4. KAPITEL

Evie hielt sich an die Abmachung – eine, die sie nicht getroffen hatte. Ihr blieb auch nichts anderes übrig, weil Finn einen großen Bogen um sie machte.

Also tat Evie, was man ihr von klein auf beigebracht hatte: Sie fügte sich ein. Richard Lockheart hatte immer mehr Wert darauf gelegt, dass sich seine Töchter auf jedem gesellschaftlichen Parkett sicher bewegten. Intelligenz, Talent und Wissen kamen erst danach.

Evie lernte die Truppe kennen. Suchte Kontakt zu den Exsoldaten, interessierte sich für ihre täglichen Aufgaben. Finns finstere Blicke ignorierte sie. Sie nahm bei jedem, der Zeit hatte, Quad-Stunden, bis sie gelernt hatte, das vierrädrige Gefährt selbst zu steuern. Manchmal half sie Bob bei der Krankengymnastik oder der Wassertherapie im Schwimmbecken. Hörte geduldig zu, wenn Ethan sie um ihre Meinung bat, als er sich um zwei seiner Patienten Sorgen machte.

Und sie nutzte die Gelegenheit, Schlaf nachzuholen. Las ein Buch nach dem anderen aus der gut bestückten Bibliothek und ließ sich das köstliche Essen schmecken, das Reginald, der bei der Armee Koch gewesen war, ihr vorsetzte. In jeder freien Minute genoss sie die gesunde Seeluft und den warmen Sonnenschein am Strand.

Sie fühlte sich gut. Nach und nach verschwanden die Schatten unter ihren Augen, ihr Haar glänzte, und ihr Teint nahm eine leichte Sonnenbräune an.

Außerdem hatte sie es sich angewöhnt, nach der Sprechstunde schwimmen zu gehen, zusammen mit einigen Männern aus der Gruppe. Während diese am Strand Laufübungen machten, ließ sich Evie im seichten Wasser treiben. Zwar war sie eine gute Schwimmerin, doch diese windzerzauste Küste mit den vielen schroffen Felsen nötigte ihr Respekt ab. Da schwamm sie lieber nicht zu weit raus.

Nach gut zwei Stunden machten sie sich wieder auf den Rückweg. Manchmal begegneten sie Finn auf der steilen Steintreppe. Die Männer begrüßten ihn gut gelaunt, und wenn sie seinen knappen, fast mürrischen Gruß seltsam fanden, so ließen sie sich nichts anmerken. Anscheinend bin ich der einzige Mensch hier, der es traurig findet, dass Finn allein an den Strand geht, dachte sie. Dabei könnte er doch Gesellschaft haben …

Die zwei Wochen vergingen wie im Flug.

Evie konnte es kaum glauben, dass heute ihr letzter Tag in Beach Haven sein sollte. Sie hatte sich umgezogen, um an den Strand zu gehen, und bog in Gedanken versunken auf der Veranda um die Ecke, als sie unerwartet mit Finn zusammenstieß.

„Entschuldige“, murmelte sie, während er sie am Arm packte, damit sie nicht umfiel.

Kurz berührten sich ihre Körper, und sofort flammte Hitze zwischen ihnen auf.

Finn trat als Erster zurück. „Na, auf dem Weg zu deinem täglichen Flirt mit den Jungens?“, stieß er hervor und musterte sie, als hätte sie einen knappen Bikini an, der nichts der männlichen Fantasie überließ.

Dabei trug sie weite Surfershorts und ein Top, das alles andere als sexy war. Gut, über ihren Brüsten spannte es ein wenig, aber es hing locker an ihrem Körper. Was nicht schlecht war, weil sie den Eindruck hatte, dass ihr Babybäuchlein langsam ans Licht der Öffentlichkeit drängte.

Evie beschloss, die sarkastische Bemerkung zu ignorieren. „Hast du deine Sachen schon gepackt?“

Ihre Zeit im Paradies war vorbei. Heute Abend kam Hamish zurück, und morgen würde sie mit Finn nach Sydney fahren. Flüchtig war sie versucht, hierzubleiben und die Welt dort draußen zu vergessen. Das sanfte Meeresrauschen hinter ihr war zu verlockend. Aber sie war eine Kämpferin, niemand, der sich verkroch.

