7.
Nach den Osterferien

Frau Freitag hat voll Bodyguard

Nach den langweiligen Ferien freue ich mich immer auf den ersten Schultag. Und auch diesmal muss ich sagen: Hat Spaß gemacht. Ich war gleich wieder voll drin.

»Frau Freitag, wen finden Sie besser, Mehrzad oder Menowin?«

»Ich habe keinen Bleistift mit.«

»Können wir nicht was anderes machen? Die Aufgabe ist langweilig.«

»Kann ich aufs Klo?«

Als wäre nichts gewesen. Nur war ich vielleicht etwas erholter als sonst und habe dementsprechend wenig rumgemeckert. Allerdings kam ich in der letzten Stunde schon ganz nah an meine Grenzen. Jeden Donnerstag unterrichte ich in der sechsten und siebten Stunde Kunst in einer lebhaften 7. Klasse. Die sind alle sehr süß, aber gehen mir wahnsinnig auf die Nerven. Siebte Stunde und 7. Klasse sind nicht kompatibel. Vorsorglich hatte ich mir schon Putzzeug besorgt, um am Ende der Doppelstunde einen Phasenwechsel einzubauen. Ein guter Lehrer baut viele Phasenwechsel in seinen Unterricht ein. Also erst was Mündliches, dann was Schriftliches und so weiter. Eine gute Stunde hat auch immer ein Lernziel. Lernziel heute: Tische von Frau Freitag saubermachen. Allerdings kam alles ganz anders.

Plötzlich geht die Tür auf, und Samira aus meiner Klasse kommt rein. Die 7. Klasse, die ich noch die letzten zwanzig Minuten im Zaum zu halten versuche, gibt ein grauenhaftes Bild ab: lautes Rumgekreische, Murat am Straftisch direkt neben der Tafel schaukelt mit dem Oberkörper vor und zurück und rappt dabei. Alle Mädchen stecken die Köpfe zusammen und quasseln ohne Pause. Der adipöse Dirk hat sein dickes Bein auf den Nachbarstuhl gelegt, sich zurückgelehnt und diskutiert lautstark mit der ganzen Klasse. Dschingis und Ali unterhalten sich quer durch den Raum über ihre Penisgrößen. Hassan latscht durch die Klasse und schmeißt Federtaschen runter.

Samira setzt sich neben mich ans Pult und erzählt, dass sie aus dem Chemieunterricht geflogen sei. Dann beobachtet sie stumm das bunte Treiben. Plötzlich springt sie auf und schreit: »SEID DOCH MAL LEISE! SPINNT IHR? IHR HABT UNTERRICHT. WAS SEID IHR FÜR EINE KLASSE?«

Die Schüler sind sofort mucksmäuschenstill. Dann zeigt sie auf den dicken Dirk: »Ey, du da hinten. Du denkst wohl, du wärst voll der Coole.«

Dirk: »Meinst du mich?«

»Nein, ich meine nicht dich, ich meine den hinter dir.« Hinter Dirk sitzen Anne und Emma. »Natürlich meine ich dich! Sag mal, wie benimmst du dich hier eigentlich?«

Zu mir: »Frau Freitag, ist der immer so?« Ich nicke.

Zu Dirk: »Merkst du nicht, dass du die ganze Klasse kaputtmachst? Du denkst, du wärst cool? Cool bist du, wenn du hier in der 10. Klasse den Realschulabschluss geschafft hast.«

Dann zu allen: »Ihr könnt euch doch nicht so benehmen! Denkt ihr, nur weil Frau Freitag nett ist, könnt ihr hier so einen Larry machen? Wenn man in der 7. Klasse schlecht ist, schafft man auch die andern Klassen nicht. Was wollt ihr denn mal werden? Ihr braucht doch einen Schulabschluss.« Allgemeines Schweigen.

»Sie müsste voll in unserer Klasse sein, abó«, flüstert ein Mädchen.

Dschingis sieht mein Grinsen: »Guck, wie Frau Freitag grinst. Sie hat voll Bodyguard.« Und recht hat er.

Ich lasse Samira die Klasse bis zum Klingeln in Schach halten. Inklusive: »Frau Freitag hat den Unterricht noch nicht beendet! Also setzt euch alle wieder hin!« Beim Rausgehen werfen die Siebtklässler noch einen ehrfürchtigen Blick auf Samira, die ihren Auftritt genossen hat.

Wir gehen gemeinsam die Treppe runter: »Sag mal, Samira, willst du nicht Lehrerin werden? Das hast du eben so gut gemacht.«

»Ich Lehrerin? Abó! Mit solchen Spastenkindern – niemals!«

Mehmets Zukunft

Ich hatte seit langem mal wieder meine durchgedrehte Klasse. Die Schüler arbeiten geistlos, aber sehr zufrieden vor sich hin. Ist ’ne eher manuelle Aufgabe.

Wir quatschen. Mehmet erzählt, dass er einen Brief vom Jobcenter bekommen habe. Sie wollten mal mit ihm über seine Zukunft reden. Das haben sie dann wohl auch gemacht: »Sie haben gesagt, wenn ich keine Lust mehr auf Schule hab, dann kann ich einen Ein-Euro-Job machen.« Er ist empört.

»Ah, super«, sage ich, »ich habe gerade gelesen, dass man da jetzt die Hundescheiße von den Fußwegen räumen muss. Das ist doch mal was Nützliches …« Jetzt ist der Rest der Klasse auch noch empört – so eine niedere Tätigkeit – sie doch nicht!

»Na, Mehmet, was willst du denn werden?«, frage ich.

»Mein Onkel hat Taxiunternehmen. Ich mach auch Unternehmerschein, und dann mach ich mein eigenes Taxiunternehmen auf«, antwortet er stolz.

»Ja, aber da reicht doch der Schein nicht. Da brauchst du doch auch Geld. Du musst doch die Autos kaufen«, gebe ich altklug zu bedenken.

»Geld? Kein Problem. Geld hab ich.« Mehmet grinst zweideutig. Mein Verdacht verstärkt sich, dass er nicht ganz sauber ist.

»Mehmet, du mit deinen krummen Geschäften, dich kriegen sie doch sofort. Du sitzt doch eher im Knast als im Fahrschulauto. Und überhaupt: Was willst du denn sagen, wo das ganze Geld her ist?«

»Ich sag, ich hab geerbt.« Überwältigt von seiner tollen Idee lehnt Mehmet sich zurück.

»Der Experte spricht«, kommentiert Abdul trocken.

Ich lache. »Mehmet, komm mal in der Realität an! Wenn du was erbst, ist das doch eine ganz offizielle Sache. Ist doch nicht so, dass jemand stirbt, dann wird er verscharrt, und es bleibt ein Haufen Geld übrig. Da musst du Erbschaftssteuer zahlen und so weiter.«

»Steuer?« Ein Fremdwort für meine Schüler. »Dann sage ich, ich habe das gespart.«

»Dann wollen sie dein Sparkonto sehen.« Mehmet denkt nach. Er hatte sich seine Zukunft offensichtlich nicht so kompliziert vorgestellt. Er sagt nichts mehr. Stattdessen erzählt Mariam, wie sie am Wochenende einen Hund gerettet hat. »Wir waren in einem Wald drinne …«

»›Drinne‹? ›In einem Wald drinne‹? Mariam, sprich mal ordentlich!« Ich kann ihrer verworrenen Geschichte einfach nicht folgen. Irgendwas mit einem Obdachlosen, einem Hund und der Polizei. Der Obdachlose hatte seinen Hund verloren oder der Hund den Obdachlosen, und dann kam die Polizei und hat die beiden wieder vereint. Und das alles geschah in einem Wald DRINNE.

»Bekommen Obdachlose eigentlich Hartz 4?«, fragt Abdul.

Wir unterhalten uns den Rest der Stunde über Wohnungslosigkeit, Formulare, Schulversäumnisanzeigen und ihre schulische Zukunft. Die Stunde endet wie immer, wenn wir uns gut verstehen: »Frau Freitag, können wir nicht Klassenfahrt gehen?«

»Mit euch? Wo ihr immer den Unterricht der Kollegen stört und ständig zu spät kommt?« – Meine Standardantwort.

»Aber auf Klassenfahrt kommen wir nicht zu spät. Bestimmt nicht!«

Und was waren Sie für eine Schülerin?

