Am Sonntagmorgen um neun Uhr wachte Finn auf. In seinem Schädel hockte ein wild gewordener Trommler, der ihn mit dröhnenden Schlägen marterte.
Es war lange her, dass Finn einen Abend mit seinem teuren Whisky verbracht hatte. Früher betäubte er damit seine Schmerzen, doch seit der Zeit in Beach Haven trank er höchstens ein, zwei Bier. Deshalb hatte er auch vergessen, wie er sich nach einer durchzechten Nacht fühlte.
Finn starrte an die Decke, während sich in seinem Kopf die drei Worte drehten, die ihn seit gestern verfolgten: Evie ist schwanger. Er würde Vater werden. Vater eines schutzlosen Winzlings mit seinen Genen, der in nicht einmal vier Monaten auf die Welt kam.
Ein Daddy. Ob es ihm gefiel oder nicht.
Und es machte ihm Angst. Um Vater zu sein, ein guter Vater, dazu brauchte er Fähigkeiten, mit denen er einfach nicht ausgestattet war: Empathie, Liebe …
Liebe hatte er kaum gekannt. Von dem Moment an, als seine Mutter ihn und Isaac einer Kindheit in wechselnden Heimen und Pflegefamilien aussetzte, bis hin zu der von Drill und Disziplin geprägten Zeit beim Militär hatte Liebe in seinem Leben keinen Platz. Sicher, er hatte seinen Bruder beschützt und geliebt, und Isaac hatte ihn geliebt, aber das war auch nur wie eine kleine Insel in einem Meer von Gleichgültigkeit gewesen.
Die mit Isaacs Tod versank. Zehn Jahre waren seit jenem Tag vergangen, und noch immer war Finn innerlich wie betäubt, zu Eis erstarrt.
Auch Lydia hatte er nicht lieben können. Trotzdem ließ er sich auf eine Affäre mit ihr ein und verletzte sie am Ende, weil er ihr nicht geben konnte, was sie sich wünschte.
Im OP-Saal arbeitete er mit der klinischen Präzision eines Roboters, nur das Operationsfeld im Blick, nie den Patienten dahinter. Er erlaubte es sich nicht, an den Menschen zu denken, dessen Herz in seinen Händen lag, an die Liebe, zu der dieses Herz fähig war. Er tat einfach seinen Job. Und darin war er gut, der Beste.
Für die Frauen, mit denen er ins Bett gegangen war, hatte er nichts empfunden. Sie waren nette Ablenkungen gewesen, mal etwas anderes als eine gute alte Flasche Scotch.
Mit einer Ausnahme. Evie. Die er immer wieder zurückgewiesen und die trotzdem nie aufgegeben hatte.
Und die jetzt ein Baby von ihm bekam.
Da klopfte es an der Tür, und durch seinen empfindlichen Schädel donnerte eine Elefantenherde. Finn stöhnte auf, drauf und dran, loszubrüllen, dass wer auch immer draußen stand, gefälligst verschwinden sollte. Aber da er nicht wusste, ob er sich damit nicht einen Schlaganfall einhandelte, blieb er still liegen. Mit ein wenig Glück würde Evie denken, dass er nicht da war.
Für ihn bestand kein Zweifel daran, dass es Evie war. Das Klopfen hörte sich nach einer Frau an, die ziemlich sauer war.
Und es wurde lauter. „Finn? Finn!“
Lydia?
„Finn Kennedy, mach sofort die verdammte Tür auf! Bring mich nicht dazu, meinen Schlüssel zu benutzen!“
Finn rollte sich aus dem Bett. Nicht sehr elegant, aber da er sich sterbenselend fühlte, erschien ihm die Tatsache, dass er gehen konnte, wie ein Wunder.
„Komme“, rief er, als sie wieder gegen die Tür hämmerte, und zuckte zusammen, weil sich tausend Nägel in sein Hirn zu bohren schienen.
Er riss die Tür im selben Augenblick auf, als ein metallisches Kratzen am Schloss zu hören war. Vor ihm stand die Witwe seines Bruders, ein zierlicher Rotschopf, in der Hand seinen Wohnungsschlüssel.
„Du siehst erbärmlich aus“, sagte sie.
