Er ging zu dem Beistelltisch und griff gierig nach seinem Notizbuch. Er steckte es unter sein Hemd, legte es sich an den Bauch, als wäre es ein verlorengegangenes Organ, das wieder an seinen Platz zurückgekehrt war. Dann kletterte er aufs Fensterbrett und machte – die Arme im Fensterrahmen verspreizt – einen Schritt hinüber auf den Nussbaum; er verlagerte halb liegend und halb kriechend sein ganzes Körpergewicht dorthin. Obwohl der Ast dick und kräftig war, zitterte und bebte er unter Pinkas’ Gewicht. Die Rinde war rutschig und eiskalt. Sie sträubte sich wie ein Ungeheuer dagegen, dass er aufsaß.
Pinkas hörte, dass Mischke auf der Straße, die auf der anderen Seite des Hauses vorbeiführte, irgendwohin gezerrt wurde. Sie weinte und schrie nicht mehr, sondern wimmerte nur ganz leise. Pinkas war klar, dass bald auch er dran sein würde.
Er kletterte hinüber zum Stamm, umschlang ihn mit den Armen und ließ sich – irgendwie tänzelnd – auf einen tiefergelegenen Ast hinunter. Dann noch eine Etage tiefer; nun waren keine Äste mehr unter ihm, er drehte sich mit dem Rücken zum Stamm und sprang. Der Aufprall durchfuhr seinen Körper wie ein Blitz. Pinkas kämpfte sich aus dem Gebüsch, rückte das Notizbuch unter seinem Hemd zurecht und rannte zwischen den Häusern bergauf zum Holzturm der Feuerwehr. Das Letzte, was von der Villa des Gebietskommissars zu ihm drang, war eine neue Welle von Gebrüll. Offensichtlich hatte Romzjo dem Hausherrn von Pinkas’ Flucht berichtet.
Er rannte und rannte, kam an den letzten Gebäuden am Fuße des Hügels vorbei und passierte die Häuser links vom Kloster. Er wollte so schnell wie möglich den Wald erreichen. Noch immer spürte er die Erschütterung von seinem Sprung: Seine Beine kamen ihm doppelt so schwer und unbeweglich vor. Das Notizbuch mit dem Ledereinband störte ihn beim Laufen. Pinkas keuchte so laut, dass er das galoppierende Pferd des Gebietskommissars nicht sofort hörte. Das Schlagen der Hufe erreichte ihn als Vibration der Erde und nicht als Geräusch. Er drehte sich im Laufen um und sah den Reiter auf seinem goldgelben Hengst. Pinkas stolperte und stürzte, er kullerte seinem Verfolger einfach entgegen. Der Gebietskommissar riss an den Zügeln, das Pferd stieg und wieherte. Pinkas sah über sich den langgestreckten, kräftigen Pferdekörper, für den Bruchteil einer Sekunde konnte er noch die prallen Muskeln an Kruppe und Beinen erkennen, die von einem hellen, glänzenden Fell überzogen waren. Der Gebietskommissar schlug Pinkas mit der Gerte ins Gesicht. Einmal, zweimal, dreimal. Plötzlich tauchten ein paar Hilfspolizisten mit Stöcken auf. Einer hielt Pinkas den Lauf seiner Pistole an die Stirn.
»Herr, fang’ ich wohl mit Spaßen, von der Sorte / Der ordinären, stetsbelachten, an?«, zitierte der Gebietskommissar und hielt den Polizisten mit der Pistole auf. »Die silberne Klinge mit dem Griff aus Beryll, die ihr mir gestohlen habt, war auch ein Geschenk. Die habe ich aus Dankbarkeit bekommen, verstehst du?« – die Augen des Gebietskommissars waren voller Aufrichtigkeit und Mitleid. »Aus Dankbarkeit dafür, dass ich meine Pflichten ehrlich erfülle, dass meine Ehre mein ganzer Stolz ist, dass ich übermenschliche Anstrengungen unternehme und unmenschliche Aufgaben erfülle, dass eine Last auf meinen Schultern ruht, die für die meisten Sterblichen untragbar wäre.«
Eine tragische, feierliche Stille machte sich breit. In dieser Stille versuchte Pinkas, Mund und Nase voll gefrorener Erdklumpen und das geschwollene Gesicht blutüberströmt, vergeblich, Schärfe in seine Wahrnehmung zu bringen. Der Gebietskommissar tanzte auf seinem Pferd vor dem hellen Himmel, ein Kentaur, ein antikes Ungeheuer. Nach ein paar missglückten Versuchen, etwas zu sagen, und nachdem er blutigen Dreck ausgespuckt hatte, gelang es Pinkas, eine Frage zu stellen:
»Was ist mit Mischke?«
Der Gebietskommissar verzog das Gesicht.
»Wenn du die Haushälterin meinst – sie hat die Pelze angefasst«, erwiderte er scharf.