„Da gibt es nichts zu packen. In meiner Wohnung habe ich alles, was ich brauche, und sobald Khalid entlassen wird, komme ich zurück.“

„Hierher?“

„Ja. Schluss mit der Chirurgie.“ Als Evie unverhofft hier auftauchte, war der Gedanke noch vage gewesen. Nach zwei Wochen in ihrer Nähe stand sein Entschluss felsenfest.

Evie starrte ihn ungläubig an und fing dann an zu lachen. „Du weißt genauso gut wie ich, dass du es dir anders überlegen wirst“, sagte sie schließlich. „Und zwar in dem Moment, wo du einen Fuß in deinen OP-Saal setzt.“

Finn hätte sich schwarzärgern können. Er hatte lange mit sich gerungen, um zu einer Entscheidung zu kommen. Und dann lachte Evie ihn aus!

Noch mehr wurmte es ihn, dass sie ihn so gut kannte.

Die letzten beiden Wochen mit ihr hatten ihn einiges gekostet. Ihre Stimme zu hören, sie zu sehen, zu erleben, wie die anderen mit ihr flirteten und über sie redeten. Evie hier, Evie da. Da war es schnell vorbei gewesen mit der Ruhe und Gelassenheit, die er hier in den letzten Monaten gefunden hatte.

Jetzt brauchte er nur noch seinen Teil der Abmachung einzuhalten, und dann hatte er seinen Frieden wieder. Finn wünschte sich nichts mehr als das.

Aber er hatte auch Angst, dass Evie recht behielt. Dass er nur ein Skalpell in die Hand zu nehmen brauchte, um wieder in seinem Beruf aufzugehen. Die vertraute Befriedigung fand, wenn er sich auf das Operationsfeld konzentrierte, Leben rettete oder seinem Patienten zu einem besseren Leben verhalf.

Er hasste es, wenn er Angst hatte. Es erinnerte ihn an seine Kindheit, als die Furcht ein ständiger Begleiter gewesen war. Eine Furcht, die er längst besiegt glaubte.

„Denk bloß nicht, dass du mich kennst“, knurrte er. „Bilde dir nichts ein, nur weil wir es ein paar Mal miteinander getrieben haben.“ Er sah, wie sie zusammenzuckte, aber er konnte sich nicht zurückhalten. „Hör gut zu, Prinzessin. Ich will kein Chirurg sein. Ich will nicht mehr in dem tollen Krankenhaus deines Vaters arbeiten. Ich will nie mehr da sein, wo du bist!“

Evie fühlte sich, als hätte er ihr ein scharfes Messer zwischen die Rippen gejagt. Heiße Wut stieg in ihr auf. „Du bist ein Lügner, Finn Kennedy!“, fuhr sie ihn an. „Und ein Feigling dazu. Kaum zu glauben, dass du jemals Soldat warst!“

Die Verachtung in ihrer Stimme ließ ihn einen Schritt zurückweichen. Noch nie hatte ihn jemand einen Feigling genannt. Und er würde einen Teufel tun und darauf reagieren!

Evie holte tief Luft, als Finn davonstürmte. Sie zitterte am ganzen Körper. So hasserfüllt hatte sie ihn noch nie erlebt. Aber sie war auch nicht besser gewesen … Schmerz, Trauer, Bedauern und Enttäuschung ballten sich in ihr zusammen und nahmen ihr den Atem. Ihre Beine drohten nachzugeben. Nein, sie durfte jetzt nicht zusammenbrechen. Nicht hier auf der Veranda.

Wie auf Autopilot schlug sie den Weg zum Strand ein, umklammerte den Beutel, den sie sich über die Schulter gehängt hatte, und eilte die Felsstufen hinunter. Finns grausame Worte verfolgten sie bei jedem Schritt.

Miteinander getrieben haben …

Ich will nie mehr da sein, wo du bist …

Es war noch zu früh, um sich mit den Männern zu treffen, aber sie wollte weg. Weg vom Haus, von der Veranda, wo ihr Herz in tausend Stücke gesprungen war.

Ruhiger als sonst lag der Ozean vor ihr, und plötzlich wusste sie, was sie brauchte. Das Meer würde alles wegwaschen, sie reinigen von diesem schrecklichen Gefühl, schmutzig zu sein.