So, die erste Woche ist rum. Juchu! Ging schnell, war leicht, hat Spaß gemacht. Danke für meine Arbeitsstelle. Die Schüler an meiner Schule sind echt der Hit. Ich könnte mich den ganzen Tag über die bepfeifen. Ich frage mich immer, ob das an jeder Schule so ist. Sind die Schüler anderswo auch so witzig, schlagfertig, originell und noch dazu so verdammt gutaussehend? Na ja, die sehen jetzt auch nicht alle gut aus, aber die meisten holen schon ziemlich viel aus sich raus. In meiner Klasse bin ich ja die Einzige, die sich nicht so sehr um ihr Aussehen kümmert. Die anderen Mädchen – halleluja! Da gibt es den Disco-Islam – alles in pink oder türkis (man revivalt die Achtziger – auch mit Kopftuch). Samira – eindeutig Punk-Islam – immer das Kopftuch auf halb acht, die Haare hängen verschwitzt an der Seite raus. Die Klamotten cool, meistens schwarz oder grau, keine Schminke und kurze dreckige Fingernägel – genau wie ich. Meine Fingernägel sind auch Punk. Und morgens wünsche ich mir manchmal, auch einfach ein Kopftuch über die fettigen Haare zu ziehen, anstatt sie mir um 6.10 Uhr waschen zu müssen.

Gestern fragte mich Ali aus der 10. Klasse, was für ein Schüler ich früher gewesen bin.

»Wie meinst du das, Ali?«

»Na, haben Sie sich immer an alle Regeln gehalten, haben Sie auch mal geschwänzt?«

»Geschwänzt … na ja.« Ich kann ihnen ja nicht erzählen, dass ich in der Oberstufe gar nicht mehr zum Matheunterricht gegangen bin und deshalb später auch nur zwei Punkte hatte. »Na, ich habe jedenfalls nicht so bescheuert geschwänzt wie ihr. Nicht immer die gleichen Fächer und nur bei Lehrern, wo ich wusste, dass die nicht …« – Ich begebe mich auf gefährliches Terrain. »Na ja, so schlecht kann ich ja nicht gewesen sein, ich habe schließlich Abitur gemacht.«

»Aber was waren Sie für eine Schülerin? Waren Sie so strebermäßig oder waren Sie so Freak. So cool und checkermäßig?«

»Checkermäßig?«

»Na, so wie wir.«

»Ich habe jedenfalls nicht wie du die 10. Klasse zweimal wiederholt.«

Würde ich mich eigentlich heute gerne als Schülerin haben? In den Klassen, die ich unterrichte, gibt es Schüler und Schülerinnen, die so sind, wie ich als Schülerin war. Das sind die, die ich als Menschen total gut finde, die mir aber durch ihre Art fast jede Unterrichtsstunde kaputtmachen. Wahrscheinlich die späte Rache vom Pädagogikgott. Samira, Abdul, Dirk, Dschingis – alle zeigen Verhaltensweisen von Frau Freitag als Schülerin. Sogar Mehmet. Manchmal. Der große Unterschied: Keiner von denen wird je Lehrerin werden. Keiner von denen wird mit achtzehn ausziehen und eine eigene Wohnung haben. Keiner wird durch Europa trampen und fast zwanzig Jahre studieren. Leider. Das Potenzial für so eine Biografie hätten sie alle.

Blaue Briefe

Morgen erfahre ich, welche Schüler meiner Klasse stark, weniger stark oder überhaupt nicht gefährdet sind, sitzenzubleiben. Und morgen muss ich auch die Blauen Briefe schreiben. Ich weiß sogar, warum die so heißen. Weil die amtliche Post früher aus recycelten Uniformen gemacht wurde. Das hat uns jedenfalls damals unsere Klassenlehrerin erzählt. Damit kann man die Schüler kurz aufheitern, wenn es um dieses für sie schreckliche Thema geht. Für die heißt es ja weiterkommen oder klebenbleiben. Für mich ist die Frage eher wie: Wer wird Superstar, Mehrzad oder Menowin? Ich würde mich schon freuen, wenn meine Schüler möglichst geschlossen mit mir in die 10. Klasse wanderten, aber da sehe ich schwarz.

Am nächsten Tag krakele ich hektisch die Ausfälle (Note 5 und Note 6) auf die Einladungen zum Elternsprechtag. Meine Klasse malt müde irgendetwas aus. Sie malen da schon seit drei Stunden dran rum und werden einfach nicht fertig. Dauernd geht die Tür auf: »Verschlafen.« – »Bus.« – »Ich dachte, Sie wären heute nicht da.«

Ich bin hochkonzentriert. Ich will diese blöden Zettel heute fertig schreiben. Dauernd kommt ein Schüler oder eine Schülerin und setzt sich neben mich. Ich lege dann meine Hand auf die Notenliste. »Ich will doch nur meine Ausfälle sehen.« – »Ich will nur mal kurz gucken.«

»Datenschutz!«, sage ich. »Okay, dann mache ich das eben nach der Stunde.«

»Nein, nein, machen Sie jetzt. Ich geh schon.« Sie sind sehr interessiert an ihren Noten. Ist wie Schorf abpulen.

Fertig. Ich lese die Namen vor und überreiche ihnen das Unausweichliche. »Annabel, komm, hier, deine Ausfälle … Benni … Burak.«

Um jeden, der seine Einladung zum Elternsprechtag erhält, bildet sich eine Schüleransammlung. »Abó, fünf Ausfälle.« – »Tschüch, warum hab ich in Deutsch eine Fünf?«

Die Notenliste mit den umkringelten Ausfällen liegt vor mir. Ich schreibe hinter jeden Namen, wie viele Fünfen und Sechsen er oder sie hat. Samira: 5, Abdul: 6, Mehmet: 7, Christine: 1, Ronnie: 2.

Allen Schülern mit drei oder mehr Ausfällen muss ich in meiner Freistunde einen Blauen Brief schreiben. Das sind elf Schüler. Elf! Fast die Hälfte meiner Klasse ist gefährdet, sitzen-zubleiben.

»Frau Freitaaag?« Samira schleicht mit ihrer Elternsprechtagseinladung zu mir. »Frau Freitag, kann es sein, dass hier gar nicht die Physiknoten draufstehen?« Ich sehe mir die Notenliste genauer an. Mist, da sind weder die Ausfälle in Physik noch in Erdkunde und auch nicht in Sport eingetragen. Schönen Dank auch. Na, super, da werden ja jetzt noch mehr Fünfen dazukommen. Kann ich meine Klasse ja gleich ganz auflösen. Die drei Streber, die versetzt werden, die tun wir in die Parallelklassen, und mich kann man dann gleich wegen Unfähigkeit entlassen.

Nach ein paar Tagen haben wir uns alle vom Zensurenschock erholt. Die Schüler haben ihre schlechten Noten einfach vergessen, und ich habe alles erfolgreich verdrängt. Und dann scheint auch noch die Sonne und es ist Freitag. Das ändert alles. Ach, die Schüler, die sind schon süß. Wenn man nett zu denen ist, dann sind sie auch nett. Ist man sehr nett zu ihnen, dann werden sie auch sehr nett. So einfach ist das. Aber kann es wirklich so einfach sein?

»Ist so heiß hier, Frau Freitag, können wir denn nicht rausgehen?«

»Nö.«

»Aber ist doch letzter Tag vor Wochenende.«

Überall ist heute so eine Ferienstimmung – vor allem in mir. Unsere Hofaufsicht halten meine Kollegen und ich auf der Bank ab. Der ältere Kollege etwas widerwillig. Aber ich beruhige ihn: »Guck mal, ich latsche sonst auch immer rum. Aber heute können wir doch mal einfach nur hier sitzen. Wir gucken rum, und solange keiner schreit oder blutet oder irgendwas explodiert, bewegen wir uns nicht.« So sitze ich dann zwischen dem älteren und dem nicht ganz so alten Kollegen und quatsche mit ihnen über die Schüler, die vorbeilaufen: »Der ist doch auch nicht ganz schussecht, oder? Hast du den im Unterricht?«

ADHS-Dschingis kommt vorbei, grinst mich an: »Hallo, Frau Freitag!«

»Dschingis, warte mal, ich habe neulich bei einer Fortbildung deinen alten Lehrer Herrn Schmidt getroffen. Kannst du dich an den erinnern?«

Dschingis ist erst seit ein paar Wochen an unserer Schule. »Meinen Sie den Alten mit der Brille?« Ich nicke.

