Eine Stunde später hatte Evie zum ersten Mal Milch abgepumpt, und sie sah zu, wie ein Milliliter über die Magensonde in Isaacs schmalen Körper floss.
Finn bestand darauf, dass sie sich endlich wieder hinlegte. Die Schatten unter ihren Augen waren noch dunkler geworden, und sie hing mehr in ihrem Rollstuhl, als dass sie saß.
„Und du? Du hast noch gar nicht geschlafen.“
„Ich habe kein Kind zur Welt gebracht und keine Notoperation hinter mir. Schlaf kann ich heute Abend in meinem Büro nachholen.“ Auf der erstaunlich bequemen Couch hatte er schon manche Nacht verbracht.
Obwohl er Isaac nicht allein lassen wollte, musste er zugeben, dass es guttat, sich die Beine zu vertreten. Bella und Lexi blieben solange bei dem Kleinen.
Evie schwieg, während er sie zu ihrem Zimmer schob. Seine Besorgnis wuchs. „Alles okay?“, fragte er, als er den Rollstuhl neben ihr Bett fuhr. „Hast du Schmerzen? Fühlst du dich nicht wohl?“ Finn legte die Hand an ihre Stirn. Fieber schien sie zum Glück nicht zu haben.
Sie schloss die Augen, genoss den flüchtigen Moment, seine Finger auf der Haut zu spüren. „Mir geht’s gut. Bin nur müde.“
Verwundert merkte er, dass sie seinem Blick auswich. „Du musst ausgeruht sein, wegen der Milchproduktion.“
Als Ärztin stimmte sie ihm zu. Oft genug hatte sie ihren Patientinnen das Gleiche erzählt und ihnen noch ein Merkblatt in die Hand gedrückt. Aber von Finn wollte sie so etwas nicht hören. Sie sehnte sich danach, dass er sie in die Arme nahm, sie streichelte und ihr sagte, wie schön und wundervoll sie sei.
Natürlich würde er das nicht tun. Erstens, weil Finn nicht der Typ dafür war, zweitens, weil sie keine Schönheit war – eher im klassischen Sinn interessant –, und drittens hatte sie vermutlich noch nie unattraktiver ausgesehen als jetzt. Allerdings spielte es wahrscheinlich keine Rolle, wie man aussah, wenn man nicht mehr Frau, sondern nur noch Milchquelle für ein Frühchen war.
„Bist du jetzt die Milchpolizei?“ Es klang nicht ganz so scherzhaft, wie sie es vorgehabt hatte.
Irgendetwas hat sie, dachte Finn und überlegte genau, was er sagte. „Kolostrum ist sehr wichtig für Isaacs Immunsystem.“
Typisch Finn mit seinem medizinischen Tunnelblick! Für ihn zählten nur Fakten. Evie atmete tief durch, um sich nichts anmerken zu lassen. „Ja, ich weiß.“ Sie schob ihn beiseite und kroch in ihr frisch gemachtes Bett.
Fast hätte sie laut aufgestöhnt, als die kühle Decke sich an ihre Haut schmiegte. Was für eine Wohltat!
Finn betrachtete sie. Blass, mit geschlossenen Augen lag sie da, und das Gefühl, dass etwas nicht stimmte, verstärkte sich. „Evie …?“
Er zögerte, weil er nicht wusste, wie er seine Befürchtungen formulieren sollte. Ihr Hormonhaushalt musste völlig durcheinander sein, da konnte man schnell etwas Falsches sagen. Auch wenn es von dem Mann kam, der sie liebte.
