, der Weigerung, mir wie allen anderen einen Anteil an der Prämie zu geben, war das der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.
Ich hatte in Ostberlin Lars kennengelernt, der bereits eine eigene kleine Wohnung in der Boxhagener Straße hatte, obwohl er wie ich erst achtzehn war. Er hatte sie mit Hilfe seines Vaters bekommen, der irgendein hohes Tier in der Kommunalen Wohnungsverwaltung war. Lars war so alt wie ich, hatte aber bereits sein Abitur gemacht und wollte Romanistik an der Humboldt-Universität studieren. Da seine Immatrikulation erst im Herbst des nächsten Jahres erfolgen konnte, arbeitete er als Ungelernter im Großdrehmaschinenbau 7. Oktober, wo er, wie er mir erzählte, Karusselldrehmaschinen zu verschrauben hatte und gutes Geld verdiente.
Wenn ich ihn in seiner Wohnung besuchte, war stets eins jener drei Mädchen bei ihm, mit denen er ein Verhältnis hatte. Die drei wussten voneinander und zogen übereinander her, aber sie waren unfähig, sich von Lars zu trennen. Er war ein gutaussehender junger Mann und immer großzügig, an Geld schien es ihm nicht zu mangeln. Woher er es hatte, wollte er mir nicht sagen. Ich vermutete, er stahl es irgendwo, denn wenn ich mit ihm durch die großen Selbstbedienungsgeschäfte lief, klaute er immer irgendetwas, ob er es gebrauchen konnte oder nicht. Das Stehlen war bei ihm zwanghaft, und oft genug zeigte er mir, was er eben entwendet hatte, und warf es dann in einen Papierkorb, weil es zu nichts nütze war.
Obwohl ich neben ihm durch die Geschäfte lief, habe ich häufig nicht bemerkt, wie er etwas in seiner Jackentasche oder im Anorak verschwinden ließ. Lars war beim Stehlen sehr einfallsreich.
Ich begleitete ihn, als er sich im Kaufhaus Centrum einen Handfeger kaufte, den er sich in eine Tüte stecken ließ. Dann gingen wir ins Stockwerk mit Herrenbekleidung, und er ließ sich von der Verkäuferin, die uns die ganze Zeit über misstrauisch im Auge behielt, drei Hosen geben, die er in der Umkleidekabine anprobieren wollte. Mit jeder neuen Hose, in der er steckte, kam er heraus, um von mir und der Verkäuferin zu hören, wie sie ihm stehe. Schließlich erschien er in seiner eigenen Hose und gab der Verkäuferin mit einem Ausdruck großen Bedauerns die drei Hosen zurück. Die Verkäuferin, der wir nach wie vor verdächtig waren, sah die Hosen durch und hängte sie ordentlich über die Bügel.
Nachdem wir das Kaufhaus verlassen hatten, zeigte er mir den Inhalt der Tüte: um den Handfeger hatte er eine vierte Hose gewickelt, die er auch anprobiert hatte. Ich fragte ihn, wie er das gemacht habe, unter den Augen der Verkäuferin eine vierte Hose mit in die Kabine zu nehmen, doch er schüttelte abwehrend den Kopf und lachte nur.
Nach dem ganzen Ärger mit der Abendschule, der Berufsberatung und der Buchhandlung beteiligte ich mich an seinen Diebstählen. Da wir zu zweit loszogen, fiel es uns leichter, denn einer von uns lenkte den Verkäufer ab, während der andere etwas verschwinden ließ. In der Buchhandlung konnte ich Lars problemlos hinter dem Kassenbereich Bücher mitgeben, und das war mir ein besonderes Vergnügen, weil ich meinte, damit Heuer und Stießke zu schädigen, was aber nur indirekt möglich war, denn sie waren nicht die Eigentümer der Buchhandlung. Doch je größer bei der jährlichen Inventur der Verlust war, desto geringer war für die beiden die Aussicht auf eine Prämie.
