Fische und Heuschrecken müssen nicht geschächtet werden.
Deine Großmutter wusste viel über das Judentum, wollte aber nichts erzählen. Dieses Foto zeigt die Straße, auf der sie einige Zeit zu oft gegangen ist. Die Straße führte sie so weit weg, dass sie nicht mehr umkehren konnte.
Das ist ein Abschnitt der Schkilna-Straße. Sie führt auf einer Brücke über die Strypa und dann sanft ansteigend am alten Postamt, dem alten Magistrat, den mittelalterlichen Mauern und dem Basilianerkloster vorbei. In jener Zeit, als dein Urgroßvater, Uljanas Vater, jeden Samstag auf diesem Weg zur Arbeit ging, hieß sie Mickiewicz-Straße.
Uljanas Vater war Schabbesgoj bei einem Schochet, einem Schächter, der auf der anderen Seite des Berges Fedir lebte. Er hieß Abel Birnbaum; ein anderer Birnbaum mit dem Vornamen Natan war 1907 Kandidat bei der Wahl in Butschatsch gewesen.
Abel ist ein passender Name für einen Schochet, denn er bedeutet »Atem«. Der Schochet nimmt dem Tier den Atem, segnet es auf diese Weise und führt es seiner höheren Bestimmung zu: Er übergibt es frommen Juden, die das Fleisch essen und so die Seele des Tiers auf eine Stufe mit der eigenen heben.
Schochet zu sein ist eine angesehene Aufgabe: Selbst der große Gerechte des israelitischen Volks, Zaddik Baal Schem Tov, diente, bevor er sich der Welt offenbarte, einige Zeit als Schochet in der kleinen Stadt Ksylowytschi. Viele Jahre nach Beschts Tod reiste ein weiser Rabbi in dieses Städtchen und fand einen alten Schächter, der schon jenseits der achtzig war.
»Selbst habe ich Baal Schem nie getroffen und kenne auch keinen Juden, der das Glück hatte, ihn persönlich gekannt zu haben. Aber in meiner Jugend wohnte ich bei einem Goj-Bauern, dessen alter Großvater mit dem Kopf wackelte, während er beobachtete, wie ich den Stein mit Wasser besprengte, um das Messer zu schleifen. Zuerst glaubte ich, sein Kopf zitterte aufgrund des hohen Alters, bis ich endlich begriff, dass der Alte mich tadelte. Ich fragte: ›Warum schüttelst du den Kopf, wenn ich das Messer schärfe?‹ Der Alte antwortete: ›Du arbeitest nicht schön, Junge.‹ Wenn Israel sein Messer schärfte, beträufelte er den Stein mit seinen eigenen Tränen.«
Abel war ein exzellenter Schochet. Er hatte eine praktische und geistige Ausbildung durchlaufen, er kannte das 1752 von Alexander Sender Schor verfasste Buch Simla Chadascha, in dem alle Gesetze der Schechita ausführlich dargelegt waren, fast auswendig.
Abels wichtigstes Messer war aus Stahl und erinnerte an einen eckigen Strahl aus makellosem Glas. Selbst den kleinsten Kratzer würde man darauf mit bloßem Auge sofort erkennen. Trotzdem prüfte Abel das Messer jedes Mal mit der Fingerspitze, dem Ohrläppchen, einem Fingernagel und der Zunge. Denn selbst die allerkleinste Scharte könnte dem Tier Leid zufügen und in einer gerissenen Wunde enden – was bedeuten würde, dass das Fleisch nicht koscher und somit verschwendet wäre. Abel verschwendete fast nie lebendige Seelen.
Das Messer hatte keine Spitze, es sah aus wie eine rechteckige Platte. Dieses Messer war für Rinder vorgesehen, seine Klinge war doppelt so lang wie der Halsdurchmesser des Tiers.
Während Abel die Schechita durchführte, hielt er keine Sekunde inne. Er arbeitete fließend, wie in einer langsamen, entspannten Ausatmung. Er übte keinen Druck und keine Gewalt aus, er führte das Messer sanft, sicher und gerade in den Hals des Tieres, als würde er Luft- und Speiseröhre auf einmal durchschneiden. Der Körper des Tieres und das Messer waren durch nichts getrennt, der Leib war weder durch das Fell noch durch ein Stück Stoff vor Abels Augen verborgen: Abel sah immer, was er gerade machte, hatte stets im Blick, was er tat. Seine Klinge verließ nie den erlaubten Bereich, verletzte den Körper nie mehr als nötig.