„Ach ja?“
„Okay.“ Sie drängte sich an ihm vorbei in die Wohnung. „Dann gibt es jetzt erst einmal Kaffee. Danach kannst du mir erzählen, was passiert ist. Es muss ja einen Grund geben, dass du zum Fürchten aussiehst!“
Finn war stark versucht, sie rauszuschmeißen. Aber er brauchte wirklich dringend einen Kaffee …
Eine Viertelstunde später inhalierte er tief den würzigen Duft peruanischer Arabica-Bohnen. Lydia hatte sie ihm bei ihrem letzten Besuch mitgebracht, und seitdem hatte er sie nicht angerührt. Kaffeebohnen mahlen war ihm zu aufwendig. Finn trank einen Schluck und schloss die Augen.
Sein Telefon klingelte, doch er ignorierte es. Khalid hatte nur seine Handynummer, und alles andere konnte warten.
Lydia schwieg, bis er ein paar Schlucke getrunken hatte und das Koffein seine belebende Wirkung entfaltete.
„Heraus damit“, verlangte sie schließlich.
Flüchtig spielte Finn mit dem Gedanken, sich ahnungslos zu stellen. Allerdings war Lydia einer der wenigen Menschen, die wussten, wie er tickte.
„Evie ist schwanger.“
„Oh.“
„In der Tat.“ Er trank noch einen Schluck.
„Ist es von dir?“
Finn nickte. Daran hatte er nicht eine Sekunde gezweifelt. „Ein kleiner Junge.“ – „Aha.“ Sie beugte sich über ihre Tasse und trank, aber er hatte es gesehen.
„Was gibt es da zu lächeln?“
„Nichts.“ Doch sie hatte Mühe, ernst zu bleiben.
„Das ist nicht witzig.“
„Natürlich nicht.“
Ihre Stimme bebte. Gleich würde Lydia losprusten! Finn stellte die Tasse ab und fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar. Seine Brust fühlte sich an wie von Eisenbändern umschnürt, und sein Herz raste. Der Kaffee war schuld. Nie hätte sich Finn eingestanden, dass es Panik war, nackte Panik, die ihn gepackt hatte.
Seine Hände zitterten, als er Lydia ansah. „Ich bin zu kaputt für ein Baby, Lydia.“
Sie wurde ernst, legte ihre Hände sanft auf seine. „Vielleicht ist es genau das, was du brauchst, um wieder heil zu werden?“
Und dafür ein unschuldiges Kind benutzen? Niemals. Er zog seine Hände weg. „Ich wollte nie Kinder. Es war nicht meine Entscheidung.“
„Tja, wir bekommen im Leben nicht immer das, was wir uns wünschen, Finn. Das müsstest du doch am besten wissen. Entscheidend ist, was du daraus machst. Du hast die Wahl.“
„Ist das dein Ernst?“ Ungläubig starrte er sie an.
„Ja. Du kannst ihm ein Vater sein.“
Die Eisenbänder nahmen ihm den Atem. Finn schüttelte heftig den Kopf. „Nein.“
„Sei der Vater, den du dir immer gewünscht hast.“
„Ich wollte nie einen Vater!“
Lydia blickte ihn streng an. „Doch, Finn. Isaac hat es mir erzählt. Wie sehr du dir jeden Abend einen Vater gewünscht hast, der euch beide nach Hause holt. Du hast Isaac Geschichten erzählt von eurem Vater, der jeden Tag mit euch in den Lunapark geht, euch auf der Fähre den Hafen zeigt und euch hinterher mitnimmt in sein Haus am Meer. Du kannst es nicht ändern, dass Isaac und du keinen Vater gehabt habt, aber jetzt hast du die Chance, deinem Kind zu geben, was du als Junge tagtäglich vermisst hast.“
Sie stand auf und nahm seine leere Tasse. „Willst du wirklich, dass dein Sohn auch keinen Vater hat? Dass er genau wie du davon träumt, dass du mit ihm Hafenrundfahrten machst, mit ihm in einem schönen Haus am Meer wohnst? Ein Junge braucht seinen Vater, Finn.“
„Nicht so sehr wie seine Mutter.“
„Irrtum. Er braucht beide.“
Er sah Lydia an. Sie hatte sich seine Liebe gewünscht. Liebe, die er ihr nicht geben konnte. „Was ist, wenn …“ Finn konnte es kaum aussprechen. „Wenn … ich ihn nicht liebe?“
Sie lächelte sanft. „Das tust du doch schon. Warum sonst reden wir darüber? Sei ihm ein Vater. Alles andere wird sich finden.“
Nachdem Lydia ihm zwei Kopfschmerztabletten verabreicht, ihn unter die Dusche gejagt und ihn in Pete’s Bar zum Brunch geschleppt hatte, fühlte sich Finn wieder einigermaßen menschlich.