Die letzten Stufen nahm sie zwei auf einmal, hetzte dann über den Sand. Ihre Lungen brannten, Schluchzer stiegen in ihrer Kehle auf, als sie den Beutel fallen ließ und zum Wasser rannte. Sie stürzte sich hinein, achtete nicht darauf, dass es ungewohnt kühl war und sie bald tieferes Gewässer erreichte.

Evie kraulte wie besessen, sog Sauerstoff in die Lungen, um noch schneller zu werden.

Nur weg von Finn, weg von den hässlichen Worten, die er ausgespien hatte wie Gift.

Sie schwamm und schwamm, blickte weder auf noch um sich, bearbeitete die Wellen, bis der Schmerz sich in Wut verwandelte.

Finn Kennedy ist der größte Mistkerl, den ich kenne.

Ein Menschenfeind. Ein Masochist.

Arrogant und unausstehlich.

Du bist viel zu schade für ihn!

Irgendwann hatte sie sich so verausgabt, dass sie glaubte, keinen einzigen Schwimmzug mehr machen zu können.

Sie wusste nicht, wie lange sie geschwommen war. Aber ihre Arme und Beine schmerzten, ihre Lungen protestierten – und der Strand schien ihr unendlich weit weg.

Bei dem Gedanken, die gesamte Strecke zurücklegen zu müssen, wurde ihr schlecht.

Sieh nur, was du angerichtet hast, Finn Kennedy! Hast mich aufs offene Meer hinausgetrieben, verdammt …

Seufzend fügte sie sich in das Unvermeidliche und schwamm langsam Richtung Strand.

Finn stand hoch oben an der Klippe, und seine Unruhe ließ langsam nach, als Evie dem Ufer näher kam. Aber der Ärger blieb. Wie dumm von ihr, allein rauszuschwimmen! Für jemanden, der sich hier nicht auskannte, wirkte das Meer ruhig und friedlich. Doch die Gegenströmung konnte auch einen geübten Schwimmer an die Grenzen seiner Kräfte treiben. Außerdem stand der Gezeitenwechsel bevor. Von seinem Aussichtspunkt aus konnte Finn sehen, wie sich vor der Küste eine Rippströmung formte.

Und Evie schwamm genau darauf zu!

„Evie!“, brüllte er, obwohl er ahnte, dass sie ihn nicht hören konnte. Sie war zu weit weg, und der Wind riss ihm ihren Namen von den Lippen.

Er rannte die Stufen hinunter, versuchte dabei, Evie nicht aus den Augen zu verlieren. Sah, wie sie zurückgetrieben wurde, obwohl sie vorwärtsschwamm. Sie hob den Kopf, sichtlich verwirrt, und dann schien ihr zu dämmern, was passiert war.

Sie musste jetzt schon erschöpft sein, hoffentlich geriet sie nicht in Panik. Angst krallte sich in seinen Magen, als er sah, wie sie verzweifelt versuchte, gegen die Strömung anzuschwimmen. Das war zwecklos, sie würde ertrinken, wenn sie so weitermachte!

Finn dankte dem Himmel, dass er nach dem bitteren Wortwechsel oben auf der Klippe stehen geblieben war. Er hatte sich beruhigen, den Kopf klären wollen, und das gelang ihm meistens, wenn er auf den weiten Ozean hinausblickte.

Jetzt drohte dieser Ozean zu einer tödlichen Gefahr für Evie zu werden …

„Evie!“, rief er wieder, als er Sand unter den Füßen spürte. „Evie!“

Sie brauchte eine Weile, bis sie begriffen hatte, dass sie in einen Brandungsrückstrom geraten war. Wie sehr sie auch dagegen ankämpfte, die Strömung war stärker.

Wie ein wilder Trommelwirbel dröhnte ihr Herzschlag ihr in den Ohren, während Evie sich daran zu halten versuchte, was jedes australische Kind, das in der Nähe einer Küste aufwuchs, von klein auf gelernt hatte.

Kämpfe niemals dagegen an.

Leg dich auf den Rücken und lass dich treiben.

Warte, bis die Strömung schwächer wird, und schwimme dann parallel zum Strand.

Spar deine Kräfte.

Augenblicklich fühlte sie sich verloren, dem sicheren Tod ausgeliefert. Woher sollte sie die Kraft nehmen, zurückzuschwimmen, sobald dieses Monster sie nicht mehr in den Klauen hielt? Sie öffnete die Augen, um zum Ufer zu blicken, von dem sie sich mehr und mehr entfernte.