Abel kontrollierte stets, ob er Luft- und Speiseröhre richtig durchgetrennt hatte, ob sie sich nicht von der Stelle lösten, an der sie festgewachsen waren. Er untersuchte sorgfältig die Lunge, kontrollierte sie auf Verschorfungen oder Blutgerinnsel, die davon zeugen würden, dass das Tier gelitten hatte, dass es Angst und Schmerzen erfahren hatte und die Schechita nicht korrekt durchgeführt worden war.
Die Lunge war in den allermeisten Fällen vollkommen rein und glatt.
Abel war ein Mann mittleren Wuchses: dünn, aber stark, mit kräftigen, geschmeidigen Muskeln an Armen, Beinen und Rücken. Wenn Uljana ihn heimlich beobachtete, konnte sie oft sehen, wie sich die Muskeln unter seinem Hemd spannten, da er den Kaftan zur Arbeit ablegte. Sein längliches Gesicht hatte einen sanften Ausdruck, es zeigte stets ein trauriges Lächeln, bat scheinbar immer um Vergebung und zeugte von einer gewissen Verwirrtheit oder einem inneren Grübeln über bedeutende Fragen. Abels schwarze Augenbrauen lagen wie verwunderte Dreiecke auf seiner Stirn. Das Lächeln verbarg sich in seinem gepflegten, grauen Bart. Er trug eine Brille, die seine von Natur aus großen, hervortretenden Augen mit den stark ausgeprägten Unterlidern noch größer erscheinen ließ.
Er war ein ruhiger und stiller Mann. Obwohl er für die Gemeinde so wichtig und seine Arbeit sehr gefragt war, verhielt er sich nie hochmütig oder überlegen. Er fragte lieber, als zu antworten. Suchte lieber aus eigener Kraft nach Antworten, als andere zu fragen. Deshalb verbrachte Abel jeden Samstag in der Jeschiwa, lauschte Streitgesprächen oder Vorträgen und vertiefte sich in alte Handschriften. Uljanas Vater dagegen verbrachte jeden Samstag im Haus von Abel Birnbaum und in den Häusern von dessen Verwandten, die sich in der Nachbarschaft befanden, er half Abels Frau, den Kindern und der Großmutter. Die Familie feierte ihren heiligen Tag, und Wasyl Frasuljak fachte das Feuer an und hielt es am Brennen, trug Wasser, servierte die von der Hausfrau am Vortag zubereiteten Speisen und trug das Geschirr ab. Uljana hörte regelmäßig, dass die Nachbarn deswegen über ihren Vater lachten (ihm ins Gesicht nur verhalten, aber hinter seinem Rücken mit Abneigung, fast schon Hass), doch Wasyl machte sich nichts daraus, er seufzte nur und kniff die Augen zusammen.
Er hatte graumeliertes Haar und ein quadratisches Kinn, das von tiefen, frühen Furchen durchzogen war. Er war ein impulsiver, unberechenbarer Mensch. Oft verschwand er ohne Vorwarnung, und Uljanas Mutter hatte sich nicht nur damit abgefunden, sondern hoffte sogar heimlich, er würde nicht zurückkehren. Manchmal war er sentimental und weinerlich, aufdringlich in seinen Zärtlichkeiten. Dann wieder, ohne Vorwarnung, war er gereizt und ungeduldig, wurde laut und grob. Er schlug sie nicht, aber ordentlich schubsen konnte er sie schon. Er trank keinen Alkohol, aber manchmal drängte sich, wie er selbst sagte, eine schwarze Wolke in seinen Kopf und vergiftete seinen Verstand. Um sich selbst zu bestrafen, stürzte er sich dann kopfüber in die Arbeit, fand irgendwo die lukrativsten Beschäftigungen und erledigte sie mit größter Sorgfalt. Aber wie durch Zufall verletzte er sich dann bei der Arbeit, hatte danach bis auf die Knochen zerschundene Hände oder ein verbranntes Gesicht. Er war ein guter Mensch und rührte andere Menschen zu Tränen, wenn er seine kindliche und verletzliche Seite zeigte. So verzieh man ihm schließlich auch seine Wutanfälle.
Birnbaum und seine Verwandten zahlten Wasyl gut für seine Arbeit, er bekam von ihnen für einen Samstag mehr, als er in einer ganzen Woche mit stets wechselnden Arbeiten verdiente – mal transportierte er Holz, mal Säcke mit Mehl von der Mühle zu den Kunden, mal mit einem geliehenen Fuhrwerk Leute vom Bahnhof in die Stadt, wenn der Besitzer des Fuhrwerks nach einem Gelage krank im Bett lag, mal hob er Abflussgräben aus, mal half er bei Gleisarbeiten oder er trug die Mauern der Burg ab und transportierte die Steine zu einer Baustelle.