„Du wirkst niedergeschlagen … und du weißt ja, dass … PND schon bald nach der Entbindung einsetzen kann … vor allem bei Müttern von Frühchen.“
Evie seufzte. Fakten, schon wieder Fakten. „Finn“, sagte sie scharf, öffnete die Augen und blickte ihn ungehalten an. „Ich habe gerade erst ein Siebenmonatskind zur Welt gebracht, das auf der Intensivstation liegt, zwei Stockwerke von mir entfernt. Ich fühle mich wie der letzte Versager und könnte heulen vor Sehnsucht, weil ich es nicht in den Armen halten kann. Ja, ich bin niedergeschlagen. Und nein, ich habe keine Wochenbettdepression!“
Finn setzte sich auf die Bettkante und griff nach ihrer Hand. „Ach, Evie …“
Sie entzog sie ihm wieder. Sie wollte nicht bemitleidet werden. „Geh einfach, Finn, okay? Geh wieder zu Isaac. Ich bin hundemüde und kann nicht mehr klar denken. Mir geht es bestimmt besser, wenn ich geschlafen habe.“
Widerstrebend stand er auf. „Ruf mich an, wenn du wach bist, ich hole dich dann ab.“
Evie nickte. Der Kloß in ihrer Kehle wurde größer. Vielleicht hatte Finn recht. Vielleicht hatte sie doch den Babyblues.
Er beugte sich vor, küsste sie leicht auf die Stirn. „Ich liebe dich, Evie“, sagte er und ging.
Endlich konnte sie ihren Tränen freien Lauf lassen. Sie wusste nicht, was ihr mehr das Herz brach … die hingeworfenen Worte oder der flüchtige Kuss. Seine Liebeserklärung – die zweite – war nicht inniger gewesen als dieser Kuss. Er hätte ihn auch einer alten Großtante mit Pergamenthaut und Hexenhaaren am Kinn geben können …
War das alles, was sie in Zukunft erwartete? Dass sie an erster Stelle Mutter war und sonst nichts? Wütend wischte sie sich die Tränen ab. Ohne mich, dachte sie. Ich lasse mich nicht auf ein Podest stellen!
Gegen fünf Uhr morgens wachte Evie auf. Sie hatte lange geschlafen und fühlte sich besser. Noch etwas schwach auf den Beinen machte sie sich auf den Weg zur Intensivstation, um Milch abzupumpen. Kurz nachdem Finn gegangen war, hatte Marco sie besucht und erklärt, dass er mit ihren Werten zufrieden sei. Er entfernte die Infusionskanüle und meinte, er könne Evie am nächsten Tag entlassen, falls ihr Zustand über Nacht stabil blieb.
Finn saß an Isaacs Bettchen, und Evie blieb am Türrahmen stehen, um die beiden zu betrachten. Der Anblick schnitt ihr ins Herz. Auf Finns markantem Gesicht lag ein unbeschreiblich zärtlicher Ausdruck von Liebe.
Und obwohl sie sich gewünscht hatte, dass er seinen Sohn liebte, war sie plötzlich eifersüchtig.
Evie fühlte sich miserabel. Wie konnte sie nur so egoistisch sein? Sie brauchte all ihre Kraft, all ihre Energie für ihr Kind. Es schadete ihr nur, sich über Finn Gedanken zu machen.
Ihre Pantoffeln schlurften über den Boden, als sie langsam zum Bettchen ging. Evie legte Finn eine Hand auf die Schulter, und er drehte sich um. Er sah müde aus und gleichzeitig so sexy, dass sehnsüchtige Liebe sie wie eine Welle überschwemmte.
„Morgen“, murmelte sie. „Wie geht es unserem kleinen Krieger?“
Finn lächelte und sprang von seinem Stuhl auf, damit sie sich setzen konnte. „Gut. Sie haben die Sauerstoffzufuhr verringert, und er kommt ausgezeichnet damit klar.“
„Hast du geschlafen?“
„Nein“, meldete sich die Krankenschwester zu Wort.
„Ich bin immer mal wieder eingenickt“, verbesserte Finn.