Und dann sah sie ihn.

Finn, mit nacktem Oberkörper und nur einer Hose bekleidet, rannte aufs Meer zu. Sein Blick war auf sie gerichtet, sein Mund offen. Rief er nach ihr? Sie hörte es nicht, aber nur ihn zu sehen ließ ihr Herz jubeln. Vor einer halben Stunde noch hätte sie ihn umbringen können, doch in diesem Moment war er das, was er seit ihrer ersten Begegnung bei jenem Galadinner für sie gewesen war – ihr Ein und Alles.

Sie war müde, sie fror, aber auf einmal glaubte sie fest daran, dass alles gut werden würde. Evie spürte, wie die Anspannung nachließ, und konnte sich von der Strömung treiben lassen. Sie ließ Finn nicht aus den Augen, als er sich in die Wellen stürzte und mit kraftvollen Zügen auf sie zuschwamm.

Mit klammen Fingern tastete sie nach ihrem Bauch und flüsterte: „Alles wird gut, Baby, Daddy ist unterwegs …“

Finn erreichte sie fünf Minuten später, als die Strömung sie gegen die felsigen Klippen schwemmte, die diese Bucht von der nächsten trennte.

Evies Lippen waren schon blau, und ihre Zähne schlugen klappernd aufeinander. Aber sonst schien sie okay zu sein, und die eisige Faust um sein Herz lockerte sich ein wenig. Zwar waren sie noch nicht aus dem Schneider, doch wenigstens drohte sie nicht zu ertrinken.

„Bist du okay?“, brüllte er, um das Krachen der Wellen gegen die Felsen zu übertönen.

Evie nickte, versuchte zu lächeln, auch wenn ihre Lippen sich wie festgefroren anfühlten. Der Mann schien nicht einmal außer Atem zu sein! „M…mir ist kalt“, flüsterte sie.

„Hier ist die Strömung nicht mehr so stark, lass uns zurückschwimmen.“ Es war die einzige Möglichkeit, Evie warmzuhalten. „Die Bewegung bringt deinen Kreislauf in Schwung.“

„Okay.“

„Schaffst du das?“

Sie blickte zum Strand, der unendlich weit weg schien, und dachte an ihr Baby. Das kleine Leben hing von ihr ab. „Muss ich wohl“, antwortete sie matt. An ihren Armen und Beinen schienen Gewichte zu hängen, jede Bewegung war wie Schwimmen durch zähen Haferbrei.

Finn hörte ihr die Erschöpfung an und blickte sich um. Sie befanden sich zwischen den beiden Buchten, an der zerklüfteten Landzunge. Donnernd brachen sich dort die Wellen, und die Gefahr, dass sie an den Felsen zerschmettert wurden, war groß. Doch die Bucht dahinter lag geschützter als diese hier, und Finn entdeckte Stellen, wo sie sich vielleicht aus dem Wasser ziehen konnten, ohne sich zu verletzen.

Das würde auf jeden Fall schneller gehen und weniger Energie kosten als das kräftezehrende Schwimmen zum Ufer.

„Da hinten“, sagte er. „Wir müssen auf den Felsen dort. Los. Ich folge dir.“

Evie war zu müde, um auch nur in die Richtung zu sehen, in die er deutete.

„Komm schon, Evie. Du musst aus dem Wasser raus.“

„Okay, okay.“ Seufzend paddelte sie los wie ein junger Hund. Zu mehr war sie nicht in der Lage.

Ein paar endlose Minuten später hatten sie die Landzunge erreicht, und Finn betrachtete die Felsen. Er entschied sich für einen ebenen, sanft geschwungenen Felsen, der fast wie eine Rampe ins Wasser führte, und wollte sich daran hochziehen. In dem Moment kam ein Brecher wie aus dem Nichts und schleuderte ihn auf den Stein. Ein heftiger Schmerz durchzuckte ihn, nahm ihm den Atem, und kaltes Salzwasser drang ihm in den Mund.