Im Dezember besuchte uns Faro. Da Westberliner nicht einreisen durften, hatte er sich in Hamburg polizeilich angemeldet, in seinem Pass stand nun Hamburg als Wohnort, und sein Volkswagen hatte ein Hamburger Kennzeichen.
Ich freute mich, ihn zu sehen, wir setzten uns ins Wohnzimmer, er fragte David und mich, wie es uns seit dem Mauerbau ergangen sei, und wir berichteten. Er war noch immer Adjunkt im Internat und sagte, es seien noch sechs weitere Schüler des C-Zweigs nicht zurückgekommen, da sie in den Ferien bei ihren Eltern waren und dort von der Absperrung der Zonengrenze überrascht worden waren.
Dann hatte Faro noch eine Bitte. Die westdeutsche Kirchenleitung wolle mehreren Gemeinden in Ostdeutschland Geld zukommen lassen, damit diese alle notwendigen Sanierungsarbeiten an Kirchen und Pfarrhäusern bezahlen könnten, die marode seien, für die aber das Geld fehle, da in Ostdeutschland keine Kirchensteuer erhoben wurde. Die bundesdeutsche Kirchenleitung werde daher in Westberlin eine größere Summe in Ostgeld umtauschen und über die Grenze schmuggeln lassen.
»Und wie wollen die das schmuggeln? Die Grenze ist dicht, jeder, der hier einreist, wird gründlich durchleuchtet.«
»Uns wird ein Offizier der amerikanischen Streitkräfte helfen. Sybelius kennt ihn, der Colonel gehört auch zu dieser Organisation World Vision, wo Sybelius Mitglied ist, und dieser Colonel ist bereit, das Geld zu transportieren. Er und sein Auto dürfen nach dem Besatzungsrecht nicht kontrolliert werden. Die Fahrt ist jedoch ein Dienstvergehen, sie ist nicht erlaubt. Seine eigenen Leute würden ihn bestrafen, wenn sie es erführen, aber er ist trotzdem bereit, der Kirche zu helfen.«
»Und was haben wir damit zu tun?«
»In der Sophienstraße hat die Kirche mehrere Büros in benachbarten Häusern. Die Häuser sind mittels Durchfahrten getrennt, in denen sich auch die Eingänge zu den Dienstzimmern befinden. Man kann durch diese Türen von einem Haus zum anderen gelangen. Der Colonel darf zwar nicht kontrolliert werden, aber bei jeder Fahrt in Ostberlin folgt ihm beständig ein Wagen der Roten Armee oder der Polizei, sie wissen also über jede Aktion Bescheid. Eine unbemerkte Übergabe des Geldes ist schwer zu bewerkstelligen. Zusammen mit dem Colonel planen wir, mit dem Auto in eine der Durchfahrten in der Sophienstraße zu fahren, in der Durchfahrt in Höhe der Tür kurz zu halten, den Koffer mit dem Geld einer Vertrauensperson in die Hand zu drücken und sofort zur Gipsstraße weiterzufahren oder im Hof zu wenden. Der Mann, der von uns das Geld bekommt, hat dann das Haus zu durchqueren, um über die nächste Durchfahrt in das Nachbarhaus zu gelangen, so dass die Übergabe unbemerkt und sicher über die Bühne gehen kann.«
»Ganz schön abenteuerlich. Und was haben wir dabei zu machen? Das Geld in Empfang nehmen?«
»Moment. Seht her, das ist die Sophienstraße, rot angekreuzt die Häuser, in denen sich die Kirchenbüros befinden. Ihr solltet nun in Erfahrung bringen, wie breit die Durchgänge sind, möglichst zentimetergenau, welcher der drei der geeignetste ist und über welchen Durchgang man bis in die Gipsstraße fahren kann. Ich will mich dort nicht blicken lassen, weil ich den Colonel bei dieser Fahrt zu begleiten habe und daher zuvor dort nicht auffallen will.«
»Du begleitest ihn? In einem Armee-Fahrzeug?«
