In der Stadt wusste jeder, dass Wasyl Frasuljak jemanden gerettet hatte. Vielleicht sogar mehr als einen Menschen. Manche meinten, dass die, die er gerettet hatte, besser erschlagen worden wären oder man sie hätte anzeigen müssen, und dass Wasyls Taten keine Anerkennung verdienten. Oder sogar im Gegenteil, dass man Wasyl Frasuljak den Behörden ausliefern hätte sollen. Natürlich nur, wenn die Behörden nicht so schnell gewechselt hätten, und man deshalb nicht wissen konnte, wofür sie einen bestrafen oder belohnen würden.
Aber eigentlich kannte niemand die genauen Einzelheiten dieser Rettungsaktionen. Zweifellos gab es überall Leute, die ihre eigene Version der Ereignisse hatten und sich dabei auf zuverlässige Informationen aus erster Hand beriefen. Aber ich würde dieser Hand nicht trauen. Weder deine Großmutter noch ihre Schwestern ahnten, wer unter dem Fußboden ihres Hauses stöhnte und ächzte.
Eine weitere Sache, die ungeklärt bleibt, ist das Warum. Den Vater deiner Großmutter konnte man weder für einen fanatischen Christen noch für einen Menschen mit trotzigen und unerschütterlichen Ansichten halten oder für einen prinzipientreuen Mann oder gar einen barmherzigen Wohltäter. Uljana konnte sich nicht erinnern, dass ihr Vater jemals Mitgefühl für Krüppel, Kranke, Waisen oder Witwen gezeigt hätte. Er hat nie Almosen gegeben. Man konnte bei ihm keinerlei Stimmungsschwankungen beobachten, die durch den Tod eines Menschen oder ein Unglück verursacht worden wären (vielleicht gab es diese Schwankungen nicht, weil das Unglück immerzu da war und nur seine Erscheinungsformen wechselte). Natürlich gab es Stimmungsschwankungen, ich habe dir schon davon erzählt. Sie kamen oft vor und waren befremdlich. Man hatte jedoch den Eindruck, dass diese Veränderungen nicht durch äußere Ereignisse verursacht wurden, sondern durch unsichtbare innere Prozesse, die sich in Wasyls Kopf abspielten. So etwas wie Wirbelstürme, Mondfinsternisse und Sonneneruptionen in seinem Schädel.
Nein, Uljana hätte ihren Vater niemals der Barmherzigkeit verdächtigt. Sie zweifelte nicht daran, dass er, zum Beispiel, sie liebte, aber sie bezweifelte, dass er seine Frau und seine beiden anderen Töchter liebte. Die Schläge und blitzenden Augen löschten den letzten Funken Hoffnung.
Wenn er wirklich jemandem geholfen hatte, hätte dies theoretisch um eines Vorteils willen sein können: um dafür Essen oder Geld zu bekommen. Aber Uljana konnte sich an keine Gespräche darüber erinnern, geschweige denn an materielle Zeichen einer erfolgreichen Machenschaft dieser Art.
Uljana wusste, dass ihr Vater zu Beginn des Krieges einrücken hatte müssen. Die Mutter hatte erzählt, dass er davor oft getobt und gesagt hatte, er könne es kaum erwarten, wegzugehen, und hoffe, er würde nicht zurückkehren. Die Mutter wagte nicht, über ihre eigenen Hoffnungen zu sprechen, obwohl es nach außen hin so schien, als gäbe es für sie kein größeres Unglück als die Aussicht auf diese Trennung. Schließlich hatten sie gerade erst geheiratet und in ihrer Beziehung gab es zu diesem Zeitpunkt noch viel Zärtlichkeit und Unerfahrenheit. Die Mutter brach regelmäßig in Tränen aus, fiel vor Erschöpfung immer wieder in Ohnmacht und sah zusehends besorgniserregender aus: blass, mit eingefallenen Wangen und schwarzen Ringen unter den Augen, wie ein Geist, eine böse Frau, die einen im Traum erwürgt, wenn man auf dem Rücken liegt.
Als der Vater im Krieg war und eine Zeit lang keine Nachricht von ihm kam, erholte sich die Mutter ein wenig. Ungeachtet des Hungers und der ständigen Angst, der ununterbrochen bebenden und zitternden Erde und des allgewärtigen Todes stellte sich Uljana vor, dass die Mutter damals ruhig, gelassen und zeitweise sogar zufrieden gewesen war. Wenn Uljana sie nach der Zeit vor ihrer Geburt ausfragte, wurde sie insgeheim wütend auf die Mutter. Das konnte sie ihrer Mutter nicht verzeihen.
Was wusste deine Großmutter noch über ihren Vater während des Krieges? Zum Beispiel, dass er dort zufällig Abel Birnbaum begegnet war. Unter welchen Umständen, wusste niemand. Aber vielleicht erklärte das die Aufforderung, nach dem Krieg bei den Birnbaums als Schabbes-Goj zu dienen, in einer Zeit, als den verquälten Menschen noch schien, dass sich alles langsam beruhigen würde, dass man in Zukunft miteinander auskommen werde.