2. KAPITEL

„Nein, das ist schon in Ordnung“, sagte Honey, als sie Mrs Etherington zur Empfangstheke begleitete. „Sie können sie mitnehmen. Ich stelle die Creme selbst her und kann einfach neue machen.“

„Und Sie meinen wirklich, das wird mir bei meiner Arthritis guttun? Ich habe schon so viel probiert, und bisher hat nichts geholfen.“ Mrs Etherington betrachtete den kleinen Cremetopf in ihrer Hand, dann sah sie Honey hoffnungsvoll an.

„Ja, das meine ich. Verwenden Sie die Creme drei Tage lang so, wie ich es Ihnen erklärt habe. Wenn es Ihnen dann noch nicht besser geht, kommen Sie wieder her. Wir können es immer noch mit Akupunktur versuchen.“

„Oh!“ Mrs Etherington riss die Augen auf. Die Aussicht, etwas so Ungewöhnliches auszuprobieren, schien sie zu erschrecken, aber sie schien es auch ein wenig aufregend zu finden.

„Wichtig ist, dass wir herausfinden, was für Sie das Richtige ist.“

„Ja.“ Mrs Etherington nickte. „Danke, Honey.“

„Gerne. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag.“

„Danke, meine Liebe, Ihnen auch. Sie haben ja noch so viele andere Patienten, lassen Sie sich nicht von einer alten Plaudertasche wie mir aufhalten.“ Die für gewöhnlich eher mürrische Miene von Mrs Etherington erhellte sich, als sie sich von Honey verabschiedete und zurück ins Wartezimmer ging. Zweifellos würde sie dort allen von der neuen Ärztin berichten.

Edward hatte das Gespräch mit angehört, während er darauf wartete, dass der alte Mr Winton seinen Rollator in das Sprechzimmer schob. Er kannte Mrs Etherington seit Jahren, aber er hatte sie noch nie so fröhlich gesehen. Als er durch die offene Tür des Wartezimmers blickte, sah er, dass alle Patienten erwartungsvoll und neugierig in eine Richtung schauten – zu Honey.

Sie schien sich der Aufmerksamkeit, die sie erregte, gar nicht bewusst zu sein, sondern plauderte mit Ginny. Die dreiundsechzigjährige Arzthelferin, die die gute Seele der Praxis war, brach gleich darauf in lautes Lachen aus.

Honey griff nach einer Krankenakte und steckte den Kopf ins Wartezimmer, um ihren nächsten Patienten aufzurufen. Mr de Mingo, ein älterer Mann mit Rückenproblemen, der sich für gewöhnlich nur im Schneckentempo fortbewegte, sprang förmlich von seinem Stuhl auf und folgte ihr eifrig ins Sprechzimmer.

Stirnrunzelnd wandte Edward sich ab. Auf keinen Fall konnte er gestatten, dass sie ihre privaten Mixturen an Patienten weitergab. Wer weiß, was sie in diese Creme gerührt hatte. Wenn etwas schiefging, dann war er derjenige, der die Verantwortung trug und sich mit Mrs Etherington auseinandersetzen musste.

Nein, so ging es nicht. Sobald sich die Gelegenheit ergab, würde er mit Honey sprechen und ihr die Regeln klarmachen.

Hinter ihm räusperte sich Mr Winton. „Kommen Sie dann jetzt, Dr. Goldmark?“ Edward zuckte zusammen und wandte seine Aufmerksamkeit seinem eigenen Patienten zu. Er würde sich später mit der neuen Kollegin beschäftigen.

Honey war überrascht, wie freundlich die Patienten auf sie reagierten. Ein oder zwei waren vielleicht etwas zurückhaltend, vor allem wenn sie alternative Behandlungsmethoden vorschlug, aber alles in allem lief es wunderbar.

Das galt allerdings nicht für Edward. Er hatte sich die ganze Zeit bemüht, sie auf Abstand zu halten, während er ihr die Arbeitsroutine der Praxis erläuterte.

Er hatte ihr erzählt, dass der Ort in den Sommermonaten von Campern, Wanderern und Anglern überrannt wurde, während im Winter Skifahrer und Snowboarder nach Oodnaminaby kamen und neben den einheimischen Patienten für Arbeit sorgten.

Das meiste hatte Lorelai ihr schon am Telefon erzählt, aber Honey bemühte sich dennoch, Edward aufmerksam zuzuhören. Er war ein sorgfältiger Mensch, der ungern etwas dem Zufall überließ, so viel war ihr jetzt schon klar. Er hatte ihre Unterlagen kopiert, ordentlich zusammengeheftet und dann abgelegt. Alles hatte seine Ordnung.