»Ja. Ich bekomme eine Armeejacke und ein Käppi. Da ich nicht aussteige, müsste das ausreichen. Wenn ich mit dem Auto der Army gut zurechtkomme, spiele ich seinen Fahrer. Anderenfalls sitze ich auf dem Beifahrersitz. – Das Ausmessen der Durchfahrt, ist das für euch machbar?«
»Kein Problem. Können wir gleich heute machen oder morgen.«
»Wie gesagt, es geht um diese drei Durchfahrten. Messt ihre Breite an der schmalsten Stelle unauffällig aus und schaut, durch welchen Durchgang ein Fahrzeug auf die Gipsstraße gelangt.«
»Ist das alles?«
»Nein. In den Büros arbeiten sieben Frauen und drei ältere Männer. Ihnen will ich die Aktion nicht zumuten. Es wäre gut, wenn einer von euch in der geöffneten Tür des Durchgangs steht, das Geld entgegennimmt, dann die Tür von innen verriegelt und so schnell wie möglich mit dem Koffer das Haus durchquert, um ihn in eins der Büros des Nebengebäudes zu bringen. Traut ihr euch das zu oder ist es zu gefährlich für euch? Was meinst du, David?«
»Machbar. Es ist machbar, Faro.«
»Danke. Aber nur einer von euch sollte da stehen.«
Bevor ich etwas sagen konnte, sagte David rasch: »Ich mache das.«
»Gut. In vier Tagen wird sich jemand bei euch melden, dem könnt ihr sagen, was ihr herausbekommen habt. Möglichst mündlich, schriftlich nur das Notwendigste und abgekürzt. Um welche Zeit kann er am Donnerstag hierherkommen?«
»Zwischen siebzehn und achtzehn Uhr wäre gut. Da bin ich von der Arbeit zurück.«
»Gut. Donnerstag, siebzehn Uhr. Ich weiß noch nicht, wer kommen wird, ich jedenfalls nicht. Ich will bis zu dem Termin hier nicht weiter auffallen. Und dann kommt ein paar Tage später noch einmal jemand, der dir den Tag und die genaue Uhrzeit sagt. Denn wir werden vorher ein paar Runden drehen, um auf die Minute genau in der Durchfahrt zu sein. Die beiden Boten werden sich dir gegenüber mit einem Codewort ausweisen. Was schlägst du vor?«
»Kronberger Straße.«
»Einverstanden.«
»Wie schwer wird der Geldkoffer sein?«
»Weiß ich nicht. Aber das kann ich herausbekommen und dir am Donnerstag mitteilen lassen. Und an dem Tag kannst du dir in deinem Betrieb für zwei Stunden freinehmen?«
»Kein Problem. Ich sage, ich muss zum Arzt.«
»Na gut. Drücken wir uns die Daumen.«
»Kann ich mir aus dem schönen Köfferchen ein Bündel herausnehmen? Ich könnte es gebrauchen.«
Faro lachte: »Der Koffer ist gesichert, den kriegst du nicht auf. Aber eine Belohnung für euch ist vorgesehen. Ihr werdet von uns hören, wenn alles geklappt hat.«
Wir begleiteten Faro noch bis zur Straßenbahn, er musste zu demselben Grenzübergang zurück, über den er »eingereist« war, wie nun das Überqueren einiger Straßen genannt wurde, die von einer Besatzungszone der Stadt zur anderen führten.
Am nächsten Abend erkundeten wir die Durchfahrten. Wir hatten eine Rolle Schnur mitgenommen, um die Durchfahrtsbreite auszumessen. Nur die rechte Durchfahrt erlaubte es, mit einem Auto bis zur Gipsstraße zu gelangen, diese Durchfahrt war auch zwanzig Zentimeter breiter. Als kein Passant zu sehen war, maßen wir mit der Schnur rasch die Breite aus und machten einen Knoten, um daheim die Länge auszumessen. Die Tür auf der linken Seite der Durchfahrt, wo David stehen sollte, um das Geld in Empfang zu nehmen, war etwas zurückgesetzt, so dass er von der Straße aus nicht zu sehen war, wenn er dort stand und auf den Armeewagen wartete.
