Fotografie: Der Junge, der den Fisch betrachtet hat, nimmt einen Ameisenhaufen auseinander.

Semrod brachte sie in eine große Halle in einem der Fabriksgebäude. Dank der dicken Mauern des Schlosses war es hier sogar in diesen unerträglich heißen Tagen angenehm kühl. Der intensive, herbe Geruch von getrocknetem Tabak hing in der Luft, zwischen den Säcken mit Tabak führte ein schmaler Pfad hindurch. Vor den Fenstern sah man die Tabakfelder: Im gleißenden Sonnenlicht lagen die gerippten Blätter schlaff da. Auf den Feldern mit dem Russischen Löwenzahn krochen die Frauen auf allen vieren dahin und zupften abertausende Male am Tag an den harten Stängeln, um den Flaum mit den Samen abzureißen. »Im Gebäude dort drüben«, sagte Davyd, »ist eine Fabrik für Pottasche untergebracht.« Sie gingen offensichtlich zu einem Nebengebäude, in dem Semrod bereits dreißig Juden untergebracht hatte. Diese Juden arbeiteten nicht direkt für das Lager, gehörten ihm aber dank der Anstrengungen des Deutschen dennoch an. Einer von ihnen nähte wunderbare Schuhe, ein anderer reparierte Uhren, wieder ein anderer war Dentist, dessen gesamtes Arztzimmer inklusive Apparatur für ihn aus Tschortkiw geholt worden war. Es gab solche, die keine herausragenden Fertigkeiten oder Verdienste vorzuweisen hatten und Aufgaben erfüllten, die ihnen zugewiesen wurden: Sie schnitten Tabakblätter, hängten sie in Netzen zum Trocknen auf oder nahmen sie später wieder ab. Die Netze standen auf den Hängen des Hügels und im Schlosshof.

Semrod unterschied sich im Aussehen nicht von den anderen Deutschen, trotzdem konnte Pinkas den Blick nicht von ihm abwenden. Seine attraktive, hohe Offiziersstirn, über die tiefe Falten verliefen, die Poren neben seinen Nasenflügeln, die braunen Augen, deren enttäuschten Ausdruck die Gläser der runden, goldgerahmten Brille nicht verdecken konnten. Unter den dreißig Männern, die in dem Fabriksgebäude wohnten, war übrigens auch ein Augenarzt, der nicht nur Semrod und seine kurzsichtige Tochter behandelte, sondern auch ein paar andere Deutsche mit Sehschwächen.

Pinkas begriff nicht sofort, wieso ihm die Deutschen so hübsch vorkamen: Sie waren die Einzigen, die Pinkas in letzter Zeit getroffen hatte, die wie normale Menschen aus der Vergangenheit aussahen. In Pinkas’ früherem Leben hatten alle Leute so ausgesehen; keine eingefallenen Brüste, keine Schultern, die wie Kleiderhaken aus der löchrigen Kleidung ragten, keine Augäpfel, die sich weit aus dem Schädel herauswölbten.

Semrod sprach leise, man musste ihm stets aufmerksam zuhören, musste immer die Ohren spitzen. Er zeigte Pinkas die Lagerhalle mit Kisten voll Schnaps und Zigarren, für die er ab nun verantwortlich sein würde. An der Tür der Halle waren zwei polnische Wachleute postiert. Pinkas pflegte ein fast freundschaftliches Verhältnis zu ihnen. Die Wachen erhielten von ihm Zigarren, die ein wenig feucht geworden waren und die sie ein wenig trockneten, bis es ihnen gelang, sie anzuzünden. Pinkas hörte gerne zu, wie der Tabak beim ersten Zug knisterte und wie zufrieden die Wachmänner ächzten, wenn sie sich zum Ausruhen gegenüber vom Eingang der Lagerhalle hinsetzten und die Aussicht genossen.

Fast jeden Tag kamen deutsche Soldaten mit Dokumenten zu Pinkas, auf denen genau notiert war, wie viele Flaschen Schnaps und wie viele Packungen Zigarren ihnen ausgegeben werden sollten. Normalerweise behandelten sie Pinkas, als wäre er Luft. Viel schlimmer war es, wenn jemandes Blick plötzlich an ihm hängen blieb.

»Du hast nicht mehr lange«, sagte ihm einmal ein Offizier, dessen Haar pomadisiert war. Er hatte einen schmal zurechtgestutzten schwarzen Schnurrbart und notierte mit hochgezogenen Brauen feinsäuberlich etwas in einem kleinen Notizbuch. Die Wachen lächelten einander zu und wandten den Blick vielsagend ab.

Von Zeit zu Zeit half Pinkas Davyd und ein paar anderen Arbeitern, die Tabakblätter in die dunklen Keller unter dem Gebäude zu bringen, wo sie sie aufhängten und mit warmem Wasser befeuchteten. In einen dieser Keller flüchtete Pinkas, nachdem er an einem frühen Morgen einer Gruppe Neuankömmlinge sechs oder sieben Kisten ausgegeben hatte. Sie hatten gegen die schwere Holztür, gegen die alten, fast schon versteinerten Türflügel gehämmert und ihn so geweckt. Es begann gerade erst zu dämmern; im Osten zeichnete sich der Horizont – einen halben Farbton heller als der Rest der dunklen Welt – wie ein Faden am Himmel ab.