Evie blickte zu ihm hoch. Um Mund und Augen hatte er tiefe Linien, so als hätte er hundert Jahre nicht geschlafen. „Du siehst fertig aus.“
„Alles in Ordnung. Aber du, du siehst sehr viel besser aus.“
„So fühle ich mich auch.“
Finn drückte ihr die Schulter. Gestern hatte er sich große Sorgen um sie gemacht, doch jetzt erinnerte sie ihn wieder an die alte Evie. „Gut.“
„Dann gehe ich Milch abpumpen …“ Sie streichelte den Arm ihres Sohnes, der ihr zugewandt lag. Es war ein wundervolles Gefühl, seine samtige warme Haut unter dem Finger zu spüren. „Danach bleibe ich hier, bis ich um elf wieder in meinem Zimmer sein muss – zu Marcos Visite, er will mich heute entlassen. Hinterher komme ich wieder her. Ich möchte, dass du dich dann schlafen legst.“
„Okay, ich lege mich für ein paar Stunden in mein Büro.“
„Nichts da, Finn. Du brauchst eine Dusche, eine anständige Mahlzeit und ein richtiges Bett. Fahr nach Hause. Ruh dich aus.“
Sein Beschützerinstinkt erwachte. „Ich kann dich nicht den ganzen Tag allein hier sitzen lassen. Du brauchst mehr Ruhe als ich.“
Ja, ja, wegen der Milch. Aber sie sprach es nicht aus. Warum deshalb streiten? „Bella und Lexi werden auch hier sein. Sie achten schon darauf, dass ich mich bewege, und werden mich sicher nicht verhungern lassen. Und da du deine OP-Termine in dieser Woche verschoben hast, darfst du hier gern wieder die Nachtschicht übernehmen.“
Finn lachte. „Vielen Dank.“
Aber ihr Angebot war verlockend. Er steckte seit fast sechsunddreißig Stunden in denselben Klamotten. Und wenn Ava Gladys nicht überredet hätte, sie in seine Wohnung zu lassen, hätte er immer noch keine Schuhe an. Eine frische Zahnbürste und Zahnpasta hatte er von einer der Krankenschwestern bekommen.
Er blickte auf Isaac hinunter und zögerte. Wenn nun irgendetwas passierte, während er weg war? Sein kleiner Sohn lag nicht umsonst auf der Intensivstation – auch wenn sein Zustand zurzeit stabil war.
„Ich rufe dich sofort an, wenn etwas ist.“ Evie ahnte, was in ihm vorging. „Versprochen.“
„Okay. Danke.“
Kurz vor drei Uhr war er wieder da.
Finn hatte gegessen, geduscht und wie ein Stein geschlafen. Zwei Stunden länger als geplant. Er machte schnell einen Abstecher in die Stadt, um etwas zu erledigen, was er schon vor Wochen hätte tun sollen. Anschließend fuhr er seinen Wagen in die Garage von Kirribilli Views und ging zu Fuß zum Krankenhaus. Es war ein herrlicher Tag, und außerdem konnte er dabei in Ruhe planen, wie es weitergehen sollte.
In der Kantine holte er zwei Becher Kaffee und ein paar Snacks für heute Abend.
„Hi“, sagte er gut gelaunt, als er Isaacs Zimmer betrat.
Evie wechselte dem Kleinen gerade die Windel. „Puh“, meinte sie zu Finn. „Ich hätte nie gedacht, dass mich eine volle Windel glücklich macht!“
Aber bei einem Frühchen war ein funktionierender Darm wirklich ein Grund zum Feiern.
Finn hielt den Atem an. Ihre Augen leuchteten, und ihre Wangen waren sanft gerötet. Warum hatte er so lange gebraucht, um zu begreifen, wie sehr er sie liebte? Jetzt musste er nur an sie denken, und ihm floss das Herz über!
Er lachte. „Braver Junge.“
Lexi schüttelte den Kopf und erklärte sie beide für verrückt.
Während Evie den Kleinen versorgte, blieb Finn neben ihr stehen, sprach leise mit seinem Sohn, der von Zeit zu Zeit ungnädig über die Störung die Augen öffnete, bevor sie ihm gleich wieder zufielen.
