Fotografie: Zwei sich ähnlich sehende Frauen mittleren Alters (wahrscheinlich zwei Schwestern) reinigen mit Schnee und einem Besen Teppiche im Garten.

Zunächst dachte Nusja, dass ihre Kleidung trocknen und sie sich dann besser fühlen würde. Doch als Krywodjak die Augen öffnete und sie ansah, hatte sie erneut das Gefühl, in schweren, nassen Kleidern zu stecken und bis auf die Knochen zu frieren.

Er war enttäuscht, sie zu sehen, und diese Enttäuschung löste bei Nusja einen grässlichen Schmerzanfall aus, der von seinem zerschmetterten Oberschenkel ausging, dessen Gewebe sich bereits schwarz verfärbte, feucht schmierig glänzte und einen Verwesungsgeruch verströmte, dem man nicht entkommen konnte – es sei denn, man war bereit, ihn einzuatmen. Und Nusja war dazu bereit. Sie war zu fast allem bereit: den schrecklichen Gestank einzuatmen, in ihren nassen Kleidern zu zittern, Zorn und Wut zu ertragen, weil sie Uljana die Nachricht nicht übergeben hatte, sie war sogar bereit, unmenschliche Folter zu ertragen. Sie hatte keinen Zweifel daran, dass sie alle Schläge, die schlimmsten Demütigungen und sogar eine Vergewaltigung aushalten würde – denn sie wusste genau, wofür. Aber zu sehen, dass ihre Ankunft als überflüssige Fleißaufgabe, als sinnlose Belastung, als nutzlose Aufdringlichkeit empfunden wurde, und zu verstehen, dass ihre Anwesenheit nur ein Zeichen für die Abwesenheit einer anderen war, die wirklich gebraucht und begehrt wurde, war unerträglich, einfach unmöglich. Bei genauerem Nachdenken hätte sich Nusja vielleicht damit abfinden können, dass Krywodjak nicht auf sie, sondern auf eine andere wartete, wenn diese andere nicht ihre ältere Schwester gewesen wäre.

Während der wenigen schweren Stunden, die Nusja in diesem schrecklichen Grab verbrachte, wurde fast nicht gesprochen. Nur ganz am Anfang, als Krywodjak seine kränklichen Augen mühselig öffnete und Nusja in ihnen statt Freude und Hoffnung eine tiefe, durchdringende Enttäuschung sah, flüsterte sie in wirren Worten eine Erklärung, stotternd. Er unterbrach sie mitten im Satz und sagte: »Ich brauche die Hände einer Krankenschwester. Du kannst nichts ausrichten. Schaschil muss uns nun allein versorgen. Du nützt uns nichts, atmest uns nur die Luft weg.

Und dann schwiegen sie. Nusja saß in der Ecke, in der Nähe der Kiste mit den Handgranaten, und hatte Angst, sich zu rühren, Angst, zu viel der ohnehin verseuchten Luft einzuatmen und sie denjenigen wegzunehmen, die sie viel dringender brauchten und denen gegenüber sie schuldig geworden war. Schaschil leerte die Tasche, die Nusja mitgebracht hatte, und übergab das Essen Halja, die sofort begann, Brot und Zwiebeln auf dem flachen Teil eines Holzklotzes zu schneiden, der als Tisch diente. Krywodjak lehnte das Essen ab, schüttelte den Kopf und deutete zu den beiden anderen Männern, die auf die dunklen Brotscheiben und die glasigen Zwiebeln starrten. Als sich der stechende Zwiebelgeruch ausbreitete, konnte Nusja den Würgereiz kaum mehr unterdrücken. Panische Angst überfiel sie: Was, wenn sie nach all ihren Fehlern und Verstößen auch noch ins Versteck kotzen würde? Sie nahm ihren ganzen Willen zusammen, bedeckte ihr Gesicht mit den Handflächen, verbarg es in den Knien, und als sie spürte, dass die Gefahr vorüber war, sah sie die anderen wieder an.

Schpak fraß Halja das Brot aus den Handflächen wie ein Hund und leckte ihr die Finger ab. Er stank nach Exkrementen. Sein Körper bewegte sich nicht, er konnte nur den Kopf und den Hals ein wenig drehen. Seine Gliedmaßen und sein Oberkörper lagen ausgestreckt da, sodass sein Körper dem eines Toten im Sarg glich. Halja hatte ihm sogar die Arme vor der Brust gekreuzt und die Hände gefaltet. Sie selbst wartete konzentriert und geduldig darauf, dass Schpak den letzten Krümel aus ihrer Handfläche gepickt hatte, um nun ein Stück Weißkäse zu nehmen und dem Mann hinzuhalten. Ihr Haar, gräulich vor Schmutz, rahmte ihr gleichmütiges, wächsernes Gesicht.