»Jaaa, Herr Schmidt, er ist voll Playboy.«

Playboy … Herr Schmidt steht kurz vor seiner Pensionierung. Dann klingelt es, und wir beobachten die lieben Kleinen, wie sie in ihren Unterricht strömen. Der jüngere Kollege geht, der ältere und ich bleiben sitzen. »Ich habe fertig.«

»Ich auch. Herrlich, oder?«

»Jaaa, Wochenende!«

Tausend Nutten

Frau Dienstag erzählt mir, dass sie neulich zwei Jugendliche im Bus belauscht hat. Der eine fragte: »Was würdest du machen, wenn du wüsstest, dass du nur noch ein Jahr zu leben hättest?«

»Ich würde alle Drogen ausprobieren, die es gibt, Einbrüche machen und tausend Nutten ficken. Und du?«

»Ich würde Leute töten, um mal zu sehen, wie das ist.«

»Was sagst du denn dazu?«, fragt mich Frau Dienstag.

»Na, ich würde sagen, dass die dann wahrscheinlich ihr letztes Jahr im Gefängnis verbringen. Und dass man ihre Eltern anrufen und ihnen sagen sollte, dass sie ihre Idiotensöhne auf keinen Fall von deren todbringender Diagnose unterrichten sollen.«

Aber was würde man wohl machen, wenn man nur noch ein Jahr hätte? Leute töten – tzzz. Ich glaube, ich könnte ganz gut ohne diese Erfahrung sterben. Tausend Nutten ficken – na ja, bräuchte ich wahrscheinlich auch nicht. Würde ich noch weiter zur Arbeit gehen? Wahrscheinlich. Lange Projekte gäbe es aber nicht mehr. Zu intensive Vorbereitung – lohnt sich dann auch nicht mehr. Ich frage den Freund, was er machen würde. Seine Antwort: »Gar nichts.«

»Gar nichts?«

»Ja, gar nichts, das ist doch der größte Luxus.«

Gar nichts … Luxus? Gar nichts – das alleine wäre ja schon mein Tod. Das kann ich doch auch in den Ferien haben. Davor graust es mir doch immer. Bei so morbiden Gedanken kommt man immer wieder zu dem gleichen Schluss: Man sollte das Leben einfach mehr genießen. Jeden Tag und jede Minute. Alles intensiv erleben und auskosten. Vielleicht auch nicht jeden Abend auf der Couch abgammeln. Und heute ist doch die beste Gelegenheit. Heute ist Montag, der 1. Mai.

Fräulein Krise sagt: »Grauenhaft, dass ist ja wie zwei Sonntage.« Ich sage: »Super, ich muss was erleben, ich werde mir gleich mal eine schöne Nazidemo raussuchen.«

John Lennon ist Klassensprecher

Ich möchte den Sänger der Easybeats in meiner Klasse haben. Der soll direkt vor meiner Nase sitzen und grinsen. Lernen bräuchte der nicht. Ab und zu tanzen würde reichen. Neben ihm sitzt der Folk-Sänger Tim Hardin. Chronisch traurig, weil er ständig Liebeskummer hat. Schon in der 9. Klasse schreibt er: »How can we hang on to a dream?« Das Lied schreibt er für die schwedische Austauschschülerin Agnetha, in die er seit fast einem Jahr verliebt ist, die aber nichts von ihm wissen will. Ich mag Tim, obwohl ihn die anderen immer ärgern. Er ist sehr introvertiert, aber nett.

Direkt hinter ihm sitzen Iggy Pop und David Bowie. Iggy tritt von hinten immer gegen Tims Stuhl. Überhaupt stört Iggy oft den Unterricht – schweres ADHS. David B. macht manchmal mit, aber meistens stachelt er Iggy nur zum Stören an, lacht über seine Späße und hält sich sonst zurück. David ist ein wenig hinterhältig und ein Zensurenschleimer.

Hinter Iggy und David sitzen Lady Gaga und Madonna. Beide passen überhaupt nicht auf. Sie schminken sich die ganze Zeit, quatschen oder schreiben Briefchen. Lady Gaga ist in Iggy verliebt. Der ist aber noch zu kindisch, um das zu merken.

Ganz hinten in der Ecke sitzt Eminem. An den komme ich überhaupt nicht ran. Der hat immer nur seine Kopfhörer im Ohr und kritzelt wirre Texte auf die Rückseiten seiner Arbeitsblätter. Nie beteiligt er sich am Unterricht. Die anderen halten sich von ihm fern. Er lächelt nie.

Klassenbester und Klassensprecher ist John Lennon. Er will aber leider ständig diskutieren. Das stresst. Das gute Klassengefüge wird durch Yoko Ono, die neu in die Klasse kommt, ganz schön durcheinandergebracht. Keiner aus der Klasse mag sie. Sie ist arrogant und stresst mich ebenfalls sehr. Wegen seines ausgeprägten Helfersyndroms nimmt sich John ihrer an, und die beiden bilden ein nerviges Können-wir-das-nicht-noch-mal-diskutieren-Duo.

Die Klasse ist anstrengend. Alle Schülervariationen sind vertreten. Interesse am Unterricht haben die wenigsten. Brian Wilson ist total depressiv, und ich halte ständigen Kontakt zum Jugendamt und zu den Eltern. Eine sehr bürokratische Nerverei. Gerne würde ich ihm sagen: »Nun nimm dich mal nicht ganz so ernst.« Kurt Cobain trägt das ganze Jahr den gleichen grünen Pulli und müffelt. Die Mädchen stehen trotzdem auf ihn. Ich begreife das nicht. Prince wird dauernd an den Kartenständer gehängt und in den Schrank gesperrt. Dann bekommt er immer anstrengende Tobsuchtsanfälle.

Die Kollegen gehen nicht gerne in meine Klasse. Ich mag meine Klasse eigentlich, bin aber oft mit den Nerven runter und ständig müde. »Was soll denn aus denen werden?«, fragt mich die Deutschlehrerin. »Aus deiner Klasse wird keiner auch nur den Hauptschulabschluss machen. John vielleicht, wenn er sich anstrengen würde, aber der fängt ja jetzt auch schon an zu schwänzen. Und Lady Gaga und Madonna, wenn die mal noch Friseusen werden.«

Ich sage: »Stimmt, die machen nicht gut mit im Unterricht, aber irgendwie glaube ich schon, dass aus denen noch was wird. Die haben nur andere Interessen. Hast du mal gesehen, wie toll Tupac tanzt? Und der kann sogar freestylen, das ist gar nicht so leicht.«

»Ach, hör mir auf mit diesem Tupac, ich will unbedingt Frau Shakur beim nächsten Elternsprechtag sehen.«

Alle meckern über meine Schüler, aber ich glaube trotzdem, dass aus denen noch was wird. Auch ohne Abschluss.

Heute saßen weder Iggy Pop noch Kurt Cobain und nicht mal Lady Gaga in meinem Unterricht. Nur die üblichen Verdächtigen. Yusuf aus der Achten wieder direkt vor mir, laut rappend.

»Sch!« Er reagiert nicht. »Yusuf, bitte nicht rappen.« Nach ein paar Minuten Stille rappt er weiter.

»Yusuf! NICHT RAPPEN!«

»Ich rappe nicht. Machmuts Oma rappt.« Auf Machmut wird immer rumgehackt. »Machmuts Oma rappt mit DJ Azab.«

»Seine Oma rappt mit deinem Opa«, flüstere ich kraftlos vor mich hin. Ich bringe keine pädagogische Moralpredigt mehr zustande.

»Mein Opa? Mein Opa befriedigt seine Oma«, antwortet Yusuf.

Jetzt reicht es. Ich gebe ihm meinen strengsten Blick. Nonverbal muss auch mal gehen.

Er wird unsicher. »Ich meine, also, ›befriedigen‹ kann doch auch was anderes heißen. Also, das kann doch heißen, dass er sie mentalisch befriedigt, indem er sie ermutigt, dass sie so gut rappt.«

»Mentalisch befriedigt? Na ja, wenn du meinst.« Er beugt sich über sein Blatt und arbeitet den Rest der Stunde ruhig vor sich hin, ohne zu rappen. Ich zähle die Minuten bis zum Klingeln.

Sosehr ich den Kunstunterricht liebe, weil man da immer über alles Mögliche mit den Schülern quatschen kann, so sehr genieße ich auch den Englischunterricht, weil man eben nicht ständig über alles Mögliche quatscht.