Daheim schrieben wir die Zahlen auf und machten eine Faustskizze von der Durchfahrt und der linken Eingangstür. Am Donnerstag klingelte es um sechs Uhr abends, ein Mann stand vor unserer Tür und sagte, er komme aus der Kronberger Straße. Wir ließen ihn in die Wohnung ein und zeigten ihm, was wir notiert hatten. Er nahm unsere Zettel nicht an sich, sondern notierte sich einiges in seinem Kalender, bevor er sich verabschiedete und seinen weiteren Besuch für den nächsten Dienstag zur gleichen Uhrzeit ankündigte.
Am Dienstag erschien er wieder sehr pünktlich und teilte uns mit, dass die Aktion in zwei Tagen, am kommenden Donnerstag, genau um elf Uhr stattfinde.
»Auf die Minute genau elf Uhr vormittags. Haben Sie das verstanden? Der Wagen kommt aus der Rosenthaler Straße, da die Sophien eine Einbahnstraße ist, und wird Punkt elf in der Durchfahrt halten. Man wird Ihnen durch das offene Fenster einen kleinen Reisekoffer reichen, er ist nicht besonders schwer. Der Wagen hält nur eine Sekunde und fährt sofort weiter. Sie müssen dann ins Haus, die Tür abschließen und schließlich durch das Haus und den nächsten Durchgang ins Nachbarhaus laufen. Dort wird der Superintendent auf Sie warten. – Alles klar?«
»Alles verstanden.«
»Ein Fehler, und es winkt für alle Beteiligten Gefängnis. Und der Colonel wird vermutlich unehrenhaft aus der U. S. Army entlassen, da er sich eines Dienstvergehens schuldig machte. Eines besonders schweren, weil es im sowjetischen Sektor erfolgte. Also bitte, halten Sie sich genauestens an die Verabredung.«
Ich wollte bei der Geldübergabe dabei sein, aber David verbot es mir, wir mussten jedes Aufsehen vermeiden. Doch an jenem Donnerstag war ich kurz vor elf in der Rosenthaler Straße und konnte sehen, wie der amerikanische Jeep in die Sophienstraße einbog. Tatsächlich saß Faro am Steuer des Wagens. Ich erkannte ihn nicht gleich, weil er ein Militärkäppi tief ins Gesicht gezogen hatte und eine Sonnenbrille trug. In einem Abstand von hundert Metern folgte ihnen ein Wagen der Volkspolizei, bog gleichfalls in die Sophien, stoppte kurz und fuhr dann in die Hausdurchfahrt, in der der Jeep verschwunden war. Am Abend erzählte mir David, es sei alles wie geplant verlaufen, er habe den Geldkoffer im benachbarten Haus an den Superintendenten übergeben und sei dann zu seinem Betrieb zurückgegangen, ohne dass ihn irgendwer aufgehalten habe.
»Das war eine der etwas leichteren Übungen«, meinte David und grinste.
Was für ihn die »schwereren Übungen« waren, wusste ich. David gehörte seit einigen Wochen zu einer Gruppe, die Menschen über die noch nicht verschlossenen und verrammelten Wege nach Westberlin schleuste. Ich hatte es, da wir uns nach wie vor ein Zimmer teilten, rasch herausgefunden, und er hatte es nicht bestritten, bat mich aber eindringlich, zu keinem ein Wort darüber zu sagen, auch nicht zu den Eltern. Das Schleusen werde mit mehreren Jahren Gefängnis bestraft. Als ich ihm sagte, ich würde gerne mitarbeiten und Aufträge übernehmen, schüttelte er den Kopf.