Finn war ihr sehr dankbar, dass sie über das Wetter redete, von ihrem Job erzählte, die Fußballergebnisse zum Besten gab und sich über andere belanglose Themen ausließ. Gegen Mittag verabschiedeten sie sich voneinander, und er kehrte allein in seine Wohnung zurück. Lydias weise Worte gingen ihm wieder durch den Kopf.
Zwar war er nicht vollends überzeugt, dass sie in jedem Punkt recht hatte, doch ein Gedanke hatte sich in ihm festgesetzt: Er sollte am Leben seines Kindes teilhaben. Der Verantwortung konnte er sich nicht entziehen.
Ja, ein Junge brauchte einen Vater.
Das Lämpchen seines Anrufbeantworters blinkte, und Finn drückte auf den Knopf.
„Finn … ich bin’s, Evie. Ich wollte das hier nicht deinem AB sagen, aber … ach, was soll’s … ist vielleicht einfacher. Ich weiß, dass du das erst einmal verarbeiten musst, und du sollst nicht denken, dass ich irgendetwas von dir will … Geld oder Unterstützung, meine ich. Du brauchst dich nicht um ihn … also, um das Baby … zu kümmern. Ich dachte nur, dass du ein Recht darauf hast, davon zu erfahren. Und ich schaffe es auf jeden Fall allein, du brauchst dich nicht verpflichtet zu fühlen. Das … war es eigentlich. Wenn du es nicht willst, musst du nichts mit ihm zu tun haben. Okay … mach’s gut.“
Die Maschine fiepte, die Ansage war beendet.
Finn starrte auf das Gerät. Evie hatte ihn vom Haken gelassen. Er brauchte sich zu nichts verpflichtet zu fühlen.
Warum war er nicht erleichtert? Warum war er plötzlich wütend?
Du musst nichts mit ihm zu tun haben.
Evie würde seinen Sohn allein großziehen. Ohne sein Geld, ohne seine Unterstützung. Ohne ihn.
Es machte Sinn, nach allem, was er Lydia erzählt hatte. Evie würde den Jungen lieben, ihm alles geben, was er brauchte. Geborgenheit, Sicherheit, eine schöne Kindheit. Tanten, Onkel, Großeltern. Bunte Geburtstagspartys, Ausflüge zum Strand, Fotos mit dem Weihnachtsmann vor einem glitzernden Tannenbaum …
Er sollte froh sein, war es aber nicht. Sein Ärger verflog, und zurück blieb … Sehnsucht. Sie kroch wie eine Schlange durch seine Gehirnwindungen und flüsterte ihm zu: Sei ein Vater.
Verdammte Evie mit ihrer Unabhängigkeit! Ihren großartigen Plänen. Lydia hatte recht – er hatte eine Wahl.
Und er wollte verdammt sein, wenn sein Sohn ohne Vater aufwuchs!
Eine Stunde später untersuchte Evie gerade den Fuß einer älteren Patientin, als der Vorhang ruckartig zurückgerissen wurde.
Verwundert sah sie Finn vor sich, unrasiert wie immer, mit grimmigem eisblauem Blick … und sehr entschlossen.
„Ich muss mit Ihnen sprechen, Dr. Lockheart“, sagte er. „Und zwar sofort.“
Sein herrischer Ton brachte sie in Rage, während gleichzeitig ihre Hormone verrücktspielten, und sie sich ihm am liebsten an den Hals geworfen hätte. Zum Glück versetzte ihr das Baby einen heftigen Tritt, um sie daran zu erinnern, dass sie sich nicht gern herumkommandieren ließ. Schon gar nicht von Finn Kennedy.