Als Isaac in seinem Bettchen lag, reichte Finn Evie einen Kaffee und überließ seinen Lexi. Die Schwestern erzählten ihm, wie der Tag verlaufen war, einschließlich der guten Neuigkeit, dass die Sauerstoffgaben weiter reduziert worden waren.
„Du bist genau richtig gekommen“, meinte Evie zu Finn. „Ich wollte gerade Milch abpumpen gehen. Du kannst solange Lexi unterhalten.“
Finn blickte auf. „Lexi, macht es dir etwas aus, eine Weile allein hierzubleiben? Ich wollte mit deiner Schwester reden.“ Er sah zu Evie hinüber. „Wenn es dir recht ist.“
Sein intensiver Blick machte sie atemlos. Bei dem Trubel der letzten Tage hatte sie fast vergessen, wie tief sie sich in diesen blauen Augen verlieren konnte. Es war wie eine zärtliche Berührung, die sie am ganzen Körper spürte.
Evie fragte sich, ob es ihr peinlich wäre, wenn Finn ihr beim Abpumpen zusah. Es war ja nicht so, dass er sie noch nie nackt gesehen hatte. Du meine Güte, wir haben Isaac gezeugt! Dennoch zögerte sie. Er hatte sie bereits in die Mutterschublade gesteckt – das würde ihn darin doch nur bestärken.
Lexi besaß feine Antennen. „Ach, Finn, lass doch die arme Frau mit ihren tropfenden Brüsten in Ruhe ihre Arbeit machen. Ich beiße nicht, und sobald sie fertig ist, sucht ihr euch ein schönes Plätzchen, wo ihr ungestört reden könnt – ohne das Saugen und Schmatzen einer Milchpumpe als Begleitmusik. Ich bleibe solange bei eurem kleinen Schatz.“
Evie war sichtlich erleichtert, dass ihre Schwester sich einmischte. Finn merkte es, und im Grunde war er Lexi dankbar. Was hatte er sich gedacht? Ein Krankenhauszimmer mit einer gurgelnden Milchpumpe war wirklich nicht das richtige Ambiente für das, was er vorhatte.
„Gute Idee.“ Er lächelte. „Danke.“
Eine Dreiviertelstunde später suchten Finn und Evie sich einen Nischentisch in Pete’s Bar. Hier war es um diese Tageszeit ruhiger als in der Kantine, wo ständig jemand zu ihnen gekommen wäre, um ihnen seine Glückwünsche auszusprechen.
„Ich habe mir gedacht …“, begann Finn, als er für sie ein Mineralwasser und für sich eine Cola auf den Tisch stellte, „… dass du bei mir einziehst, bis das Haus in der Lavender Bay bezugsfertig ist.“
Evie verschluckte sich an ihrem Mineralwasser. Sie hustete, um die feinen Tröpfchen loszuwerden, die ihre Luftröhre belagerten, und brachte kein Wort hervor.
„Habe ich dich schockiert?“, scherzte Finn.
„Ja“, krächzte sie, räusperte sich und trank einen Schluck.
Finn griff über den Tisch nach ihrer Hand. „Für mich macht es Sinn. Wir werden heiraten, sobald Isaac zu Hause ist, und da wir sowieso im selben Gebäude wohnen, wäre es albern, zwei Wohnungen zu halten.“
„Stimmt“, murmelte sie. Unter praktischen Gesichtspunkten hatte er absolut recht. Evie betrachtete seine Hand, die auf ihrer lag. Aber … wo blieben die Gefühle?
So etwas wie: Ich kann keinen Tag länger ohne dich leben oder Ich liebe dich, bleib für immer bei mir.
Sie zog ihre Hand weg. „Finn, ich finde, darüber sollten wir uns im Moment keine Gedanken machen. Ich möchte mich nur um Isaac kümmern, alles andere ist nebensächlich.“
Seine Hand fühlte sich leer an. Finn konzentrierte sich auf das, was sie gesagt hatte. Natürlich kam Isaac an erster Stelle. Das musste jedoch nicht heißen, dass sie völlig erschöpft und kaputt war, wenn der Kleine nach Hause kam.