»Vergiss das, Kleiner. Es ist zu gefährlich. Und außerdem ist unsere Gruppe komplett, wir nehmen keinen mehr auf, keinen Einzigen, um nicht ein faules Ei ins Nest zu bekommen. Vergiss es. Vergiss es für alle Zeit.«
Ich vergaß es jedoch nicht. Über Lars hatte ich eine Gruppe kennengelernt, die fluchtwillige Leute aus der Provinz nach Berlin brachte und sie hier den Schleusern übergab, die von ihnen bezahlt werden mussten, und das waren, wie man mir sagte, deftige Beträge. Die Schleuser begleiteten sie unterirdisch über die Grenze, es waren vermutlich Angestellte aus dem Wasserwerk, die die unterirdischen Gänge kannten, den genauen Verlauf der gemauerten Tunnel unter der Stadt, ihre Abzweigungen und toten Winkel, und sie wussten auch, zu welchen Zeiten die einzelnen Stollen abgeschaltet wurden, damit sie gespült werden konnten.
Unsere Aufgabe war dagegen einfach und recht gefahrlos. Wir fuhren zu zweit mit einem geliehenen Auto zu Leuten, die fliehen wollten, aber befürchteten, in der Bahn mit ihrem Gepäck kontrolliert zu werden. Da sie den Staat für immer verlassen wollten, würden sie alle wichtigen Dokumente, persönlichen Papiere und die unverzichtbaren Kostbarkeiten einpacken, was bei einer Durchsuchung ihre Fluchtabsicht verraten würde.
Wir hatten genau auszurechnen, wann wir in Berlin loszufahren hatten, um zur vereinbarten Zeit und am festgelegten Platz den Schleuser zu treffen. Das musste von uns sehr genau und mit Pufferzeiten geplant werden, denn die Schleuser warteten nie länger als drei Minuten auf ihre Kunden, dann verschwanden sie in der Dunkelheit, und wir hatten die Leute in ihr Provinznest zurückzukutschieren.
Für das Einladen rechneten wir mit zwei Stunden, denn es war stets und immer das Gleiche: Alle wollten mit viel zu viel Gepäck über die Grenze. Einige glaubten sogar, dass wir ihnen den Grenzübertritt mit ein oder zwei Koffern ermöglichen könnten. Wir hatten ihnen klarzumachen, dass sie nicht in einem Reisebus in den Westen kutschiert würden, sondern gebückt durch kaum begehbare Kanäle krauchen müssten. Jeder müsse beide Hände frei haben, um sich in dem engen Gang abzustützen, und dürfe daher nur einen einzigen Rucksack als Gepäck bei sich haben, und zwar einen kleinen, denn durch den Tunnel komme man nicht mit einem größeren Rucksack.
Wenn wir ihnen das erklärt hatten, gab es häufig Tränen und Gejammer. Es dauerte, bis sie endlich nur das Allernotwendigste in einen Rucksack gepackt hatten. Für dieses Umpacken rechneten wir mit einer Stunde, nach dieser Zeit pochten wir auf die Uhr, wir durften nicht zu spät am Berliner Treffpunkt erscheinen.
Der Treff für die Übergabe war häufig die Kiefholzstraße, und dort waren es dunkle, laternenarme Abschnitte zwischen der Elsenstraße und der Wildenbruchstraße im Stadtteil Treptower Park. Die Uhrzeiten wechselten, lagen aber immer nach zweiundzwanzig Uhr. Wenn wir mit unseren Passagieren Berlin erreicht hatten, warteten wir auf einem Parkplatz in der Nähe des Ehrenmals, um dann minutengenau den vorgegebenen Platz der Übergabe zu erreichen. Nach einigen Sekunden erschien aus einer der Türöffnungen eine dunkel gekleidete Gestalt, trat an unseren Wagen und öffnete die hintere Tür. Er sagte zwei oder drei belanglose Worte, und einer von uns erwiderte daraufhin eine Antwort, die im Vorfeld als Code vereinbart worden war. Wir sagten unseren Passagieren, das Ziel sei erreicht, und forderten sie auf, auszusteigen und dem Mann zu folgen, wobei wir nicht zu ihm sahen und er nicht zu uns. Dann verschwand er mit ihnen, vermutlich führte er sie zu einem Einstieg in die Kanalisation.