Evie keuchte entsetzt auf. „Finn!“

„Geht schon“, stieß er hervor und klammerte sich an den Felsen. Wie ein gestrandeter Fisch schnappte er nach Luft. Er rollte sich auf den Rücken, halb auf dem Felsen, halb noch im Wasser. „Alles okay.“ Langsam konnte er besser atmen. „Komm.“ Der Schmerz hatte nachgelassen, aber Finn musste die Zähne zusammenbeißen, als er die Hand ausstreckte. „Halt dich fest, ich ziehe dich rauf.“

Sekunden später war sie neben ihm, und beide krochen mühsam höher, um dem gierigen Ziehen und Zerren der Wellen zu entkommen. Und dann lagen sie völlig erschöpft nebeneinander, holten keuchend Atem. Evie schloss die Augen und hoffte, dass die Sonne stark genug war, um schnell die eisige Kälte aus ihrem Körper zu vertreiben. Doch hier draußen wehte ein frischer Wind, und sie bekam eine Gänsehaut.

Finn blickte in den Himmel. Seine Rippen schmerzten höllisch, und morgen würde seine Seite grün und blau sein. Aber Evie und er waren in Sicherheit. Allerdings hätte er sie erwürgen können – nach dem Schrecken, den sie ihm eingejagt hatte, fühlte er sich um zehn Jahre gealtert. Er richtete sich auf. „Wir müssen weiter.“

Evie stöhnte auf. Sie wollte nur hier liegen, die Augen schließen und sich ausruhen. „Eine Minute noch.“

„Nein.“ Er stand auf. „Du bist unterkühlt, du musst dich bewegen.“ Als sie sich nicht rührte, packte er sie am Arm und zog. „Jetzt!“

„Ist ja gut.“ Widerstrebend ließ sie sich aufhelfen, doch als sie stand, drohten ihre Beine nachzugeben, und sie lehnte sich schwer an Finn.

„Du bist eiskalt“, sagte er vorwurfsvoll. „Los geht’s. Und zwar zügig. Über die Felsen, an den Strand und dann die Stufen hinauf.“

Evie kam sich vor wie ein ferngesteuerter Roboter, als sie sich mit steifen Schritten in Bewegung setzte. „Oh nein“, murmelte sie. „Die verdammten Stufen …“

„Bis dahin hast du dich warm gelaufen“, antwortete er.

„Klar, dann nehme ich bestimmt zwei auf einmal.“

Es lag ihm auf der Zunge, zu sagen, dass sie sich das Ganze selbst eingebrockt hätte. Aber wenn er erst einmal anfing, würde er sicher einiges sagen, das er später bereute. Also schwieg er, zog und zerrte Evie mit sich, erleichtert, als er merkte, dass sie besser vorankamen, je mehr ihr Körper sich wieder erwärmte.

Sie erreichten den Strand, und er lief los, holte das Badelaken aus ihrer Tasche und joggte zu Evie zurück.

„Dir ist doch auch kalt“, sagte sie, als sie sich in das flauschige Handtuch kuschelte.

„Mach dir keine Sorgen“, entgegnete er knapp.

Irgendwie schafften sie es auch noch die Treppe hinauf und zum Haupthaus. Finn schob Evie ins Badezimmer, stellte die Dusche an und befahl ihr, sich sofort auszuziehen und unter das heiße Wasser zu stellen. Dann verschwand er nach draußen.

Nie zuvor war Evie über seine grantige, herrische Art so froh gewesen.

Eine halbe Stunde später lag Evie im Bett und dämmerte auf einer warmen, weichen Wolke in den Schlaf, als plötzlich die Tür aufging.

Herein kam Finn, in Jeans und T-Shirt, und trug ein Tablett in den Händen. „Trink das“, befahl er und stellte einen dampfenden Becher auf ihren Nachttisch. Und ein großzügiges Stück saftigen Schokoladenkuchen auf einem Teller mit zartem Blumenmuster. „Reginald besteht darauf.“

Es fiel ihr schwer, sich aufzusetzen. Jeder Muskel protestierte. „Wenn das so ist …“, murmelte sie. Sie lehnte sich gegen das Betthaupt und zog die Knie an, bevor sie nach dem Becher griff. Der Duft des Schokoladenkuchens stieg ihr in die Nase und machte ihr den Mund wässrig. Ihr Magen fing an zu knurren. Es kam ihr vor, als hätte sie in ihrem ganzen Leben noch nie so einen Hunger gehabt.