Nach Hause.
Zum ersten Mal in seinem Leben wärmten ihn diese Worte, anstatt ihn daran zu erinnern, was er immer vermisst und nie gehabt hatte.
Er hatte ein Zuhause. Und eine Familie, die es mit ihm teilte.
„Trotzdem brauchst du einen Platz, wo du duschen und dich umziehen, ein paar Stunden schlafen oder auch deine Mails checken kannst.“
„Das schon, aber ich werde mich dort nicht lange aufhalten. Ich will so oft wie möglich bei Isaac sein, Finn.“ Ihr wurde der Hals eng, wenn sie daran dachte, wie ihr kleiner Junge allein in dem sterilen Krankenhauszimmer lag. „Für einen Umzug wird gar keine Zeit sein.“
Er verstand, was sie meinte. Auch wenn Isaac von Tag zu Tag kräftiger wurde, so ertrug auch Finn kaum den Gedanken, ihn in der Obhut von Fremden zu lassen. „Okay, gut, aber …“ Er griff in seine Jackentasche und holte ein weinrotes Samtkästchen heraus. „Das ist für dich.“
Finn öffnete es, und drinnen auf schwarzem Samt thronte ein Einkaräter im Princess-Schliff – eine Prinzessin für seine Prinzessin. Der Diamant funkelte im gedämpften Licht der Tischlampe, als Finn das Kästchen zu Evie hinschob. „Mir ist eingefallen, dass ich dir noch keinen gegeben hatte. Das hatte ich versäumt. Ich möchte, dass du ihn trägst, damit alle wissen, dass wir eine Familie sind.“
Evie war froh, dass sie gerade nichts trank. Sonst wäre sie diesmal bestimmt daran erstickt. Ihr Puls raste, als sie die Schachtel nahm und den Ring betrachtete – ein viereckiger Diamant in einer antiken Platinfassung.
„Er ist schön“, flüsterte sie. Einen solchen Ring hätte sie sich auch ausgesucht, und für einen winzigen Augenblick lang wollte sie ihn aus seinem Samtbett holen und aus der Nähe bewundern. „Er muss dich ein Vermögen gekostet haben.“
„Für die Mutter meines Sohnes ist mir kein Preis zu hoch.“
Ein hysterisches Schluchzen stieg in ihrer Kehle auf, und Evie unterdrückte es nur mit Mühe. Wie sehr sehnte sie sich danach, sich diesen Ring auf den Finger zu schieben und ihn nie mehr abzunehmen.
Finns Frau zu werden.
Doch wenn sie das tat, würde sie ihre Träume und Sehnsüchte verleugnen. Sich für immer aufgeben, weil sie auf das verzichtete, was sie sich von Finn am meisten wünschte … seine aufrichtige Liebe.
Entschlossen ließ sie den Deckel zuschnappen und schob das Kästchen zurück, den Blick fest auf die feuchten Rinnsale an ihrem Glas gerichtet. „Ich werde dich nicht heiraten, Finn.“
„Was?“ Seine Hoffnungen zitterten wie Seifenblasen im Wind, und Finn erinnerte sich wieder daran, dass Evie ihm gestern nicht in die Augen hatte sehen können. Wie jetzt auch.
Sie rührte mit ihrem Strohhalm im Glas. „Ich weiß, dass ich etwas anderes gesagt habe, aber … das war vor alldem hier.“
Finn legte eine Hand auf ihre, stoppte damit das nervöse Rühren. „Sieh mich an, Evie.“
Bemüht, ihm nicht zu zeigen, wie verletzt sie war, blickte sie ihn ausdruckslos an.
„Was ist los?“, fragte er.