Empfehlenswert für eine gut funktionierende Englischstunde sind Hörverstehensaufgaben. Kopien ziehen, CD ausprobieren, hinsetzen, auf die Schüler warten, fertig ist die Unterrichtsvorbereitung.

Am Stundenbeginn fängt man damit an, dass man die folgenden 45 Minuten als weltveränderndes Lernerlebnis verkauft. Jeder soll alleine an einem Tisch sitzen. »Verhaltet euch mal so, als wäre das jetzt eure Abitursprüfung oder euer Staatsexamen. Alles vom Tisch, Stift raus und gut zuhören.«

Dann setzt man sich hin, lauscht der CD und malt mit den Schülern gemeinsam die Kreuzchen in die Multiple-Choice-Aufgaben. Oben aufs Blatt schreibe ich LÖSUNG und fertig ist der Kontrollbogen. Da die Schüler zuhören müssen, ist es total still im Raum und man hört nur das Gelaber von der CD.

Bei der letzten Aufgabe spricht ein irisches Mädchen. Die Stimme ist quakig und bricht ständig weg. Den Schülern scheint das gar nicht aufzufallen. Ich muss innerlich grinsen. Wie redet die denn? Reden die in Irland alle so? Merken die Schüler das gar nicht? Ich gucke hoch, alle sitzen total konzentriert über ihren Arbeitsblättern, lauschen und kreuzen an. Warum lacht keiner über diese Stimme? Die ist doch total komisch.

Ich möchte die Stimme nachmachen. Wäre bestimmt ein Brüller. Aber dann kommen die Schüler aus dem Takt. Die wollen doch die Aufgabe erledigen, und wenn alle lachen, dann können sie bestimmt ein oder zwei Kreuzchen nicht machen. Ich unterdrücke den Impuls. Fällt mir echt schwer. Manchmal wäre ich wirklich lieber Schülerin, ich hätte so eine geile Parodie dieser Irin abgeliefert, meine Mitschüler hätten am Boden gelegen.

Was Trümmerfrauen?

Heute, in der einzigen Stunde, in der meine Schüler etwas bei mir gelernt haben, kam eine interessante Diskussion auf. Vorweg: Abgesehen von den Hörverstehensstunden finden die wenigen wirklich wirkungsvollen Stunden in Kunst statt. Denn wenn sie so friedlich vor sich hin pinseln, kommen die Schüler immer mit Themen, die sie interessieren. Dann wird diskutiert, erklärt und wahrscheinlich auch gelernt.

Heute wurde es mal wieder politisch. Einen Schüler hatte ich gerade zum Kanzler von Deutschland ernannt: »Also, Ufuk, du sagst also, dass dein Freund ausziehen durfte, obwohl er noch nicht fünfundzwanzig ist, und alles wird vom Staat bezahlt. Also, sagen wir mal, du bist jetzt Kanzler und die Steuereinnahmen sind mies. Also, mies wenig. Finanzkrise und so. Wo würdest du denn sparen?«

Wir diskutieren ein wenig rum, Ufuk macht den Vorschlag, die Insassen von Gefängnissen für lau alles Mögliche arbeiten zu lassen. Ich schlage vor, dass sie ihren Haftaufenthalt in Rechnung gestellt bekommen. Schnell sind wir wieder bei den Pokerräubern. Davon können meine Schüler und auch die von Fräulein Krise gar nicht genug bekommen. Ähnlich wie ich mich an den schlechten Stunden von Referendaren erfreue, macht es ihnen Spaß zu hören, dass sich jemand noch viel bekloppter angestellt hat als sie.

Plötzlich fragt Erol von hinten: »Frau Freitag, warum sagen die Deutschen denn immer, dass die Ausländer ihnen die Arbeit wegnehmen?«

»Sagt das denn noch jemand? Das ist doch ein uralter Spruch.« Und außerdem haben nur die wenigsten Eltern meiner »ausländischen« Schüler einen Job, also dachte ich, dieses Vorurteil wäre vom Tisch. Erol findet die Aussage extrem undankbar: »Schließlich wäre Deutschland ja jetzt immer noch kaputt ohne die Ausländer.«

Ich frage: »Wie, kaputt?«

»Na, durch Hitler und den Krieg war doch Deutschland zerstört, und dann kamen die Ausländer und haben alles wieder aufgebaut.«

Häää, die Ausländer? Meint der die sogenannten Gastarbeiter, die Mitte und Ende der 60er Jahre kamen?

»Wieso Ausländer? Deutschland wurde doch nach dem Krieg nicht von den Ausländern aufgebaut.«

»Doch, doch!« Jetzt mischen sich auch noch andere ein.

Ich bin verwirrt. »Nein! Stopp, ihr verwechselt da was. Das war anders. Mert, jetzt sag doch auch mal was.« Ich wende mich an den einzigen Gymnasialempfohlenen in der Gruppe.

»Na ja, da waren die Trümmerfrauen.« Ja, denke ich, die Trümmerfrauen! Endlich. Aber von denen hat noch nie jemand gehört. »Häh, Trümmerfrauen?« – »Was Trümmerfrauen?« Aus langjähriger Erfahrung an meiner Schule weiß ich aber, dass die Tatsache, dass selbst dann, wenn die gesamte Gruppe von irgendwas noch niemals gehört hat, es nicht automatisch bedeutet, dass diese Sache nicht existiert.

»Mert, komm, die Fakten bitte! Wann kamen die ersten Gastarbeiter nach Deutschland?« Jetzt höre ich Jahreszahlen, »Italiener«, »Vollbeschäftigung«, »Fabrikarbeit« und beruhige mich wieder etwas. Allerdings guckt Erol immer noch skeptisch, er scheint noch nicht völlig überzeugt zu sein.

Es klingelt. Ich renne entsetzt ins Lehrerzimmer, suche Erols Geschichtslehrer und berichte allen Kollegen von Erols persönlicher Geschichtsinterpretation. »Das geht doch nicht. Ich bin zwar kein Historiker, aber man kann sich die Geschichte doch nicht so hinbasteln, wie man will. Die können doch nicht einfach so was behaupten, nur weil sie das gerne hätten. Die Türken haben auch nicht Amerika entdeckt. Den Kaffee haben sie nach Wien gebracht und natürlich stammt auch der heilige Nikolaus aus der Türkei – aber die können doch nicht den Trümmerfrauen so in den Rücken fallen.«

»Wieso?«, fragt ein Kollege. »Lass sie das doch glauben. Hitler hat doch auch die Mauer gebaut.«

Die Rache der frühen Geburt

»Das verstehen Sie nicht, das ist was mit Telefon«, sagt Harun.

»Telefon. Aha, das verstehe ich nicht, ja? Ich habe schon telefoniert, da warst du noch gar nicht geboren«, antworte ich gekränkt.

»Ich bin erster als Sie geboren!«, ruft Ömer aus der letzten Bank zu mir nach vorne.

»Ach, meinst du, du bist älter als ich? Danke für das Kompliment, aber dann frag dich mal, warum du da hinten sitzt, und ich hier vorne stehe.«

Schüler denken immer, man hätte von nichts eine Ahnung. Der Mathelehrer interessiert sich NUR für Mathe, und ich habe auch gar keine Ahnung von irgendetwas anderem als von dem, was ich ihnen da täglich präsentiere?

In gewisser Weise haben sie ja recht. Aber sie unterschätzen meine exzessive Persönlichkeitsstruktur. Wenn ich mich für World of Warcraft interessieren WÜRDE, wäre ich nach ein paar Tagen total süchtig und dann auch irgendwann sehr gut darin. Wäre Breakdance in meiner Jugend nicht so dermaßen uncool gewesen, ich würde heute noch den Original Old School Headspin beherrschen. Und nur weil ich kein Handy besitze (brauche ich nicht, bin ja entweder in der Schule oder zu Hause), heißt das nicht, dass ich, wenn ich eines hätte, mich nicht damit auskennen würde. Außerdem hätte ich natürlich das neuste iPhone, und das hätte ich mir in einem Laden gekauft und nicht irgendjemandem weggenommen oder gebraucht von einem Kuseng bekommen.

Lehrer sind ja nicht automatisch alt und oll und interessieren sich für nix. Wenn ich singen könnte, würde ich mich jedes Jahr bei Popstars bewerben.