„Tut mir leid, ich bin beschäftigt.“ Sie garnierte die Abfuhr mit einem freundlichen Lächeln, um die alte Dame nicht noch mehr zu erschrecken, die bei Finns barschem Auftritt zusammengezuckt war.
Finn kam herein und fasste Evie am Ellbogen. „Eine kardiologische Konsultation, sehr wichtig“, sagte er lächelnd zu der grauhaarigen Patientin. „Dauert nur eine Minute.“
„Selbstverständlich, mein Lieber. Gehen Sie ruhig. Herzen sind wichtiger als ein gebrochener Zeh.“
Wieder schenkte er ihr ein charmantes Lächeln, verstärkte aber den Griff um Evies Arm. „Na dann“, sagte er und zog sie mit sich, obwohl er ihren Widerstand spüren musste.
Draußen im Flur ließ er die Hand sinken und marschierte los. Anscheinend ging er davon aus, dass sie ihm folgen würde. Evie hatte nicht übel Lust, in die entgegengesetzte Richtung zu verschwinden, damit er zur Abwechslung mal ihr nachlaufen musste.
Aber sie mussten reden. Sie war nur überrascht, dass er schon so schnell dazu bereit war. Wahrscheinlich hatte er seinen Anrufbeantworter abgehört.
Seufzend folgte sie ihm, seine breiten Schultern vor Augen und das dunkle Haar, das sich am Hemdkragen wellte. Finn betrat das Dienstzimmer, und sie verharrte einen Moment davor, als müsste sie erst Kraft sammeln. Heute Vormittag hatte sie sich sehr zusammennehmen müssen, um ihm die Nachricht zu hinterlassen. Ihr Herz hatte bei jedem Wort protestiert, sie gedrängt, das Gegenteil zu sagen.
Doch sie meinte es ernst. Sie würde klarkommen, wenn er nichts mit ihr und seinem Sohn zu tun haben wollte. Es würde wehtun, aber sie würde es schaffen.
Sie holte tief Luft und stieß die Tür auf. Finn stand am Fenster, die Arme ungeduldig vor der Brust verschränkt.
„Du siehst furchtbar aus“, sagte sie.
„Sei froh, dass du mich heute Morgen nicht gesehen hast.“
„Hat es wenigstens geholfen?“ Sie konnte den bitteren Unterton nicht verhindern. Evie wusste, dass er getrunken hatte, und zwar nicht knapp.
„Nein.“
„Ich habe auf deinen AB gesprochen.“
„Habe ich gehört.“
„Ich meinte es ernst, Finn.“ Sie legte die Hände auf ihren Bauch. „Du musst nicht für uns da sein.“ Auch wenn ich mir nichts mehr wünsche … „Viele Kinder wachsen bei nur einem Elternteil auf, und es geht ihnen dabei gut.“
Finn dachte an seine Kindheit. Vielen Kindern geht es dabei gar nicht gut! Verdiente sein Sohn nicht das Beste? Alles, was Finn selbst nie gehabt hatte – und noch viel mehr? Ein stabiles Familienleben? Zwei Menschen, die ihn liebten, die dafür arbeiteten, dass sein Leben perfekt war? Einen Vater und eine Mutter?
„Wir sollten heiraten.“
Evie erstarrte, versuchte zu erfassen, was er gerade eben gesagt hatte. „Wie bitte?“, fragte sie schwach, als sie ihre Sprache wiedergefunden hatte.
Finn fragte sich, ob er genauso verblüfft aussah wie sie. Die Worte waren wie aus dem Nichts gekommen. Er hatte nicht geplant, ihr einen Antrag zu machen, und dennoch war er überzeugt, dass er das Richtige tat.
„Du kannst bei mir einziehen. Nein, warte, ich kaufe uns ein Haus. Irgendwo am Hafen oder noch besser in Bondi oder Coogee. Da kann er surfen lernen.“
Ihr schwirrte der Kopf, als sie versuchte, seinen sprunghaften Gedankengängen zu folgen. „Ein Haus?“
„Ich finde, Kinder sollten in der Nähe vom Strand aufwachsen.“
Er selbst war von einer heißen Vorortwohnung, kaum größer als eine Schuhschachtel, zur nächsten geschleppt worden. Sein Sohn sollte mehr Platz haben, den Geruch des Meeres und das Rauschen der Wellen im Ohr, wenn er einschlief – nicht dröhnende Rockmusik oder das Plärren des Fernsehers im Apartment nebenan.