Evie seufzte. Dieser tolle, umwerfende Mann hatte wirklich keine Ahnung. Was würden Lexi oder Bella in dieser Situation zu ihm sagen? „Du machst miserable Heiratsanträge, Finn Kennedy.“
Er schnaubte abfällig. Frauen! Das ganze Theater nur, weil er nicht vor ihr auf die Knie gegangen war? „Tut mir leid, dass ich keine Zeit hatte, einen Flashmob und ein Feuerwerk zu organisieren.“
Tränen prickelten hinter ihren Lidern. Jetzt bloß nicht heulen, nicht hier, wo alle zusehen. „Große Gesten brauche ich nicht“, sagte sie leise. „Ich möchte nur drei kleine Worte hören.“ Sie räusperte sich. „Ich werde dich nicht heiraten, weil du mich nicht liebst.“
Finn traute seinen Ohren nicht. Das war das Absurdeste, was er je gehört hatte! „Doch, natürlich tue ich das. Ich habe es dir schon gesagt.“ Hatte er doch, sogar mehr als einmal.
„Klar.“ Sie klang bitter. „Plötzlich fließt so viel Liebe für Isaac, dass sie alle in deiner Nähe mitreißt und auch auf mich abstrahlt.“
„Nein, das stimmt nicht, Evie.“
„Nicht?“ Ärgerlich beugte sie sich vor. „Ich bin die Mutter deines Kindes, selbstverständlich liebst du mich. Musst du ja. Du hast mich doch längst auf ein verdammtes Podest gestellt, als hochverehrte Mutterfigur, die für Milch und saubere Windeln sorgt!“
Finn hätte sich in den Hintern treten können. „Natürlich bedeutest du mir mehr als das. Ich liebe dich, Evie.“
„Warum zum Teufel schiebst du mir dann einen Ring über den Tisch, mit einem seelenlosen ‚Das habe ich versäumt‘? Wenn du mich lieben, wirklich lieben würdest, als Frau und nicht nur als Mutter deines Sohnes, dann hättest du es mir gesagt. Wie jeder Mann, der der Frau, die er liebt, einen Antrag macht. Du nicht. Und weißt du auch, warum nicht?“ Inzwischen war es ihr egal, ob jemand zuhörte oder nicht. „Weil du es nicht fühlst. Bedaure, Finn.“
Evie stand auf, weil sie es nicht länger ertrug, dass er sie wie vom Donner gerührt anstarrte. „Mir reicht das nicht. Ich weiß, du hattest eine furchtbare Kindheit und wünschst dir ein Zuhause und eine Familie und hast alles so schön geplant. Ich dachte, ich könnte da mitmachen, aber es geht nicht. Ich kann nicht.“ Sie rutschte von der Bank. „Tu mir einen Gefallen und gib mir eine Stunde Zeit mit Isaac, bevor du nachkommst.“
Evie wirbelte herum und verließ fluchtartig die Bar, damit niemand ihre Tränen sah.
Lexi musterte Evie besorgt, als sie mit geschwollenen, geröteten Augen zurückkehrte. Sie wollte sofort ihre Babysitterin anrufen und sie zu bitten, noch etwas länger zu bleiben.
Aber Evie erklärte vage, Finn sei eben Finn, und das zu allem anderen, vor allem ihren Sorgen um Isaac, hätte das Fass zum Überlaufen gebracht. Sie bestand darauf, dass Lexi nach Hause fuhr.
Als Finn im Krankenhaus erschien, hatte sie sich unter Kontrolle.
Er warf ihr einen vorsichtigen Blick zu. „Evie, bitte, können wir miteinander reden …?“
„Hör zu“, unterbrach sie ihn scharf. „Über das, was heute passiert ist, will ich erst wieder sprechen, wenn Isaac sicher und gesund zu Hause ist. Vorerst ist er das einzig Wichtige. Wir können reden, aber nur über ihn, sonst nichts.“
In der letzten Stunde hatte Evie einen Entschluss gefasst: Über Finn nachdenken, seinetwegen weinen, mit ihm streiten, das wollte sie erst, wenn ihr Kleiner wohlbehalten zu Hause war.