Damit war unser Teil der Schleusung getan, und wir konnten nach Hause fahren. Es war nicht ungefährlich, auch nicht für uns, aber diese Aktionen bescherten uns ein Gefühl von Zufriedenheit, wir hatten uns wieder einmal gegen den Staat durchgesetzt, hatten uns gewehrt.
Meine kriminelle Phase endete plötzlich und unvorhergesehen, und sie endete vollständig und für immer am sechsundzwanzigsten September 1962.
Am vierundzwanzigsten und fünfundzwanzigsten September kam David nicht nach Hause. Sein Bett blieb unberührt, und die Eltern vermuteten, dass er bei einer Freundin übernachtete. Ich wusste es besser und ahnte Schlimmes, wollte die Eltern aber nicht beunruhigen und erzählte ihnen nichts von meinen Vermutungen.
Ich wusste, dass David am Montagabend wieder den Kurier gespielt hatte und einen Mann, der fliehen wollte, treffen sollte, um ihm Ort und Zeit zu nennen, und ich befürchtete, dass man meinen Bruder dabei geschnappt hatte.
Am Mittwoch, am sechsundzwanzigsten, war David wieder in unserer Wohnung. Den Eltern gegenüber deutete er an, tatsächlich und ganz überraschend mit einer Freundin eine kleine Urlaubsreise gemacht zu haben, da das Wetter an den beiden Tagen so angenehm war, und er entschuldigte sich bei ihnen, dass er sich nicht abgemeldet habe, aber alles sei auch für ihn selbst überraschend gekommen.
Als wir in unserem Zimmer waren, erzählte er mir, was tatsächlich vorgefallen war. Er hatte einem Lehrer die Daten für dessen Flucht zu überbringen. Der Mann wohnte in einer Wohnung im dritten Stock in der Belforter Straße.
Als er an dessen Wohnungstür klingelte, wurde die Tür aufgerissen und zwei Männer zogen David in die Wohnung. Im Wohnzimmer saß der völlig verängstigte Lehrer Brausche, den er zuvor nie gesehen hatte, und sah ihn flehentlich an. Die beiden Männer forderten David auf, seine Taschen vollständig zu leeren, und fragten ihn dann, ob er nicht noch etwas in den Taschen habe. Sie ließen sich seine Jacke geben und durchsuchten sämtliche Taschen. Dann hatte er seine Hose auszuziehen, die sie gleichfalls abtasteten und genauestens untersuchten. Schließlich wurde er aufgefordert zu erklären, wieso er zu Herrn Brausche gekommen sei.
David wusste, dass Brausche Altphilologe war und alte Sprachen unterrichtete, und da unter den Sachen, die er hatte auspacken müssen, auch das Buch Politeia dabei war, das griechische Original des Staates von Platon, erzählte er den Polizisten, er sei zu Herrn Brausche gekommen, weil er mit einigen Stellen in der Platon-Schrift Schwierigkeiten beim Übersetzen habe und von dem bekannten Griechischlehrer Hilfe erhoffe.
David sagte, er habe nichts dabeigehabt, was ihn hätte verraten können, darauf hatte er zuvor geachtet. Die Daten, die er Brausche überbringen sollte, hatte er sich eingeprägt. Die Polizisten nahmen ihn und den Lehrer trotzdem mit aufs Revier. Er kam in eine verdreckte Einzelzelle. Am ersten Tag wurde er dreimal zu einem Verhör aus der Zelle geholt und am zweiten Tag zweimal. Da sie aber nichts gegen ihn in der Hand hatten und der Lehrer Brausche sich wohl auch nicht verplappert hatte, mussten sie ihn heute wieder entlassen. Ob der Lehrer auch entlassen wurde, wisse er nicht. Er werde sich nie wieder bei ihm sehen lassen.