„Wenn ich zu Hause bin, suche ich nach einem Hochzeitsplaner.“
Ungläubig blickte Evie ihn an. Finn hatte sie bereits verheiratet und ein Leben zu dritt am Meer geplant, ohne das Wort Liebe auch nur in den Mund zu nehmen!
„Wir heiraten am besten gleich nach der Geburt des Babys. Das ist früh genug.“
Also nur keine Umstände, bevor es nicht absolut notwendig ist … Evie fühlte sich wie im falschen Film. Deutlicher hätte er nicht ausdrücken können, dass sein verrückter Vorschlag mit einer Liebesheirat so viel zu tun hatte wie ein Huhn mit einem Adler.
Evie war mit Eltern aufgewachsen, die einander fremd waren. Eine kalte, nur zu einem bestimmten Zweck geschlossene Ehe war das Letzte, was sie für sich und ihr Kind wollte.
„Nein“, sagte sie ruhig.
Finn zuckte mit den breiten Schultern. „Okay, dann kurz davor?“
Ach, wenn sie dick wie eine Seekuh war und ein Zelt als Brautkleid brauchte? Lebte der Mann hinterm Mond? Wusste er nicht, wie wichtig der Hochzeitstag für eine Frau war? Und dass sie sich eine romantische Liebeserklärung wünschte und das Versprechen, für immer zusammenzubleiben, wenn der Mann ihr einen Antrag machte?
Falls er es ernst meinte …
Nein, natürlich nicht. Wie immer erwartete Finn, dass sie sprang, wenn er mit den Fingern schnipste.
„Ich werde dich nicht heiraten, Finn.“
„Sei nicht albern, Evie. Das wolltest du doch, oder?“
Mehr als alles andere, dachte sie. Aber nicht so. „Nein, ich habe dir schon gesagt, dass ich das Baby ohne deine Hilfe großziehen kann.“
„Ach, komm schon, Evie … Ich weiß, was du für mich empfindest.“
Sie lachte auf. „Leider vergesse ich immer wieder, wie unbeschreiblich arrogant du sein kannst. Wie dumm von mir, was?“
„Evie …“ Er seufzte ungeduldig. Seine Pläne standen fest, jetzt wollte er, dass es weiterging. „Lassen wir die Spielchen, okay?“
„Schön, dann legen wir die Karten auf den Tisch. Was empfindest du für mich?“
Die Frage traf ihn wie ein gezielter Hieb zwischen die Augen, genau dort, wo der bohrende Kopfschmerz nach der whiskydurchtränkten Nacht langsam nachließ. Seine Gefühle für Evie waren kompliziert. Aber das wollte sie wahrscheinlich nicht hören.
„Soll ich dir sagen, dass ich dich liebe, dass wir zusammen in den Sonnenuntergang reiten und dass eine rosige Zukunft vor uns liegt? Mit Häuschen im Grünen und einem weißen Zaun drumherum? Tut mir leid, aber ich muss dich enttäuschen.“
Evie ließ sich auf den nächsten Stuhl sinken. Sie hatte gewusst, dass er sie nicht liebte, aber es aus seinem Mund zu hören, tat trotzdem weh.
Finn setzte sich auf den Stuhl ihr gegenüber. „Es liegt nicht an dir, Evie. Ich kann einfach nicht. In meinem Leben … ist zu viel passiert … Ich kann nicht lieben. Niemanden.“
„Aber genau das möchte ich“, sagte sie leise. „Liebe und romantische Sonnenuntergänge und einen weißen Gartenzaun.“
Er presste die Lippen zusammen. Ihm wäre nie in den Sinn gekommen, dass Evie Nein sagen könnte. Sie liebte ihn, das hatte sie immer gesagt. Dann konnte sie ihn auch heiraten!
