Bald darauf brachte Mischke Pinkas ein Rasiermesser mit einer offenen Klinge. Es hatte einen aus grünem Stein geschnitzten Griff. Die Klinge selbst glänzte wunderschön und reflektierte das Licht.
»Weißt du was«, sagte Mischke und legte den schweren, kalten Gegenstand in Pinkas’ Hand. »Du wirst mich mitnehmen. Zuerst wirst du mir helfen, dann kannst du selbst gehen.«
Pinkas nickte. Sie blickten einander wie gebannt an. »Wann willst du?«, fragte er. »Ich will bald«, sagte Mischke. »Morgen oder sogar schon heute.«
»Dann morgen«, sagte Pinkas, »ich will mich heute noch vorbereiten.«
Als Pinkas am Abend aus der Bibliothek zurückkehrte, erlaubte er sich, an seinen Vater zu denken. Er war zur Überzeugung gelangt, dass die Erinnerung an seine Familie jetzt, da der Entschluss gefasst worden war und es einen Weg gab, seinen Plan auszuführen, nicht mehr gefährlich war. Jetzt fand er Trost, wenn er an sie dachte, sogar Freude. Er war von Zärtlichkeit erfüllt. Er zitterte geradezu vor freudiger Aufregung, wie wenn man liebe Menschen nach langer Trennung wiedertreffen wird.
Pinkas war Mischke so dankbar, dass er den Wunsch verspürte, es so zu machen, dass sie keine Schmerzen haben würde. Er erinnerte sich an die hunderten Male, die er beobachtet hatte, wie sein Vater mit einer sicheren und präzisen Bewegung, ohne den geringsten Druck, seine Klinge in das Fleisch eines Tieres einführte wie ein Messer in Butter und die Luft- und Speiseröhre, die Halsschlagader und die Drosselvene durchtrennte. Er erinnerte sich an das Flüstern des Vaters in das angespannte Ohr des Tieres, an seine umsichtigen Bewegungen, seine Fürsorge. Pinkas spielte die ganze Nacht diese Szenen in seinem Kopf durch, nur unterbrochen von den Gebeten Schmone Esre und Schma Jisrael, Gebete zum Andenken an Vater und Mutter und ein Gebet der Reue. Stöhnen, Tränen und Flehen verstärkten innerlich seine Gebete, während er unter dem Fenster saß und vor und zurück schaukelte und dabei immer gelassener und zuversichtlicher wurde.
Er wusste, dass Vater seine Hand führen würde, während er Mischke beruhigende Worte ins Ohr flüsterte. Danach würde er sich selbst die Adern in den Oberschenkeln und Handgelenken durchtrennen. Pinkas hatte jede von ihnen eingehend geprüft und ihre Dicke sorgfältig mit seinen Fingerspitzen abgetastet. Er wusste, dass er eine schwierige Aufgabe vor sich hatte. Wenn Mischke fortgegangen war, würde er nur noch wenig Kraft für sich selbst haben. Aber er verließ sich auf die Erinnerung an seinen Vater, auf die Stimme seiner Mutter, die ihn rief und führte, auf die süßen Seufzer seiner Schwester, auf die Hand der befreiten Mischke, die sich ihm auf der anderen Seite entgegenstrecken würde
Pinkas schlief in dieser Nacht nicht und ging nicht einmal zu Bett, aber er fühlte sich frisch und munter, als der Morgen vor dem Fenster anbrach.