Ihr lieben Schüler, seid mal nicht so arrogant und traut uns mal mehr zu, als Fehlzettel oder Tadel zu schreiben. Ja, wir hören auch Musik. Nein, nicht nur Klassik oder Jazz. Wir kennen H&M, auch wenn wir da nicht einkaufen müssen, weil wir uns auch T-Shirts für 25 Euro leisten KÖNNEN. By the way, nur die halten den Stressschweiß aus, den wir während des Unterrichtens produzieren.

Und, ihr lieben Kleinen, es gab auch früher schon coole Sachen. Stellt euch das mal vor. Tolle Musik, abgefahrene Modetrends, Tanzstile, die schwer zu erlernen sind – das gab es alles, obwohl IHR noch nicht geboren wart. Die Welt fing nicht mit eurer Geburt an – eure schon, aber meine nicht und die von ganz, ganz vielen anderen auch nicht. Und sogar vor meiner Geburt gab es schon Leute, die cool waren. Ihr habt die Coolness nicht erfunden. Und jetzt muss ich euch noch was ganz Trauriges sagen: Es gab sogar schon Hip-Hop, bevor ihr überhaupt geplant wart.

Chillen Sie mal!

Ja, Ritalin, das möchte ich auch. Bin ich doch zurzeit recht gestresst von mir selbst. Ich rauche wie in einem 50er-Jahre-Film, aber irgendwie entspannt mich das nicht. Der Kaffee verfehlt bei mir seine beruhigende Wirkung. Selbst wenn ich vier Tassen am Tag trinke, bin ich noch aufgedreht. Ritalin könnte mir wirklich helfen. Abends bin ich von mir und dem Tag so fertig, dass ich wie eine Tote in Sekunden einschlafe.

Frau Dienstag sagt: »Na, lass uns mal nur zweimal in der Woche treffen, du bist so anstrengend.« Dabei wäre sie selbst ein Großabnehmer für jede Art von Beruhigungsmitteln. Beim Sport zappelt sie schon rum, bevor die Musik überhaupt angeht. Unter der Dusche ist sie so hektisch, dass ihr immer alles runterfällt und andere duschende Frauen genervt und ungewaschen aus dem Waschraum flüchten. Aber ich soll anstrengend sein.

Fräulein Krise dagegen erträgt meine Stresserei mit einer bewundernswert stoischen inneren Ruhe. Sie ist wie Buddha. So will ich auch sein. Zu ihr sagt bestimmt kein Schüler: »Chillen Sie mal!«

Ich bringe so eine Hektik ins Lehrerzimmer, dass ich mich wundere, dass sich da überhaupt noch jemand entspannen kann. Vielleicht sollte ich mich wie mein Kollege in den Pausen in meinen Raum einschließen und mich auf die Tische legen. Aber da käme ich mir auch komisch bei vor. Einfach so rumliegen ist ja auch langweilig. Da ziehe ich doch die schnelle Einnahme von beruhigenden Mitteln vor. Kann jemand Ritalin besorgen? Oder ist das am Ende schon das Klimakterium?

Mit Schrecken habe ich festgestellt, dass wir auch noch einen Wandertag haben. Fräulein Krise hatte eine tolle Idee für ihren letzten Tag außer Haus. Sie ist mit ihrer garstigen Klasse zu einem Flughafen gewandert und hat sich mit den Schülern ganz nah ans Rollfeld gestellt. Dorthin, wo die Flugzeuge landen. Dann mussten die Schüler den Krach aushalten. Nett. Machen die bestimmt nicht in ihrer Freizeit, und daran werden sie sich noch lange erinnern. Überhaupt sind doch die Wandertage und die Klassenfahrten – wenn man das Glück hat, eine zu machen – die einzigen Ereignisse, an die sich die Schüler später noch erinnern werden.

In meiner Klasse heißt es immer: »Voll schööön, voll gemütlich – picknicken, grillen, frühstücken.« Meine Schüler wollen es sich immer gemütlich machen. An Wandertagen oder am letzten Schultag habe ich ja auch nichts dagegen, aber im Unterricht kann ich auf ihre gemütliche Lass-ma-chill’n-Art echt verzichten.

Muttertränen

Abduls Mutter kam heute mal wieder zum Gespräch. Die Tanten-Cousine-Übersetzerin war auch wieder dabei. Als ich die beiden sah, freute ich mich richtig, als würde ich alte Freundinnen treffen.

Abduls Noten sind sehr schlecht. Alle sind sehr überrascht. Vor allem Abdul: »Äh, in Bio eine Fünf und in Musik auch?«

Zur Unterstützung habe ich Frau Schwalle mitgenommen. Sie legt gleich los: »Ich glaube, mit dem Jungen stimmt was nicht, den müssen Sie mal testen lassen.«

Ich zische ihr zu, dass sie ein wenig runterfahren soll, denn die beiden Frauen sind sichtlich geschockt. Abdul ist meiner Meinung nach völlig intakt, nur leider stinkend faul. Nun bekommt er die Quittung dafür. Dachte er, er kommt damit durch? Dachte er, wir versetzen ihn einfach so, ohne dass er sich auch nur ein Mü (das ist doch so eine Minimaßeinheit) anstrengen muss?

Bisher hat Abdul noch immer alles wieder hingebogen. Kurz vor der Zensurenabgabe hat er sich in diversen Fächern um eine, manchmal sogar um zwei Noten verbessert. Und ich bin mir sicher, er wird es auch diesmal schaffen. Aber ganz sicher ohne seinen Computer. Der wird jetzt wieder mal konfisziert.

Mitten im Gespräch – die Physiklehrerin Frau Schwalle verschießt gerade ihr stärkstes Pulver – sehe ich plötzlich Tränen über das Gesicht von Abduls Mutter laufen. Mir wird ganz anders. Jetzt weint sie wieder. Sie soll nicht weinen. Ich will, dass Frau Schwalle aufhört. Ich will Abduls Mama sagen: »Der geht schon in Ordnung. Der ist so nett und so lustig und bei allen so beliebt, ich lasse den nicht sitzen. Ich will den auch nächstes Jahr in meiner Klasse haben. Ich brauche den doch auf der Abschlussparty, für die Stimmung und zum Tanzen. Machen Sie sich keine Sorgen, wir kriegen das schon hin. Bitte hören Sie auf zu weinen, sonst fange ich auch noch an.«

Aber ich sage nichts, versuche sie anzulächeln und streichele ihr unauffällig den Arm. Irgendwann ziehen sie ab. Ein sehr verwirrter Abdul trottet hinter seiner verheulten Mutter und der sauren Tanten-Cousine her.

Manchmal ist das Lehrerdasein echt nicht leicht. Ich wäre heute lieber der Überbringer guter Nachrichten gewesen: »Sie haben die sechs Richtigen getippt! Und du bist im Bandhaus!«

Am Schüler riechen

Unterricht, 8. Klasse. Es klingelt, ein paar Streber sind schon im Raum. Ich beginne mit der Stunde. In regelmäßigen Abständen geht die Tür auf. Mal leise, mal wird sie aufgerissen und einzelne Schüler oder ganze Schülergruppen stürzen herein. »Ich war Klo.« – »Cafeteria.« – »Musste was klären.« – »Hat es schon geklingelt?« – »Hat noch nicht geklingelt.« Ich notiere jede einzelne Verspätung.

Nach einer Viertelstunde sind fast alle Schüler der Klasse da. Nur Yusuf und Mohamad fehlen. Aber das stört mich nicht weiter, denn ich erhoffe mir von ihrer Abwesenheit eine Stunde ohne lästiges Gerappe und Vogelstimmenimitationen.

Nach 25 Minuten geht jedoch leise die Tür auf und die beiden schleichen rein, wollen sich unauffällig auf ihre Plätze verkrümeln. Nicht mit Frau Freitag: »Stopp mal! Wo kommt ihr denn jetzt her?«, frage ich streng und stelle mich ihnen in den Weg.