»Das heißt, ich bin verbrannt, Daniel, ich bin raus aus dem Geschäft. Fluchthilfe ist für mich nicht mehr drin. Sie werden mich von nun an im Auge behalten.«
»Vermutlich.«
»Ja, aber du bist auch verbrannt.«
»Was meinst du damit?«
»Halt mich nicht für blöd. Ich weiß doch, was ihr für Fahrten macht. Sie haben uns beide in Verdacht. Wenn ihr das nächste Mal mit Fahrgästen nach Berlin zurückkommt, stoppen sie euren Wagen. Und dann braucht ihr gar nichts zu erzählen, das Gepäck eurer Fahrgäste wird Bände sprechen.«
Ich atmete tief durch. Ich ahnte, dass er recht hatte.
»Ich hoffe, du hast verstanden, Daniel. Was dir anderenfalls winkt, sind drei bis vier Jahre Knast.«
Ich nickte und war entschlossen, auf ihn zu hören und die waghalsigen Fahrten nicht mehr zu unternehmen. Nie wieder.
Und es gab noch einen anderen Grund, weshalb ich meine Karriere als Gesetzesbrecher beendete.
Anfang September waren die neuen Lehrlinge in der Buchhandlung erschienen, drei Mädchen. Eine von ihnen hatte ich im August beim Sommerfest in der Klosterstraße gesehen. Sie hatte damals mehrmals zu mir geschaut, aber da immerzu Jungen um sie herumstanden, die mit ihr tanzen wollten, versuchte ich nicht, sie anzusprechen. Ich wollte mich nicht in diese Horde von Lackaffen mit ihren lächerlichen Boogie-Woogie-Frisuren einreihen, und so betrachtete ich das Mädchen nur aus der Ferne. Und nun war sie plötzlich in meiner Buchhandlung erschienen und künftig eine Kollegin von mir.
Sie begrüßte mich sehr freundlich und fragte, ob ich mich noch an sie erinnere, wir seien vor ein paar Wochen zusammen auf einem Sommerfest gewesen. Ich dachte an die Lackaffen, mit denen sie sich damals abgegeben hatte, und erwiderte, ich könne mich nicht daran erinnern.
Das Mädchen, sie hieß Christiane, erzählte mir, dass sie nach der Lehre in Babelsberg an der Filmhochschule studieren werde, weil sie Regisseurin für Dokumentarfilme werde. Sie fragte mich, ob ich auch etwas studieren werde.
»Ja«, sagte ich knapp.
»Und was wirst du studieren?«
»Muss ich sehen. Das hängt nicht allein von mir ab, denn ich weiß noch nicht, ob man mir ein Studium erlaubt.«
»Hast du was ausgefressen?«
»Irgendwer ganz oben ist offenbar dieser Meinung. Ich war in Westberlin auf dem Gymnasium, weil ich hier nicht auf die Oberschule gehen durfte.«
Dann erschien Frau Grützke und rief Christiane und die anderen beiden Neuen zu sich.
Eine Woche später, kurz vor meinem Dienstende, ging ich in den kleinen Aufenthaltsraum, in dem man essen konnte und wo ich nach wie vor frühmorgens die Abrechnung für die ganze Buchhandlung machte, um dann zwei Stunden lang Bücher zu lesen. Ich öffnete die Tür, schaute in das Zimmer und fragte: »Kommt jemand mit ins Kino?«
Nichts an meiner Frage war ungewöhnlich, bemerkenswert allerdings war, dass in dem Zimmer nur eine einzige Person saß. Und Christiane sagte sofort: »Ja, gern, ich komme mit.«
Und damit begann eine andere Geschichte.
Eine ganz andere Geschichte.
Finis