„Kann ich mich darauf verlassen?“
Finn wollte protestieren, aber ihre verschlossene Miene hielt ihn davon ab. Nachdem er die Sache mit dem Ring vermasselt hatte, standen seine Aktien schlecht, und er wollte den Graben zwischen ihnen nicht noch tiefer aufreißen. Wenn alles gut ging, würde Isaac in ungefähr einem Monat entlassen werden.
So lange konnte er noch warten.
Danach, das schwor er sich, würde er ihr einen richtigen Antrag machen und ihr beweisen, wie sehr er sie liebte.
„Einverstanden“, sagte er. „Aber sobald Isaac zu Hause ist, reden wir, Evie.“
Sie fröstelte bei dem harten Unterton. „Okay.“
Vier Tage vergingen. Vier Tage steifer Konversation und höflicher Berichte über Isaacs Zustand. Evie blieb tagsüber bei ihm, Finn saß nachts an seinem Bettchen. Der Junge nahm an Gewicht zu, wurde kräftiger und brauchte weniger Überwachungsgeräte.
Am Mittag des vierten Tages durfte Evie ihn endlich zum Kuscheln in die Arme nehmen. Während sie in einem bequemen Sessel saß und Isaac sich leise schnaufend und erstaunlich lebhaft an ihre Brust schmiegte, wünschte Evie, Finn wäre hier. Die Schwester machte zwar ein Foto, aber das war etwas anderes. Einen solchen Moment sollten Eltern miteinander teilen …
Sie hätte weinen können, aber sie drängte die Tränen zurück. Bisher war sie stark gewesen, und sie würde es auch weiterhin sein. Vor allem jetzt wollte sie nicht grübeln. Nicht, wenn sie das Wunder genießen konnte, ihren kleinen Sohn im Arm zu halten. Ein unbeschreibliches Glück, das ihr Herz mit unendlicher Zärtlichkeit erfüllte.
Am fünften Tag wachte Evie in aller Frühe auf und konnte nicht wieder einschlafen.
Ob Finn etwas dagegen hatte, seine Zeit ein bisschen abzukürzen – oder sie mit ihr zusammen zu verbringen? Hier lag sie ja doch nur herum und dachte an Isaac. Außerdem waren ihre Brüste voll.
Vielleicht sollte sie ins Krankenhaus fahren und Milch abpumpen.
Eine halbe Stunde später betrat sie die Station. Als Erstes fiel ihr die Gruppe Schwestern auf, die dort hinten zusammenstanden. Sie bemerkten Evie und winkten sie lächelnd näher. Neugierig, was sie ihr wohl zeigen wollten, ging sie zu ihnen.
Ihr Lächeln verblasste, als sie sah, dass sie Finn beobachteten, der mit Isaac an der Brust durch die Scheibe des Isolationszimmers zu sehen war.
Es war ein berührender Anblick, der ihr den Atem nahm. Wie gebannt betrachtete sie Vater und Sohn.
Meine beiden Lieblinge.
„Der große Finn Kennedy“, flüsterte eine der Schwestern.
„Wer hätte das gedacht?“, antwortete eine andere.
Nicht einmal Finn selbst. Evie ließ die Schwestern allein. Sie blieb am Türrahmen stehen, ohne sich bemerkbar zu machen, wollte das bewegende Bild noch einen Moment genießen.
Finn saß in einem Sessel neben dem Bettchen. Zwischen den Falten der Decke konnte sie seine nackte Schulter sehen, also lag Isaac an Daddys warme Haut gekuschelt.
Evie schluckte, wollte schon eintreten, da hörte sie, dass Finn leise mit seinem Sohn redete. Sie blieb, wo sie war, um ihn nicht zu stören.
„Jetzt hast du’s begriffen, was, mein Kleiner?“, sagte Finn zärtlich. „Ich bin nun mal nicht deine Mummy, da kannst du suchen, solange du willst. Sie kommt nachher. Mit mir wird sie nicht reden, weil sie böse auf mich ist, und außerdem hat sie nur Augen für dich.“
Unbewusst spitzte Evie die Ohren und beugte sich ein Stückchen vor.