Der, den sie Wucho nannten, lag neben ihm, den Kopf bedeckt mit einem halb verkohlten Uniformmantel. Von Zeit zu Zeit brummelte er etwas Unverständliches. Die Worte summten unter dem Mantel wie in einem Bienenstock. Nusja spitzte die Ohren, aber sie schnappte nur etwas auf über Haare, die er diesen Hundesöhnen in den Hals gestopft hatte, und dass er sie doch so oft gemahnt und gewarnt hatte, aber sie wollten nicht hören, und nun waren ihnen die Augen ausgestochen worden, auch ein blindes Huhn findet mal ein Korn, allen wurde der Atem herausquetscht und die Seele genommen. Und plötzlich fing er an zu lachen: Zuerst kicherte und gluckste er leise wie ein Baby und dann lachte er immer unkontrollierter, lauter, wieherte geradezu, stöhnte und ächzte. Halja klopfte mit der Faust leicht auf seinen Mantel, dann öffnete sie die Hand und strich mit der Handfläche über den Mantel, und der Mann wurde für eine Weile still. Doch nicht für lange, bald darauf begann er wieder, über die Juden zu reden, die schuld daran waren, dass sie alle hier sterben mussten, einer nach dem andern, und mit ihnen sei der Tod eingeschleppt worden, und solange sie sich nicht der Juden entledigen würden, würden sie auch den Tod nicht loswerden. Halja bearbeitete ihn erneut mit der Faust, um ihn anschließend sanft und beruhigend zu streicheln, und er verstummte wieder.

Währenddessen lag Krywodjak da, noch blasser als sonst, den kahlen Kopf nach hinten geneigt und ein Stück Holz zwischen die Zähne geklemmt. Zuvor hatte er einen kräftigen Schluck mit Wasser verdünnten Alkohol getrunken, sodass seine Pupillen verengt und sein Blick etwas zerstreut und abgelenkt war. Er sah eine Weile zu, wie Schaschil sein Messer desinfizierte, seine Hände, seine kleine Stahlzange, wie Schaschil Penizillin aus einer Ampulle mit einer Spritze aufzog, und dann, nachdem er die Injektion erhalten hatte, legte Krywodjak den Kopf zurück und schloss die Augen. Schaschil bereitete den Oberschenkel vor, legte die Medikamente, die Nusja mitgebracht hatte, vor sich aus. Nusja bemerkte, dass Schaschils Hände zitterten, aber sein Gesicht war fast schön: kantig, ernst und konzentriert. Der Verwesungsgestank wurde noch intensiver, nun vermischt mit den Aromen von Alkohol und chemischen Verbindungen sowie Brandgeruch. Schaschil verbrachte viel Zeit damit, schwarzgrünen, zähflüssigen Eiter zu entfernen, der unaufhörlich in großen Schüben aus der Wunde strömte, und begann dann, nachdem er Krywodjak eine Warnung zugerufen hatte, vorsichtig einen gefalteten, mehrschichtigen, mit Karbolsäure getränkten Verband auf die Wunde zu legen. Krywodjak zischte und zappelte und umklammerte seinen Karabiner mit beiden Händen. Schpak hatte aufgehört zu essen, lag nun da und starrte auf die Baumwurzeln, die von oben in das Versteck ragten. Wucho drehte und krümmte sich unter seinem Mantel. Und Halja beobachtete die Operation, ohne mit der Wimper zu zucken.

Nusja hätte sich fast selbst geohrfeigt, als sie unerwartet eine Welle aus Glück und Erleichterung spürte, nachdem sie hinter dem vor Erschöpfung ganz blassen Schaschil nach oben geklettert war. Es war wieder Nacht. Nusja atmete mit voller Brust die frische Waldluft ein, ihr wurde ganz schwindelig und sie konnte nicht gleich loslaufen. Der Mond stand am Himmel. Nusja sah den bizarr gegabelten Stamm der Kiefer, unter deren Wurzeln sich das Versteck befand. Ein Teil des Stammes war vom Blitz getroffen worden, und nun klammerte sich die lebende Hälfte des Baumes mit ihren braunen Rindenschalen und üppigen grünen Nadeln an das nackte, tote Skelett.

Schaschil begleitete Nusja ein kurzes Stück, ohne ein Wort zu sprechen. Er verabschiedete sich nicht, schaute sie nicht einmal an. Schweigend drehte er sich um und ging in die Richtung zurück, aus der sie gekommen waren. Nusja blieb stehen und hörte, wie seine Schritte verklangen. Sie war nicht mehr wütend und beleidigt. Hatte sie es denn wirklich nicht verstanden?