Mohamad: »Ich hatte was am Bein.«

»Ja was denn? Einen Fuß oder was?«

»Nein, mein Bein hat wehgetan, und Yusuf hat mir geholfen.« Sie machen beide ein Gesicht, als hätten sie sich mit letzter Kraft in meinen Unterricht geschleppt, obwohl ein schneller Tod auf der Treppe ihr eigentliches Schicksal gewesen wäre. Yusuf guckt mich entrüstet an: »Ist doch nett von mir, dass ich ihm geholfen habe.«

»Ja, wie hast du ihm denn geholfen? Wart ihr im Sekretariat?«

Beide: »Nö.«

Jetzt steigt mir ein wohlbekannter Geruch in die Nase. Ich stehe dicht neben Mohamad und rieche Zigarettenrauch. Ich halte meine Nase an seinen Kopf, kann aber nicht eindeutig sagen, ob es Rauch oder nur Kopfhautfett ist. Deshalb nehme ich kurz entschlossen seine rechte Hand und rieche daran. Eindeutig frischer Rauch!

»Was machen Sie da?«, ruft Yusuf empört.

»Du hast geraucht!«, stelle ich fest und gucke Mohamad böse an.

Jetzt baut sich Yusuf vor mir auf: »Sie dürfen nicht Schüler anfassen und an ihnen riechen!«

»Wieso darf ich das nicht? Ist er aus heiligem Material, oder was? Geht er kaputt, wenn ich ihn anfasse, oder wie?« Aber Yusuf scheint sich gut auszukennen: »Das ist Belästigung!«

Jetzt hört sich ja wohl alles auf, denke ich und mache ein entsprechendes Gesicht: »Jetzt pass mal auf, Yusuf, erzähl hier nicht solchen Mist. Belästigung! Krieg dich wieder ein! Und jetzt setzt euch hin, ich spreche nachher mit eurem Klassenlehrer!«

Damit hat sich für mich der Fall erledigt, und ich lasse sie nach hinten schlurfen.

Warst du nicht eben noch Emo?

Jeden Morgen zähle ich im Bus die verbleibenden Schultage. Und es sind nicht mehr viele. Wirklich nicht. Da fällt noch so viel weg. Wandertag, Sportfest, mündliche Prüfungen, Zeugnisübergabe – man muss gar nicht mehr krank werden, das halten wir jetzt noch durch. Und dann kommen die Sommerferien. Vorher noch die Abschlussfeier mit Hochsteckfrisur und Getanze. Leider habe ich es wieder nicht geschafft, mir ein paar coole Breakdance-Moves beibringen zu lassen. Muss ich also wieder durch den Pädagogentanz beeindrucken – da rudert man mit den Armen durch die Gegend, die Hände zu Fäusten verkrampft. Sieht nicht cool aus. Sieht aus wie: Guck mal, die Lehrerin tanzt auch. Egal, Hauptsache, die Hochsteckfrisur fetzt.

Ich habe gerade noch mal nachgezählt: Bis zur Zeugnisausgabe sind es wirklich nur noch dreißig Tage, ungefähr. Und bis zur Zensurenabgabe nur drei oder vier Wochen. Dann endet jede letzte Chance. Rien ne va plus. Die Schüler sehen das irgendwie anders. Für die scheinen drei Wochen eine halbe Ewigkeit zu sein, und ich bin mir sicher, die denken, sie könnten ihre sieben Ausfälle noch problemlos wegbekommen.

Na ja, für mich sind drei Wochen wie ein Wimpernschlag. War was? Ach, drei Wochen sind rum. Wahrscheinlich liegt das daran, dass bei mir viel weniger passiert als bei meinen Schülern. Die können sich innerhalb von drei Wochen völlig neu erfinden: »Warst du nicht Emo?« – »Frau Freitag, das ist doch schon eeewig her. Ich bin doch schon laaange B-Boy.« Lange – drei Wochen eben. (Emos sind so traurige Gestalten, die viel schwarz tragen. B-Boys sind die in den weiten Hosen, die Hip-Hop hören.)

Ich war vor drei Wochen Lehrerin, bin es immer noch und werde es wohl auch in den nächsten drei Wochen noch sein. Bei mir ändert sich wenig. Die Haare werden grauer, die Hosen enger und ab und zu geht das Telefon kaputt. Aber sonst … Stört mich das? Will ich noch mal Teenager sein? Auf keinsten! Mit den Eltern zusammenwohnen? Was für ein skurriles Konzept. Ständig Stress mit den besten Freundinnen? Jungs gut finden, die einen nicht beachten? In der Schule nichts von Mathe verstehen? Überhaupt immer zur Schule gehen und auf der falschen Seite sitzen? Lernen statt vor- und nachbereiten? Nö! Keinen Bock. Vielen Dank, aber ich passe. Ha, und überhaupt – zur Schule gehen, ohne dafür auch nur einen Cent zu bekommen: Wer will denn so was?

Ich verstehe gar nicht, warum die Schüler so gerne jung sind. Warum tun die nicht alles dafür, endlich alt und erwachsen zu sein. Merken die denn nicht, dass Erwachsene es viel besser haben? Okay, gebt mir die Teenagerfähigkeit, Breakdance zu können, aber ansonsten lasst mich mal schön in Ruhe älter werden.

Was Hallo?

Viele Lehrer auf einem Haufen bedeuten selten etwas Gutes. Erster Gedanke: Lehrerzimmer. Aber Lehrer treffen sich auch privat. Gestern wimmelte es nur so von Lehrern in meiner Wohnung. Alle haben schlechte Augen. Keiner hört dem anderen zu. Jeder ist es gewohnt, Chef zu sein. Alle wissen immer alles besser und alle sind viel zu laut. Ich liebe es. Ich finde, die Welt könnte nur aus Lehrern bestehen.

Wir sitzen und reden und reden und essen und reden und reden und reden. Ich erzähle, dass ich mir die Telefonnummer von Fräulein Krise nicht merken kann. Ich denke immer, die ist 809 90 54 44, aber eigentlich ist die 80 90 54 44. Ich kann mir das einfach nicht merken, aber ich habe die richtige Nummer irgendwo aufgeschrieben.

»Jedenfalls, immer wenn ich sie anrufe und die falsche Nummer wähle, dann ist am anderen Ende erst mal Stille, und ich sage vorsichtig: ›Hallo?‹ – und dann schreit so ein total unfreundlicher Typ in den Hörer: ›WAS HALLO?‹« Fräulein Krise kichert. Sie kennt dieses Phänomen schon.

»Der ist so krass, so gemein, und ich hab voll Angst vor dem. Wenn ich dann frage: ›Ist da bei Krise?‹, dann sagt er nichts, wartet einfach nur ab und brüllt irgendwann: ›WAS JETZT?‹«

Fräulein Krise grinst übers ganze Gesicht. Ich erzähle von meiner Vermutung, dass sie sich in ihrer Wohnung einen fiesen Typen hält, den sie ab und zu ans Telefon gehen lässt.

»Ich bin immer total geschockt, wenn ich mit dem Typen gesprochen habe, die richtige Nummer raussuche und dieses typisch süße, niedliche ›Kriiise!‹ ertönt. Aber dann hat sie so einen ominösen Unterton in der Stimme und ich bin mir gar nicht sicher, dass dieser Typ nicht direkt neben ihr steht.«

Der Physiklehrer holt sein Handy raus: »Also, wie ist die Nummer? Komm, wir rufen da mal an!«

»Nein, lass mal.« Leichte Panik steigt in mir auf. »Wenn der jetzt rausfindet, welche Nummer …«

»Unterdrücke ich. Also, sag mal die Nummer.« Er wählt und stellt auf Lautsprecher. Wir beugen uns alle über sein Telefon und warten gespannt. Ich habe Angst und flüstere: »Aber sag nicht, dass ich auch hier bin.«

Tuut, tuut, tuut – niemand nimmt ab. Ich bin erleichtert. »Schade«, sagt Frau Dienstag. Aber ich bin mir sicher, sie würde sich alleine nie trauen, die Nummer anzurufen. Leicht ratlos sitzen wir in der Küche. Der Physiklehrer hält immer noch sein Handy in der Hand.

Plötzlich habe ich eine super Idee: »Lass mal Schüler anrufen!« Alle sind total begeistert. Es ist zwei Uhr nachts. Der Deutschlehrer fragt: »Aber wen? Wessen Schüler?«

Außer mir hat ja niemand die Nummern seiner Schüler dabei, ich trage die auch nicht dauernd mit mir rum, aber wir sind ja in meiner Wohnung.

Plötzlich ruft Fräulein Krise triumphierend: »Wir rufen Hassan an! Die Nummer kenne ich auswendig. Ich telefoniere täg lich mit seiner Mutter.«

Gesagt, getan. Zehn Lehrerköpfe beugen sich über das Handy. Es tutet. Nach 20 Sekunden nimmt jemand ab. Eine müde Stimme sagt: »Ja?«

Und plötzlich schreit Fräulein Krise los: »Arschlochkind! Arschlochkind! Arschlochkind!«

Mieser Absturz

Schüler kennen nur Picasso. Und wenn sie nicht Picasso werden können, dann lohnt sich das mit dem Künstlerleben auch nicht.