Uljana war die Lieblingstochter des Vaters und hatte am meisten Mitleid mit ihm. Der Vater hatte die Angewohnheit, sich gerade dann für Uljanas Starrköpfigkeit und Kapriolen zu begeistern, wenn die Mutter Uljana bestrafte oder ihr die Leviten las. Heimlich lächelte und zwinkerte er ihr bestärkend zu. Uljana ertrug die Strafe still und spürte dabei, wie ihre Brust vor Stolz schwoll.
Der Vater wohnte der Schechita selbstverständlich nie bei. Trotzdem erzählte er den Töchtern bis ins kleinste Detail davon, wobei unklar blieb, ob diese Details wahr oder von ihm erfunden waren. Uljana beschloss, dass sie all das mit eigenen Augen sehen musste. Sie war elf Jahre alt, als sie, ohne jemandem Bescheid zu geben, das Haus verließ und quer durch die Stadt in Richtung Basilianerkloster lief.
An jenem Morgen irrte sie lange zwischen den Häusern auf der anderen Seite des Berges Fedir umher, bis sie schließlich ein paar Juden mit Bart und Hut bemerkte, die Kupferschüsseln irgendwohin trugen. Uljana eilte zu dem Haus, das diese ernsten, vom täglichen Sitzen über Büchern krummen Menschen eben verlassen hatten, und erhaschte einen Blick auf einen müden Mann mit Brille, schwarzen Brauen und grauem Haar. Einen Moment stand er noch in der Tür, betrachtete die Wolken am Himmel und kehrte dann, ein Bein nachziehend, ins Innere des Gebäudes zurück.
Abel hatte sein Bein beim Kampf um den Berg Makiwka verloren. Er hatte im Infanteriebataillon des Landsturms unter Hauptmann Drosd gekämpft. Auf der Flucht vor dem feindlichen Feuer konnte Birnbaum im letzten Moment einer getarnten Fougasse ausweichen, geriet jedoch in eine Wolfsgrube, in der er eineinhalb Tage bewusstlos lag, den Unterschenkel auf einen angespitzten Holzpfahl gespießt. Später scherzte Abel, dass die Ärzte genau diesen Kiefernpfahl für seine Prothese verwendet hatten.
Nach Kriegsende war Birnbaum ein ganzes Jahr lang überzeugt, dass er nie wieder würde arbeiten können. Er saß vor seinem Haus und betrachtete tagelang das Elend ringsum. Die meisten seiner früheren Nachbarn waren nicht mehr da, sie waren geflohen, fortgezogen oder umgekommen. Neue Menschen waren aufgetaucht, in zerschlissener Kleidung, unglücklich und noch fremd. Wie aber konnte man ohne Schochet auskommen? Kann denn der Nachthimmel ohne Mond auskommen? Abel kehrte ins Leben zurück und machte sich wieder daran, Leben zu nehmen, um die Gebote der Tora zu erfüllen.
Ob Armut herrscht oder nicht, selbst wenn man die Rippen bereits zählen kann – ein Schochet hat immer Arbeit. Sogar in jenen Jahren konnte Abel seine Familie versorgen.
Obwohl Uljana ihn nur einen kurzen Augenblick aus der Ferne betrachtet hatte, sah sie sogleich, dass weder die Hände des Mannes noch seine Kleidung mit Blut befleckt waren und dass sein Gesichtsausdruck traurig und erschöpft war. Das Holzhaus stand nicht direkt an der Straße, sondern an einer Biegung des Flusses. Es ähnelte einer Scheune mit kleinen Fenstern unter dem Dach. Uljana schlich das zweistöckige Gebäude entlang, in dem alltägliche Gespräche zu hören waren, und näherte sich vom Flussufer aus, das mit hohen, breiten Grashalmen bewachsen war.
Um die Scheune herum herrschte Ordnung. Einige Zeit saß Uljana im Dickicht der jungen Weiden und spürte, dass das Wasser des Bachs durch die Ritzen in ihren Schuhsohlen drang. Aus einem gemauerten Haus waren das durchdringende Schreien eines kleinen Kindes und die besorgten Stimmen von mehreren Frauen zu hören.
Vorsichtig näherte sich Uljana der Scheune und bemühte sich, beim Gehen mit ihren nassen Füßen nicht allzu laut zu patschen; sie drückte sich an die Holzwand und spähte durch die Spalte. Sie spürte, dass süße Wärme von drinnen herausströmte. Sie sah Eisenhaken, die von der Decke hingen, den Bretterboden, eine Holzkonstruktion, die an eine große geriffelte Liege mit einem dichten Muster an Öffnungen erinnerte, zahlreiche auf dem Tisch liegende Gegenstände und Ledergürtel. Sie konnte überall dunkle Flecken erkennen, zweifellos Blutspuren, die sich todsicher (wie denn sonst) in die verschiedenen Oberflächen eingefressen hatten.