Wohlig seufzend trank sie einen Schluck von der süßen Honigmilch. Himmlisch, dachte sie und versuchte sich nicht davon stören zu lassen, dass Finn auf und ab tigerte und dabei das Tablett gegen sein Bein schlug.

Sie hat unverschämtes Glück gehabt, grollte er stumm. Hat sie überhaupt eine Ahnung, dass sie beinahe ertrunken wäre? Ihm wurde eiskalt. Gut, sie ging ihm oft auf die Nerven, aber die Vorstellung, dass sie einfach nicht mehr da war … Finn mochte nicht einmal daran denken.

Seine Rippen schmerzten bei jedem Schritt und schürten nur seinen Zorn auf Evie.

Evie hatte die Hälfte ihres Kuchens gegessen, als sie seine anklagende Wanderung nicht länger ertrug. Sie legte die Gabel nieder. „Warum spuckst du es nicht einfach aus, Finn?“

Abrupt blieb er stehen, sah sie an, sah den trotzigen Blick, das vorgeschobene Kinn. Ärgerlich warf er das Tablett aufs Bett. „Was zum Teufel hast du dir dabei gedacht?“, fuhr er sie an. „Du hättest ins Meer hinausgetrieben oder an den Felsen zerschmettert, erfrieren oder von einem verdammten Hai gefressen werden können!“

Evie blinzelte. An all das hatte sie auch gedacht, da draußen im kalten Ozean, aber die Gedanken nicht zugelassen, um den Mut nicht zu verlieren. Aber Finn musste es ihr natürlich unter die Nase reiben.

Glaubte er wirklich, ihr wäre die Gefahr nicht bewusst gewesen? In der Dusche hatte sie sich erst einmal setzen müssen, als der Schock einsetzte und sie zitternd daran dachte, wie knapp es gewesen war. Dass sie nicht nur ihr Leben, sondern auch das ihres ungeborenen Kindes aufs Spiel gesetzt hatte. Als sie dann spürte, wie sich das Kleine bewegte, hatte sie vor Dankbarkeit geheult.

„Ich weiß“, sagte sie ruhig.

Finn marschierte wieder auf und ab. „Keiner hätte etwas gemerkt. Irgendwann hätten wir dich vermisst, dich überall gesucht, mit Hunderten von Leuten das Gelände durchkämmt und das Meer abgesucht. Aber du wärst spurlos verschwunden geblieben. Deine Schwestern wären außer sich gewesen, und dein Vater hätte alle Hebel in Bewegung gesetzt, um Ethan vor Gericht zu zerren und Beach Haven dichtzumachen …“ Er starrte sie an. „Ein guter Mann, der Gutes tut, hätte seine Existenz verloren, aber was kümmert’s dich? Du wärst ja tot gewesen!“

Und du, Finn? Was hättest du gefühlt? Evie holte bebend Luft. Sein Ausbruch machte ihr ein kleines bisschen Hoffnung. Würde er sich so aufführen bei jemandem, der ihm nichts bedeutete?

„Es tut mir leid“, sagte sie schließlich.

„Das reicht nicht einmal annähernd!“ Er fuhr herum, doch die ruckartige Bewegung tat seinen Rippen nicht gut. Finn fluchte unterdrückt, während er eine Hand auf die Brust presste und mit der anderen am Bettpfosten Halt suchte.

Evie beugte sich vor. „Finn?“ Er antwortete nicht, stand mit geschlossenen Augen da und schnappte nach Luft. „Finn!“

„Alles okay“, knurrte er.

Sie schlug die Decke zurück und kroch auf allen vieren ans Fußende des Betts. „Red keinen Blödsinn“, sagte sie und griff nach seinem T-Shirt. „Lass mich mal sehen.“

Finn schob ihre Hand weg. „Nicht nötig.“

Evie trug ein weites T-Shirt und leichte Baumwollshorts, und sie duftete süß und frisch. Er musste sich beherrschen, sie nicht in die Arme zu ziehen, um sich zu vergewissern, dass sie heil und gesund war. Gleichzeitig wollte er sie küssen und sich in ihr verlieren, wenigstens für eine Weile. Finn war froh über die solide hölzerne Barriere des Betts zwischen ihnen.