„Mein Fehler, kleiner Mann. Ich habe richtig Mist gebaut. Lass dir eins von mir sagen: Frauen mögen schwierig sein, aber letztendlich wollen sie nur, dass man sie liebt. So etwas konnte ich noch nie gut. Auch deinem Onkel Isaac habe ich erst gesagt, dass ich ihn liebe, als er in meinen Armen gestorben ist. Du erinnerst mich an ihn, und ich verspreche dir, dass ich es dir jeden Tag sagen werde. Und deiner Mum auch, falls sie mir noch eine Chance gibt. Glaub mir, Junge, wenn du ‚Ich liebe dich‘ sagst, darf es nie nebensächlich klingen.“
Evie hielt den Atem an.
„Und jetzt denkt sie, dass ich sie nur liebe, weil sie deine Mutter ist. Aber das stimmt nicht. Sie ist die klügste, tollste und schönste Frau, die ich je kennengelernt habe. Und ich bin verrückt nach ihr, doch sie will erst wieder mit mir reden, wenn du nach Hause kommst. Also beeil dich, ja?“
Sie blinzelte die Tränen weg, während sie lauschte.
„Weißt du, ich will keinen Tag länger ohne sie leben. Für dich gilt das Gleiche, Kleiner, und ich liebe dich auch. Aber mit deiner Mutter, das ist etwas anderes. Ich möchte sie halten, sie küssen und all das tun, was Verliebte tun. Das wirst du wahrscheinlich nie verstehen, weil sie deine Mum ist, aber, glaub mir, sie ist verdammt sexy.“
Evie wurde rot.
„Und natürlich liebe ich sie, weil sie deine Mutter ist und dir gibt, was ich dir nicht geben kann. Aber ich liebe sie auch, weil sie mir etwas gibt, was du mir nicht geben kannst – eine andere Art von Liebe. Ich hätte nie gedacht, dass ich das einmal sagen würde, doch ich brauche sie. Und ich möchte ihr die Liebe schenken, die du ihr nicht schenken kannst. Für immer.“
Evie konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten. Sie stieß die Tür auf und war in fünf Sekunden an seiner Seite und küsste ihn. „Warum hast du mir das nicht gesagt, als wir bei Pete waren?“, fragte sie mit schimmernden Augen und tränennassen Wangen.
Finn sah ihr ins Gesicht, das ihm noch nie so schön erschienen war, trotz der Tränenspuren. „Weil ich emotional verbogen und ein Riesendummkopf bin.“
Lachend gab sie ihm noch einen Kuss. „Hast du das alles ernst gemeint? Dass du mich als Frau liebst, nicht nur als Isaacs Mutter?“
„Sicher“, antwortete er lächelnd. „Du wolltest es ja nicht hören, also dachte ich, erzähle ich es ihm.“
Evie hockte sich neben den Sessel und lugte unter die Decke. Zusammengerollt, die dünnen Beinchen angezogen lag ihr Sohn an Finns breiter Brust. „Ich bin froh darüber.“
„Ich auch“, murmelte er. „Es tut mir nur leid, dass ich so lange gebraucht habe, um es zu kapieren. Evie, ich liebe dich. So, wie du bist. Du hast mir geholfen, wieder zu lieben, wieder etwas zu fühlen, und ich brauche dich für immer bei mir.“
Wieder liefen ihr Tränen über die Wangen. „Ich liebe dich auch, Finn.“
Finn küsste sie auf die bebenden Lippen, und es war der süßeste Kuss, den sie jemals bekommen hatte.
„Aber glaub nicht, dass du um Flashmob und Feuerwerk herumkommst“, meinte sie hinterher.
Er grinste. „Ich werd’s mir merken.“
Unter der Decke hervor ertönte ein feines Niesen, und die beiden Eltern sahen sich an, strahlend vor Liebe.