Abel Birnbaum stand in der Türöffnung. Uljana sah seine dunkle Silhouette: die unnatürliche Krümmung seiner Wirbelsäule, den hoch erhobenen Kopf, den Bart, dessen Spitze den Halsansatz berührte. Mit einer Hand hielt er ein rechteckiges Messer hoch, mit dem Fingernagel der anderen Hand fuhr er langsam über die Klinge.
Uljana konnte nichts dagegen tun. Sie lief immer wieder von zu Hause fort und verbrachte ihre Zeit lieber beim Haus des Schlachters, in der Hoffnung, die Schechita mitansehen zu können. Ihre Hoffnung wurde sehr bald erfüllt. Das Mädchen stand, den Körper an die Scheunenwand gepresst, da und schaute zu, wie ein weißes Kalb durch die große Tür hineingebracht wurde. Das Kalb schaukelte hin und her, machte langsam einen Schritt nach dem anderen, es folgte dem Mann bereitwillig, der es führte und unterdessen zärtlich seine Schnauze streichelte. Fast hatte Uljana den Eindruck, er würde es küssen.
Das Kalb und der Mann wurden von zwei Helfern begleitet, und als Abel das Kalb auf den Boden legte, flüsterte er dem Tier etwas ins Ohr, berührte dessen Hals mit der Stirn, schaute ihm in die Augen und streichelte seine Flanken. Abels Bewegungen waren ruckartig und ungelenk, seine Prothese schlug laut gegen den Boden. Das Kalb folgte ihm und zeigte keinerlei Unruhe: Voll Vertrauen beugte es die Beine und legte sich artig auf die Seite. Uljana sah den feuchten Glanz seiner Augen.
Abel kniete mit einem Bein neben dem Hinterkopf des Tiers, er hatte sich nach vorne gebeugt und das andere Bein schräg nach hinten ausgestreckt, er hörte nicht auf, mit beruhigender Stimme auf das Tier einzuflüstern. Uljana erinnerte diese Stimme an die des Vaters, wenn er in einer besonders zärtlichen Stimmung war. Wenn er ihr eine gute Nacht wünschte, mit stacheligen Wangen ihr Kinderohr berührte und versicherte, dass er sie viel mehr liebte als seine beiden anderen Töchter.
Uljana nahm nicht einmal wahr, wann das Messer in den Hals des Tieres eindrang. All das geschah in einer entspannten Ausatmung, im Halbschlaf. Abel flüsterte weiterhin liebevoll, während die zwei Helfer mit aller Kraft den starken, großen Körper festhielten, der fürchterlich zuckte und gegen den Boden schlug. Uljana spürte mit einem Mal, dass das Ende nahte: nicht das Ende des Kälbchens, sondern das Ende von allem, das Ende der Welt. Der Körper des Mädchens vibrierte gemeinsam mit den Wänden des Gebäudes, die seltsamen Geräusche, die der durchgeschnittenen Luftröhre des Tieres entwichen, steckten scheinbar in Uljanas Kehle.
»Wein nicht, hör auf«, sagte ein Junge und traute sich nicht, ihre Hand zu nehmen. Er stand neben ihr, blickte aber nicht durch den Spalt in die Scheune, sondern auf Uljana. Seine glänzenden Augen mit den schweren Lidern waren voller Mitgefühl und Bedauern.
»Hab keine Angst, hörst du«, fuhr er fort, es war, als streichelte seine Stimme über ihren Kopf. »Das ist seine Rettung. Es ist gut für das Tier. Seine Seele wird erhöht.«
»Es hat Schmerzen«, weinte Uljana und sank zu Boden. Tränen bedeckten ihr gerötetes, verzerrtes Gesicht. »Es hat gedacht, dass alles gut sein wird, und dann ist es getötet worden.«
Pinkas setzte sich neben Uljana und erzählte ihr ernst und sachlich, dass die Tiere keine Schmerzen und keine Angst verspürten. Der Vater mache alles sehr schnell und genau so, dass die Tiere nicht litten. Er sage ihnen schöne Dinge, spreche über die Liebe, lulle sie ein, und dann durchtrenne er schnell und gekonnt Luft- und Speiseröhre, und das Tier verliere im selben Moment das Bewusstsein und spüre nichts mehr. Das Tier selbst sei schon erlöst. Es sei frei.
Pinkas war Abel Birnbaums Sohn.