„Finn, ich bin Ärztin, schon vergessen?“

„Und ich bin Arzt.“

„Eben. Deshalb sollst du dich nicht selbst behandeln.“

„Es sind nur ein paar Schrammen.“

Sie legte eine Hand auf seine Brust und zog mit der anderen an seinem T-Shirt. Die Berührung schürte sein Verlangen. Finn wusste, dass er Abstand halten sollte, aber da hob sie schon sein T-Shirt an, war ihm so nahe, so vertraut. Er dachte daran, wie er ihr im Sydney Harbour begegnet war, im Flur, im Dienstzimmer, bei Besprechungen. Wie er sie jedes Mal begehrt hatte. Und jetzt war es noch schwieriger, ihr zu widerstehen.

Nach dem, was heute passiert war.

Evie holte scharf Luft, als sie das dunkle Hämatom an seiner Seite entdeckte. „Verdammt“, murmelte sie und betastete es behutsam mit sachkundigen Fingern. „Ich kann keine Krepi­tation feststellen“, befand sie schließlich nach einer gründlichen Untersuchung.

„Weil nichts gebrochen ist“, erwiderte er.

„Du solltest es morgen im Harbour trotzdem röntgen lassen.“

„Vielleicht.“

Evie unterdrückte ein Lächeln. Dass er fast klein beigab, bedeutete, dass die Prellung ziemlich schlimm sein musste. Evie ließ die Hand sinken, blieb aber, wo sie war. Nahe genug bei ihm, um den Kopf an seine Schulter zu legen.

Nahe genug, um ihm von dem Baby zu erzählen …

Die Stille dehnte sich, doch Evie brachte die Worte nicht heraus. Außerdem brauchte sie ihn in Sydney. Sie konnte es nicht riskieren, dass er das Weite suchte, sobald er von dem Kind erfuhr.

Aber sie musste etwas sagen, irgendetwas. Sonst würde sie alle Vorsicht in den Wind schießen und Finn küssen. Und mit Finn blieb es nicht bei einem Kuss. Im Handumdrehen würden sie auf dem Bett liegen, und er brauchte sie nur zu berühren, um herauszufinden, was los war.

„Tut mir leid, dass ich dich feige genannt habe, Finn. Das bist du nicht. Jedenfalls nicht in physischem Sinn. Das hast du heute eindrucksvoll bewiesen.“

Finn schnaubte. Nur Evie konnte ihn als emotionalen Feigling bezeichnen und es wie ein Kompliment verpacken. „Ich muss mich auch entschuldigen für das, was ich gesagt habe“, gestand er. „Ich …“

Ja, was? Ich will doch Chirurg sein? Ich will doch bei dir sein? Nein, er hatte schon die Wahrheit ausgesprochen. Aber er hatte sie wie Giftpfeile auf Evie abgeschossen und sie damit verletzt. Das bereute er.

„Was?“, fragte sie nach.

Finn schüttelte den Kopf, sein Blick glitt zu ihrem Mund. „Du machst mich wahnsinnig.“

Sie biss sich auf die Unterlippe. „Ich weiß.“

Glühendes Verlangen packte ihn. „Ach, verdammt!“, fluchte er leise, schob eine Hand in ihr Haar und eroberte mit einem unterdrückten Stöhnen ihre weichen Lippen.

Sie öffnete sich ihm, und Finn küsste sie hungrig und voller Leidenschaft. Sie schmeckte süß und verführerisch, und er konnte nicht genug von ihr bekommen. Er hörte sie hingebungsvoll seufzen und seinen eigenen keuchenden Atem.

Ein lautes Klopfen an der Tür ließ sie auseinanderfahren.

„Evie? Geht’s dir gut?“

Finn hielt sich die Seite, als er aufstand. Wie ein verheerendes Feuer wütete die Lust in ihm, alles in ihm sehnte sich nur danach, mit Evie ins Bett zu steigen, beide nackt, und sich in ihr zu verlieren.

Er ließ sie nicht aus den Augen, als er rückwärts zur Tür ging, konnte sich nicht sattsehen an ihren feuchten roten Lippen, dem sehnsuchtsvollen, so verführerischen Ausdruck in ihren braunen Augen.

Finn stieß unsanft gegen die Tür. „Ja, Ethan, es geht ihr gut“, rief er. Dann drückte er die Klinke herunter und öffnete.

Sein Freund kam herein – und mit ihm eine Riesenportion Vernunft.