»Man kriegt doch kein Geld von Luft«, sagt Erol.

»Künstler sein ist doch auch scheiße, oder Frau Freitag?«

»Keine Ahnung, ich bin ja nicht Künstler, ich bin ja Kunstlehrerin. Aber wieso soll das scheiße sein?«

»Weil, irgendwann hat man keine Ideen mehr.«

»Wieso sollte man denn keine Ideen mehr haben?«

»Na, wenn man alles schon gemacht hat.« Für meine Schüler würde dieser Zustand ziemlich schnell kommen, sitzen sie doch täglich ideenlos in meinem Unterricht. Und wenn sie mal eine Idee hatten, dann kann es Jahre dauern, bis da wieder eine nachwächst.

Erol lässt das Thema keine Ruhe: »Oder man hat miese Absturz.«

Komische Idee haben die vom Künstlerleben.

Ömer sagt: »Ich muss mich nicht bewerben, ich kann bei mein Onkel oder mein Vater arbeiten.« Wir diskutieren die Vor-und Nachteile von: Dein Vater ist nicht nur dein Vater, sondern auch dein Chef. Ich ziehe die Ehrenkarte: »Also, ich fänd es furchtbar, wenn der Schulleiter mein Vater wäre.«

Ömer: »Wieso, dann haben Sie immer viele Freistunden.«

»Aber das ist doch total peinlich, wenn mein Vater auch mein Chef ist«, gebe ich zu bedenken. »Dann hätte ich doch immer das Gefühl, dass ich gar nichts alleine auf die Reihe gekriegt habe.«

Ömer denkt kurz nach und sagt unvermittelt: »Ich verdiene mehr als Sie.«

»Wieso, wie viel verdienst du denn?«

»Na, alles, was mein Vater verdient.«

»Wieso, Ömer, bist du denn dein eigener Vater?« Ich verstehe schon, was er meint, aber langsam wird mir diese Angeberei zu blöde: »Ist doch voll peinlich, wenn du dein Leben lang deinen Vater nach Geld fragen musst.«

Ömer schmollt ein wenig: »Nö. Wieso?«

»Ach, Ömer, mal dein Bild zu Ende und werde mal erwachsen.«

Perfekter Unterricht

Der Stundenplangott meinte es dieses Schuljahr gut mit mir. Meine Montage sind die Hölle, aber von Dienstag bis Freitag ist alles schön. Gestern hatte ich herrliche Stunden. Nachdem ich ausgeschlafen in die Schule tanzte, erwarteten mich eine Handvoll halb erwachsene Schüler, die bereitwillig meine lahme Aufgabe bearbeiteten: Beschreibt und vergleicht diese Bilder. Sie sitzen stumm da und schreiben, während ich organisatorischen Bürokram – Listen, Zettel, Formulare – erledige. Diese Art von Unterricht ist überhaupt nicht anstrengend und kommt dem Lehrersein an Gymnasiumschulen wahrscheinlich recht nahe. Das kann ich aber auch nur vermuten – ich war selbst auf einer Gesamtschule und kenne nicht einen Gymnasiallehrer. Wenn niemand in einer Lerngruppe motiviert oder zur Ruhe angehalten werden muss, dann fühle ich mich immer wie Felix Krull – inklusive schlechtem Gewissen, dass ich für dieses Eierschaukeln auch noch Geld bekomme.

Jedenfalls ist alles tutti. Ich labe mich am Zustand extremer Zufriedenheit und bin so glücklich, dass ich kurz davor bin, meinen Körper zu verlassen, da höre ich auf dem Gang ein tumultartiges Durcheinander, jemand schreit und immer wieder erklingt mein Name. Plötzlich geht die Tür auf und der Kollege von nebenan kommt rein: »Frau Freitag, in meinem Raum wurde mit Reizgas gesprüht, jetzt können wir da nicht mehr drin arbeiten.«

»Kommt doch zu mir«, sage ich. »Ihr könnt hier Asyl haben, kein Problem.« Sofort ist es mit der herrlichen Stille vorbei, als die etwa zwanzig Schüler in den Raum poltern. Unter ihnen ist auch der Lieblingsschüler, den ich leider dieses Jahr überhaupt nicht mehr unterrichte. Er kommt mich immer besuchen, wenn er nebenan beim Kollegen ist: »Wie geht’s, Frau Freitag? Alles klar?«

Der Lieblingsschüler setzt sich direkt vor meine Nase. Wie früher. So haben wir ein ganzes Schuljahr verbracht. Er zeichnet irgendwelche stupiden Aufgaben, und wir unterhalten uns über Gott und die Welt. Was die Schüler bei meinem Kollegen gerade machen, erschließt sich mir nicht, denn alle zeichnen etwas anderes. Der Lieblingsschüler sitzt vor einem DIN-A3Blatt und schreibt mit Edding in perfekter Graffitischrift FRAU FREITAG. Schön in 3D und mit liebevollen Verzierungen. Dabei quatschen wir rum, der Kollege sitzt neben mir, und wir reden eine Weile über die Schüler. Irgendwie wird diese Stunde immer besser. Unser sinnloses Rumgelabere genieße ich noch mehr als die perfekte Stille. Als es klingelt, überreicht mir der Lieblingsschüler sein Werk: »Mach ich irgendwann fertig.« Ja, denke ich, mach mal. Eigentlich könnte das mit dem Reizgas jede Woche passieren. Wenn jeder Schultag so wie dieser wäre, ich würde glatt auf mein Gehalt verzichten!

Voodoo

»Weißt du eigentlich, dass ich immer Voodoo mit dir mache?«, fragt der Freund, während er Frau Dienstag und mir herrlichste Butterbrote für unseren bevorstehenden Wochenendtrip schmiert. Ich trinke hektisch meinen Kaffee, rauche und lausche meinem Ohrwurm: »Klamotten raussuchen, Waschzeug, Fön nicht vergessen, Geld, Geschenk einpacken, Klamotten raussuchen, Waschzeug, Fön nicht vergessen …«

»Wie? Was für Voodoo?« Der Freund packt unseren Proviant in Frühstücksbeutel und verschließt sie mit den alten Verschlüssen von Toastpackungen. Er sammelt alle Verschlüsse in einer Dose. Die ist bis zum Rand gefüllt. Immer. Die wird gar nicht leerer. Wir essen auch viel Toast.

Seit ich in der Schule arbeite, habe ich die schönste Pflege-stufe 5. Ich mache Schmutz, der Freund putzt. Ich liege auf der Couch, der Freund kocht. Und ich weiß nicht wieso, aber jeden Morgen, wenn ich den Kühlschrank aufmache, lachen mich zwei Tüten mit leckeren Schulbroten an. So viel Luxus habe ich nicht mal als Kind genossen. Als Baby vielleicht, aber ich kann mich gut daran erinnern, dass es später mein Job war, das Bad zu putzen, und in meiner eigenen Schulzeit gab es auch keine Schulbrote. Wir ernährten uns von einer Tüte Chips, einer Dose Cola und zweimal die Woche gab es Altgebäck zum halben Preis. Damit haben diese Gourmethappen, die ich täglich verschlinge, nicht das Geringste zu tun. Wenn man ausgehungert aus einer Doppelstunde mit einer fiesen 7. Klasse kommt, dann schmecken die Brote vom Freund wie das beste Essen der Welt.

»Ja, Voodoo«, sagt der Freund. »Montags mache ich dir immer blaue Verschlüsse um die Tüten. Weil Blau beruhigend wirken soll. Dienstags gelbe, weil da ein leichter Tag ist, und am Ende der Woche rote, damit du noch mal Kraft hast für den letzten Schultag.«

Ich bin baff. Er gibt sich so viel Mühe mit der Farbauswahl, und ich reiße die Tüten einfach auf, inhaliere den Inhalt und schmeiße die bunten Voodoo-Dinger in den Müll.

»Ist ja total süß von dir«, säusele ich. Der erste nette Satz, den ich seit dem Betreten der Wohnung gesagt habe. »Aber warum hast du denn jetzt graue Verschlüsse genommen?«

»Weil du mich eben so angeranzt hast«, antwortet der Freund etwas säuerlich. Ich falle auf die Knie und entschuldige mich von ganzem Herzen.