„Finn, ich bin wirklich sehr froh darüber, dass du … im Leben unseres Kindes eine Rolle spielen willst. Wie, das müssen wir noch klären. Aber ich werde nicht einen Mann heiraten, der mich nicht liebt.“
„Glaub mir, Evie, ein Kind, das nicht mit beiden Eltern aufwächst, ist arm dran.“
Der bittere Unterton jagte ihr einen kühlen Schauer über den Rücken. „War es bei dir so?“
Sein Gesicht wurde ausdruckslos. „Wir reden nicht über mich.“
„Ach, du verlangst von mir, dass ich dir vertraue, willst, dass ich dich heirate? Aber du machst dicht, sobald ich dir nur einen Schritt zu nahe komme! Und eins will ich dir sagen: Mit Eltern aufzuwachsen, die sich hassen, ist auch kein Zuckerschlecken.“
„Wenigstens hattest du ein sicheres Zuhause.“
Hat er das nicht gehabt? „Eine Scheinsicherheit, erkauft mit dem Geld meines Vaters. Meine Mutter war mehr betrunken als nüchtern, verschwand manchmal für Tage oder Wochen, während mein Vater uns wechselnden Kindermädchen überließ und sich selbst Mätressen ins Bett holte.“
Finn verzog den Mund. „Armes kleines reiches Mädchen.“
Wenn er es darauf anlegt, kann er ein unsensibler Klotz sein, dachte sie wütend. „Ich will nicht mit einem Mann zusammenleben, der mich nicht liebt.“
„Mit Stuart warst du ziemlich lange zusammen. Selbst ein Blinder hätte gesehen, dass er dich nicht liebt.“
Evie schnappte nach Luft. Wie konnte er so grausam sein? Bis heute hatte sie die Demütigung nicht vergessen. „Wenigstens hat er so getan, als würde ich ihm etwas bedeuten. Ich bezweifle, dass du dazu in der Lage wärst!“
„Ich soll dir also etwas vormachen? Dich belügen? Okay, Evie, ich liebe dich. Lass uns heiraten.“
Verletzt und den Tränen nahe wandte Evie sich ab. „Fahr zur Hölle, Finn!“, stieß sie hervor und stürmte aus dem Zimmer.
In seinem Kopf herrschte Chaos, als Finn eine halbe Stunde später die Feuertreppe zu seinem Penthouse-Apartment hinauflief. Wieder einmal streikte der Fahrstuhl, doch Finn kam der Workout nicht ungelegen. Er vermisste seine täglichen Runden im Meer vor Beach Haven noch immer.
Schwer atmend blieb er im fünften Stockwerk stehen und gönnte sich einen flüchtigen Blick über den Hafen. Die Aussicht, die man von den Kirribilli-Views-Wohnungen hatte, war einfach grandios.
Die Tür ging auf, und er stand Ava Carmichael gegenüber. Im ersten Moment überrascht fing sie plötzlich breit an zu lächeln. „Wir sollten wirklich damit aufhören“, meinte sie.
Finn brummte etwas Unverständliches. Natürlich erinnerte er sich an ihre letzte Begegnung im Treppenhaus. Damals hatte Ava auf einer der Stufen gesessen und bitterlich geweint, weil ihre Ehe zu zerbrechen drohte. Es war nicht die einzige kritische Situation, die sie hier miteinander erlebt hatten. Finn verständigte ihren Mann, als Ava eine Fehlgeburt hatte, und Ava war für ihn da, nachdem seine Haushälterin ihn bewusstlos auf dem Fußboden seiner Wohnung gefunden hatte.
Nicht dass sie jemals darüber gesprochen hätten. Für eine Therapeutin war Ava sehr zurückhaltend. Meistens jedenfalls. Dennoch hatte sie bei ein paar Gelegenheiten Tacheles mit ihm geredet.
Das gefiel ihm an ihr.
Noch besser war, dass sie beide jene schwarzen Zeiten überwunden hatten. Finn hatte sich von seiner Operation vollständig erholt, und Ava und James waren wieder ein Paar, glücklich und seit einigen Monaten stolze Eltern eines Sohnes.
„Ich hatte schon gehört, dass du wieder da bist“, fuhr sie fort. „Es freut mich, dass du wieder ganz gesund bist. Obwohl …“ Sie beäugte ihn kritisch. „… du im Moment nicht gerade blendend aussiehst.“
Fast hätte er laut aufgestöhnt. Mussten ihm alle Frauen heute ins Gesicht sagen, dass er schrecklich aussah? „Was machst du hier? Wohnst du nicht in einem netten Häuschen mit weißem Gartenzaun?“
„Nur ein Besuch im alten Revier.“
Finn wandte sich ab und sah aus dem Fenster. Ava wusste, dass sie entlassen war. Er erwartete, dass sie weiterging und ihn in Ruhe ließ. Aber es fiel ihr schwer. Der Topchirurg strahlte eine Einsamkeit aus, die ihr zu Herzen ging.
