Fotografie: Eine Frau in Schwarz sitzt wartend auf einer Bank an einer Bushaltestelle.

Das Fenster in der Bibliothek stand offen. Die Strahlen der frostigen Novembersonne ergossen sich ins Zimmer und der scharfe Wind, der hereinwehte und nervös an dem dünnen Vorhang zerrte, hielt den Körper in ständiger Anspannung.

Pinkas und der Gebietskommissar standen vor dem ovalen Porträt einer Frau mittleren Alters in einem massiven geschnitzten Rahmen. Die Frau auf dem Porträt trug ein langes schwarzes Kleid, in dessen Falten sich eine noch dunklere und dichtere Farbe verbarg, ihr dunkelbraunes, glatt gekämmtes Haar verlor sich vor dem schmutzigen Hintergrund der Dämmerung. Nur ihr hübsches, rosaweißes Gesicht hob sich von der Tristesse des Bildes ab, zog die Blicke auf sich und harmonierte mit dem Weiß von Manschetten und Kragen.

»Ist das Ihre Mutter?«, fragte Pinkas. Die Frau wirkte auf ihn schüchtern und weich. Ihre dicklichen Hände waren bescheiden im Schoß gefaltet. Anstatt zu antworten, zitierte der Gebietskommissar:

Was soll der Mensch denn fürchten, dem nur blindes Los Obherrscht und Vorschau nimmer hell gegeben ist? Am besten lebst du, wie du kannst, sorglos dahin. Drum fürchte nicht mehr deiner Mutter Ehebett. Mit ihren Müttern schliefen viel der Menschen ja Bereits in Täuschungsträumen; doch wer solcherlei Für nichts beachtet, trägt allein das Leben leicht.

Er verstummte und blickte Pinkas an, lächelte verschmitzt und bedeutungsvoll.

Pinkas, der zu verstehen glaubte, senkte vorsichtig den Blick und trat einen Schritt vom Porträt zurück. Er schämte sich, aber er versuchte, es zu verbergen, um den Gebietskommissar mit seiner Scham nicht zu verletzen oder zu beleidigen. Er räusperte sich und richtete seinen Blick auf den unruhigen Vorhang.

Der Gebietskommissar lachte. Pinkas blickte ihn überrascht an und sah eine fast kindliche Begeisterung auf seinem Gesicht.

»Ich weiß nicht, wer die Frau auf diesem Bild ist«, sagte er durch sein Lachen und schaute Pinkas mit einem freundlichen, irgendwie mitfühlenden Blick an. Er legte ihm sogar die Hand auf die Schulter, so wie man es bei Menschen tut, denen man besonders zugetan ist. Er freute sich, dass ihm sein Scherz gelungen war.

»Ich habe dieses Bild einmal geschenkt bekommen, wie viele andere Dinge in diesem Haus auch. Nur diesmal konnte ich nichts tun. Es ist doch kein Tizian, oder? Wäre es ein Tizian, hätte ich geholfen. Aber du musst zugeben, dass das Porträt etwas für sich hat. Ich war selbst überrascht, als ich merkte, dass ich es die ganze Zeit im Blickfeld haben wollte.

Und er klopfte Pinkas auf die Schulter. Trotz der merkwürdigen Peinlichkeit beobachtete dieser bei sich fast einen rührenden Reflex auf das Verhalten des Gebietskommissars.

In diesem Moment wurde die Villa von Schreien erfüllt. Es war Henrietta, die gellend schrie, so kreischend und laut, dass man ihre Worte unmöglich verstehen konnte. Ihre Schreie mischten sich mit dem Bass von Romzjo, der Flüche ausstieß. Das Porzellan auf der Kommode und den Regalen vibrierte, und die Möbel dröhnten von dem irren Getümmel und den schweren Schritten unten. Mischke schrie vor Schmerz. Man hörte Schläge und Ohrfeigen.

Die Blicke des Gebietskommissars und von Pinkas kreuzten sich, dann stürzte der Hausherr aus dem Arbeitszimmer und die Treppe hinunter.

Pinkas konnte hören, dass im Erdgeschoss völliger Aufruhr herrschte. Henrietta, die sich nicht beruhigen konnte, beschuldigte Mischke des Diebstahls. Romzjo nickte eifrig und wagte es sogar, die Herrin zu unterbrechen, um seinem Herrn von der Angewohnheit des schmutzigen Mädchens zu erzählen, ihren nackten Körper an wertvollen Pelzen zu reiben. Die Peitsche zischte, und Pinkas konnte deutlich hören, wie sie die Luft durchschnitt und dann mit einem Klatschen das Fleisch des Mädchens zerfetzte. Vor seinem inneren Auge konnte er ihre roten Wangen sehen, ihr zerzaustes Haar, die Striemen, die die Peitsche auf ihren Schultern, Armen und ihrem Gesicht hinterließ wie blutiger Tau auf weißer Haut.

Er stand vor dem Porträt einer ihm unbekannten Frau und begriff, dass sein Vorhaben mit dem Rasiermesser unsinnig gewesen war. Nicht wegen dem, was jetzt geschah, nein. Es war nur so, dass Pinkas es nicht geschafft hätte, Mischke die Kehle durchzuschneiden, er hätte ihr kein Haar krümmen können. So wie er auch nicht in der Lage gewesen wäre, sich selbst entlang der eigenen Venen aufzuschneiden, um sein Dasein zu beenden. Der Vater hatte ihn viel besser gekannt als er sich selbst. Sein Vater hatte keinen Zweifel daran gehabt, dass Pinkas niemals Schochet werden konnte.

»Was hat ein Schächter damit zu tun?«, hielt Uljana es nicht mehr aus. »Hier ging es um eure Rettung. Du musstest das Mädchen und dich selbst retten. Was gab es da noch zu überlegen?«

»Hättest du es gemacht?«, fragte Pinkas nach einem kurzen Schweigen.

»Natürlich hätte ich es gemacht«, antwortete Uljana wütend.