Pinkas bemerkte sofort die geschäftigen Bewegungen der Neuankömmlinge, registrierte ihre Aufregung, Nervosität und außergewöhnliche Gereiztheit, wie sie bei Menschen zu beobachten ist, die sich der Erledigung einer unangenehmen Pflicht nicht entziehen können. Ein Wachmann begleitete den verschlafenen Semrod, den man aus seinem warmen Ehebett geholt hatte. Pinkas hörte Semrods verwirrte Stimme, die zuerst geduldig und ruhig war, mit der gelangweilten Intonation eines Menschen, der es gewohnt ist, sich in seinem Leben auf Gesetze, Logik und gesunden Menschenverstand zu verlassen, und dasselbe von anderen erwartete. Er bekam eine kurze, scharfe Antwort, alle vernünftigen Argumente wurden abgeschmettert. Nach und nach wurde die Stimme des Offiziers immer höher, ging fast in ein Kreischen über. Er verlor die Geduld. Seine Sätze rissen ab. Weder Gesetz noch Logik hatten mehr eine Wirkung.

Pinkas stieg in den stinkenden Kanal hinab, dessen Zugang in dem Keller lag, wo sie Tabak befeuchtet hatten, und tauchte in die langen, dunklen Gänge unter dem Schloss ab. Er ging, ohne zu sehen, tastete sich voran, watete bis zu den Knien, manchmal bis zur Hüfte im unterirdischen Wasser, manchmal schwamm er darin und hörte ringsum das Plätschern und Rascheln unsichtbarer Geschöpfe. Hier stank es nach hundertjährigem Unrat. Er konnte deutlich das von Erde und Mauern gedämpfte Wiehern der Pferde in den Stallungen hören.

An manchen Stellen wurden die Gänge so breit, dass Pinkas den Eindruck hatte, er bewegte sich in einem unendlichen Raum, der weder von Wänden noch von Decken begrenzt, jedoch in ewige Kälte, Feuchtigkeit und Nacht gehüllt war.

Durch das hallende Tropfen des Wassers hindurch glaubte er, in der Dunkelheit ein Flüstern und schleichende Schritte zu hören. Einmal knackte irgendwo Metall, es klang, als hätte jemand den Auslöser einer rostigen Waffe gedrückt. Aber nichts geschah. Kein Schuss ertönte. Falls sich hier im Untergrund noch jemand versteckte, falls dieser Pinkas seit geraumer Zeit verfolgte, dann hatte er beschlossen, ihn nicht anzurühren, ihn gehen zu lassen.

Dieser Gedanke jagte Pinkas Angst ein, brachte sein Herz dazu, unangenehm in seinem Hals zu pochen: Konnte sich hier in seiner Nähe tatsächlich ein lebendiges Wesen verstecken, das etwas mit ihm gemein hatte: verfolgt und dort draußen unerwünscht? Es wäre interessant zu wissen, wieso diese Person unerwünscht war – wegen willentlich begangener Taten oder wegen eines unbeabsichtigten Fehlers? Aus Leidenschaft, Zorn, Hunger oder auf der Suche nach Gerechtigkeit? Oder weil man ihr Merkmale zuschrieb, die von denjenigen, die die Ordnung der Welt bestimmten, nicht gebilligt wurden?

Vielleicht deshalb, weil man sie, ohne sie zu fragen, ohne sich dafür zu interessieren, was für Menschen sie waren, einer Kategorie von Wesen zugeschrieben hatte, auf die man keine Rücksicht nehmen musste, denen gegenüber es keine Schuldgefühle gab, die zu ermorden keine Sünde und kein Verbrechen war, sondern vielmehr Pflicht und Notwendigkeit. Wesen, die kein Gesetz schützte, die man bis auf den letzten Tropfen ausdrücken und zermalmen durfte, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken.

Das Gefühl, in dieser tiefen Ungewissheit vor jemandem völlig ungeschützt dazustehen, jagte ihm einen eiskalten, schmerzhaften Schauer über Hinterkopf, Oberschenkel, Waden und Fersen. Sogar hier im Untergrund, nachdem er den Händen der Verfolger entkommen war und sich unter der Erde versteckt hatte, war Pinkas rundum verletzlich und ungeschützt vor der ganzen Welt.

Es wäre gut, dachte Pinkas, eines der anderen Schlösser zu erreichen, mit denen dieses verbunden sein musste – das Schloss von Solotschiw oder das von Tschortkiw, oder vielleicht das von Tscherwonohorod in der Nähe von Nyrkiw. Oder so lange und weit unter der Erde zu wandern, bis er schließlich an einem unerreichbaren Ende der Erde herauskäme, wo niemand etwas über diese Welt und das Leben hier wüsste. Es wäre gut, hier einfach alleine unter der Erde zu versinken. Spurlos zu verschwinden. In Sand und Lehm einzusickern wie Wasser.

Durch ein Loch in der Mauer kroch Pinkas nach draußen, abseits der Fabrik, mitten in einem dichten Erlengestrüpp. Die Schüsse zerbarsten in der Luft. Die Tabakblätter zitterten, mit ihrer großen Oberfläche nahmen sie die Sonnenwärme auf. Am Himmel berührten einander tanzende Wolken.

Pinkas beschattete mit der Hand seine Augen und erkannte winzige, nackte Figuren, die eine nach der anderen in die Grube stürzten, in der bisher Kartoffeln für die Lagerarbeiter aufbewahrt worden waren.