Während sie noch zögerte, drehte er sich zu ihr um. „Du bist doch Therapeutin?“
Ava lachte. „Finn, ich bin Sexualtherapeutin.“
„Aber du hast einen Abschluss in Psychologie, oder?“
Sie nickte. „Möchtest du reden?“
Das wollte er genauso wenig, wie er Vater werden wollte … Aber Ava Carmichael hatte nie um den heißen Brei herumgeredet. Und im Moment konnte er einen erhellenden Einblick in die weibliche Psyche sehr gut gebrauchen.
„Evie ist schwanger. Ich habe vorgeschlagen, dass wir heiraten. Sie will nicht. Ich muss sie dazu bringen, dass sie Ja sagt.“
Ava blinzelte verwirrt. Das waren ja Neuigkeiten!
„Okay …“ Sie ging zu ihm, lehnte sich gegen die Fensterbank. „Du sagtest ‚vorgeschlagen‘. Wie genau?“
„Ich habe gesagt, wir sollten heiraten.“
„Lass mich raten … du bist nicht vor ihr auf die Knie gesunken und hast ihr einen herzbewegenden Antrag gemacht? Sondern es so ausgedrückt, als wäre es ganz praktisch?“ Finn wich ihrem prüfenden Blick aus. „Stimmt’s?“, fragte sie mit Nachdruck.
Mit grimmiger Miene wandte er sich ihr wieder zu. „Es war … eher spontan. Wenn wir heiraten, dann nicht im Wolkenkuckucksheim, sondern weil es tatsächlich praktisch ist. Wir geben unserem Kind eine richtige Familie mit Mutter und Vater unter einem Dach. Evie ist nicht der Typ, der romantisches Trallala braucht.“
„Ach, und woher weißt du das?“
Wieder wich er ihrem Blick aus. „Sie liebt mich, Ava, das weiß ich. Warum Spielchen spielen? Mein Vorschlag ist gut. Ich bekomme, was ich will, und sie, was sie will.“
„Was? Einen Mann, der sie nicht liebt?“
Ihre sanfte Frage weckte in ihm das Bedürfnis, mit der Faust gegen das Fenster zu schlagen. „Hör zu, Ava … es ist kompliziert. So, wie ich aufgewachsen bin …“ Ausgeschlossen, er konnte nicht mit ihr darüber reden, und wenn sie fünf Doktortitel in Psychologie hätte. „Das will ich für mein Kind nicht!“
„Erzähl es ihr, Finn. Nicht mir.“
„Das kann ich nicht.“
Ava zog es das Herz zusammen, als sie die Trostlosigkeit in seinen Augen sah. „Erinnerst du dich noch an das, was ich vor einiger Zeit gesagt habe? Dass es Folgen haben wird, wenn du Evie immer wieder von dir stößt? Dass eines Tages etwas geschehen wird und du unverhofft aus ihrem Leben ausgeschlossen bist? Dann, wenn du es dir am allerwenigsten wünschst?“
Ja, genau das hatte sie ihm prophezeit. „Ist das dein Ernst?“, knurrte er. „Du kommst mir mit einem ‚Hab ich’s dir nicht gesagt?‘ Wo hast du dein Examen gefunden, in einer Cornflakes-Packung?“
Ava lächelte. „Schoko-Pops, wenn du’s genau wissen willst.“
„Toll.“ Er sah wieder aus dem Fenster. „Und was mache ich mit ihr?“
„Vielleicht wird es Zeit, dass du dich endlich öffnest. Ihr zeigst, dass du ihr vertraust, und von dir erzählst.“
Finn lehnte die Stirn an das kühle Glas. Genauso gut hätte sie ihm vorschlagen können, sich splitterfasernackt an den Empfang der Chirurgie zu stellen. „Was? Keine Pille?“
„Tut mir leid, nein.“
„Du bist eine lausige Therapeutin.“
Sie lachte hell auf. „Was erwartest du für lau?“