Wer ist Oslo?

»Frau Freitag, haben Sie geguckt Eurovision am Samstag?«

»Ja.«

»Haben Sie gesehen, diese Lena hat gewonnen.«

»Mehmet, ich hab doch gerade gesagt, dass ich das geguckt habe. Meinst du, ich hätte irgendwie versäumt mitzukriegen, wer da gewonnen hat?«

Esma will auch was fragen: »Frau Freitag, wer ist eigentlich Oslo?«

Von allen Seiten: »Oslo ist ein Land! Bist du bescheuert, Esma!«

Ich: »Land?!«

Dann Ronnie (er verdient eigentlich jetzt schon den Nobelpreis in der Kategorie Wissen): »Oslo ist eine Stadt in Norwegen. Oslo ist sogar die Hauptstadt.«

Nachdem wir das geklärt haben, machen wir Unterricht.

Merves Tasche kommt mir so klein vor. Ich gehe zu ihrem Tisch, nehme die Tasche und öffne sie trotz allen Protestes: »Hey, das dürfen Sie nicht!« – »Dürfen Sie das?« – »Hallo, Privatsphäre?!«

Merve belastet ihr Täschchen nicht mit schulischem Firlefanz. Da ist weder ein Block noch ein Hefter noch ein Buch drin. Nicht mal Schreibzeug, es sei denn, sie schreibt mit Kajal.

Ich bin entsetzt: »Merve! Was ist das? Weiß deine Mutter, wie es in deiner Tasche aussieht? Was soll das? Bist du hier, um dich zur Tussi ausbilden zu lassen? Wir sind hier in einer SCHULE, nicht in der DISCO!«

Eine andere Stunde. Esra: »Ich hasse übertrieben kleine Familien!«

»Ja, abó, nur so drei oder vier Kinder, voll langweilig.«

»Wie viele seid ihr zu Hause?«

»Sieben Kinder. Und ihr?«

»Acht. Mein Vater hat elf Geschwister.«

»Super. Meine Oma auch.«

Die Konversation spielt sich direkt vor meiner Nase ab. Ich visualisiere elf kleine Esras und Duygus. Stelle mir total überfüllte Wohnungen und ewiges Geschreie vor.

»Wie wollt ihr denn sieben Kinder ernähren?«, frage ich. Sie denken nach. Sagt jetzt nicht Hartz IV, bitte! Sagt nicht, Jobcenter macht das schon. Bitte! Ich habe gerade meine Steuererklärung gemacht.

»Ich werde Zahnärztin«, sagt Duygu. Duygu wird wahrscheinlich nur mit Ach und Krach versetzt, aber bitte, soll sie doch Zahnärztin werden. Ich muss da ja nicht hingehen.

Ansonsten war es heute mal wieder ein typischer Montag:

Fazit des Tages: Wenn man Lehrer werden will, dann nicht montags!

Das Schöne am Lehrerleben: Jeder Tag ist anders. Heute war der perfekte Tag. Ich liebe meinen Job. Heute war echt alles super. Und das lag bestimmt an den Schülern! Die sind echt super. Haben sie doch heute wirklich mal gezeigt, dass sie bei mir auch was gelernt haben. Und wie sie das gezeigt haben. Ich könnte vor Stolz platzen. Ich komme mir vor wie Gymnasiumschullehrer – nur eben mit die cooleren Schüler.

Eigenlob stinkt – ach, was soll’s, soll es doch – verpeste ich heute halt mal alles. Aber ich muss wirklich sagen – ich bin eine sehr gute Lehrerin! Wenn mir das niemand anders sagt, dann sage ich es mir eben selbst. Ich bin so eine super Lehrerin – ich hätte selbst gerne bei mir Unterricht.

Und meine Schüler sind die tollsten Schüler, die man sich vorstellen kann. Sagte ich das schon? Einfach perfekt! Ich bin so begeistert, dass ich sogar meinen Schreibtisch aufgeräumt habe und kurz davor bin, die Fenster zu putzen. Die Sonne scheint auch – so soll das Leben sein! Ihr armen Nicht-Lehrer, ihr tut mir echt ein bisschen leid. Versucht doch auch, noch Lehrerin zu werden – das fetzt echt, ich kann mir nichts, wirklich gar nichts vorstellen, was schöner sein könnte!

Okay, ich bin wieder auf Normal gelandet. Die Schüler, von denen ich gestern so begeistert war, waren übrigens nicht die aus meiner Klasse. Ist ja auch ganz gut, dass man nicht nur seine eigene Klasse unterrichtet. Die verstopfen mir nur mein Fach im Lehrerzimmer mit ihren Fehlzetteln und Tadeln und dem ganzen Mist. Also heute bin ich wieder ganz auf dem Boden der Realität. Vielleicht war ich nur gestern eine sehr gute Lehrerin. Vielleicht bin ich auch einfach keine gute Klassenlehrerin. Meine Klasse hält sich zurzeit, glaube ich jedenfalls, nur auf dem Hof auf. Kann es nicht wieder regnen, dann würden sie auch zum Unterricht gehen, aber so …

Ach was soll’s, bald sind Sommerferien, und wer weiß, wie meine Klasse im nächsten Jahr ist. Und dann kommt eine andere Klasse und noch eine und noch eine und noch eine und nur noch die Rente und dann der Tod. Bei diesen recht ernüchternden Zukunftsaussichten sollte ich vielleicht mal rausgehen und die Sonne genießen.

Schüler mal wieder irgendwo abholen

In der kleinen Pause hole ich unauffällig den WM-Spielplan aus meiner Schultasche und blättere darin rum. Sofort bin ich umringt von den Jungen meiner Klasse.

»Abóóó, ist das der Spieleplan?«, fragt Abdul.

»Brasilien gewinnt sowieso«, flüstert Mehmet.

»Story. Spanien oder Argentinien! Messi, der spielt übertrieben!«, mischt sich Emre ein.

Wir befinden uns in der schönsten Spezialistendebatte. Ich gucke in den Spielplan. »Ähhh, wann spielt denn die Türkei?«

»Hahaha, Frau Freitag, sehr witzig.«

»Zeigen Sie mal, wer zuerst spielt!« Ich schlage die Mittelseite mit der Übersicht aller Spiele auf. In der Gruppe D finde ich Deutschland. Deutschland ist rot, die anderen Länder sind schwarz.

»Ah, hier, Serbien gegen Ghana, das ist doch unsere Gruppe. Und dann Deutschland gegen Australien.« Und darunter steht Deutschland gegen Serbien.

»Boah«, sage ich gespielt entsetzt. »Das ist ja gemein. Voll fies von der FIFA.«

»Was denn?« – »Was ist gemein, Frau Freitag?« Jetzt hab ich sie. Alle hören mir aufmerksam zu.

»Na hier«, ich halte meinen Finger auf den Kasten mit der Gruppe D. »Das ist doch voll ungerecht, Deutschland spielt erst gegen Australien und am gleichen Tag müssen die auch noch gegen Serbien antreten.«

»Das ist doch nicht am gleichen Tag, Frau Freitag.«

»Doch hier guck doch mal, Abdul. Hier: erst Australien, und hier, gleich darunter: gegen Serbien. Da haben die doch gar keine Zeit, sich auszuruhen.«

»Aber das ist nicht gleich danach. Gucken Sie!« Abdul zeigt mit dem Finger auf die winzigen Daten über den Ländernamen. »Hier, gegen Australien am 13. Juni und gegen Serbien am 18. Juni.«

»Ach, echt? Ja, stimmt, darüber steht ja das Datum. Hab ich gar nicht gesehen. Das ist aber auch kompliziert, das muss man erst mal verstehen.«

»Tja«, sagt Abdul stolz, »da muss man eben ganz genau hingucken!«

Ich hole den Vertretungsplan von letzter Woche aus der Tasche: »Ach ja, Abdul? Genau hingucken? Dann erklär mir mal, weshalb du letzte Woche dreimal nicht bei Französisch warst. Hier steht doch, dass der Unterricht nicht ausgefallen ist.«

Abduls Mund verkrampft sich. »Ach, Französisch, ich dachte … also, hab ich gar nicht gesehen.« »Ja, Abdul, wie du so schön sagtest: Da muss man eben mal ganz genau hingucken.«