„Ginny hat unser Ablagesystem vor Ewigkeiten entwickelt, und es hat sich bewährt“, hatte er erläutert.

„Haben Sie wieder Angst, dass ich etwas durcheinanderwirbele?“, hatte Honey grinsend erwidert.

„Nun ja, ich denke da eher an Ginny. Sie hat inzwischen gelernt, mit einem Computer umzugehen, aber das war schwierig genug.“

„Auch wenn Sie es sich nicht vorstellen können, Edward, ich bin hier, um Ihnen zu helfen.“ Das war es, was Honey immer hatte tun wollen. Schon als Kind hatte sie sich um verletzte Tiere gekümmert. Ihre Eltern hatten sie unterstützt – zumindest so lange, bis sie entschieden hatte, dass sie Medizin studieren wollte.

Als Lorelai in die Praxis gekommen war, hatten die beiden Frauen einander so herzlich umarmt, als würden sie sich seit Jahren kennen.

„Du bist noch hübscher als auf den Fotos“, erklärte Lorelai.

„Du hast Fotos von mir gesehen?“

„Ja, bei Peter und Annabelle. Von deinem Besuch in Queensland.“

„Oh ja.“ Honey nickte. „Da war mein Haar noch kürzer. Und schwarz, oder?“

„Ja.“ Grinsend berührte Lorelai eine der bunten Strähnen. „Aber so gefällt es mir auch gut.“ Sie drehte sich zu Edward um. „Oder was meinst du? Sieht sie nicht toll aus?“

Die Frage brachte ihn in Verlegenheit. Edward wollte lieber nicht darüber nachdenken, ob ihm Honeys Frisur gefiel oder nicht. Er murmelte etwas Unverständliches und verschwand dann schnell in seinem Sprechzimmer.

Er fragte sich, wie gut Honey mit ihrer neuen Aufgabe zurechtkommen würde. Er hatte ihren Lebenslauf gelesen und war beeindruckt. Neben ihrem Medizinstudium hatte sie einen Abschluss in Psychologie und sich zudem in Geburtshilfe, Naturheilkunde und Akupunktur weitergebildet.

Angesichts ihrer erst neunundzwanzig Jahre fragte Edward sich, wie sie daneben noch Zeit für ein Privatleben fand. Er konnte einen Anflug von Neid nicht unterdrücken, weil sie schon so viele Dinge erreicht hatte, die er sich auch einmal vorgenommen hatte.

Er war gerade dabei gewesen, seine weitere Ausbildung und Spezialisierung zu planen, als das Schicksal zugeschlagen hatte. Aus der Karriere als Chirurg in Canberra, von der er geträumt hatte, war nichts geworden. Stattdessen hatte er die Verantwortung für seine Geschwister übernommen und seine gesamte Lebensplanung umgeworfen.

Das galt auch für seine Beziehung zu Amelia.

Bei dem Gedanken an die Frau, die er einmal heiraten wollte, spürte er noch immer den vertrauten Schmerz. Es war mehr als sieben Jahre her, dass er ihr einen Antrag gemacht hatte, und sieben Jahre, dass sie ihn abgelehnt hatte. Ihre Worte hatte er nie vergessen.

„Edward, ich liebe dich. Das tue ich wirklich, aber ich bin nicht dafür gemacht, in einer Kleinstadt zu leben und Ersatzmutter für deine Brüder zu spielen. Ich will mich um meine Karriere kümmern, eine Heirat kann ich mir im Moment gar nicht vorstellen. Und außerdem …“ Sie konnte ihre Freude nicht unterdrücken. „Ich wollte es dir erst später sagen, aber ich bin für die Chirurgenausbildung in Melbourne angenommen worden. Ist das nicht großartig?“

Er hatte mit einem höflichen Murmeln auf ihre Nachricht reagiert. Noch heute konnte er nicht recht fassen, dass Amelia seinen Antrag einfach beiseitegeschoben hatte und sich angesichts der Tragödie seiner Familie nur für sich selbst interessiert hatte.

Mit der Zeit war ihm klar geworden, dass sie nicht glücklich miteinander geworden wären. Im Grunde konnte er Amelia dankbar sein. Er hatte erwartet, dass sie ihre Träume für ihn aufgab, nur weil er das auch tun musste. Das war falsch gewesen … Aber hätte sie ihn wirklich geliebt, wäre sie dazu bereit gewesen.

Es war nicht so, dass Edward seine Brüder nicht liebte. Das tat er, auch wenn Hamilton ihn zurzeit wahnsinnig machte. Nach dem Tod seiner Eltern war Edward mit vierundzwanzig Jahren zu ihrem gesetzlichen Vormund geworden und hatte viele Opfer gebracht. Benedict war damals dreizehn gewesen, Hamilton erst neun. Die Zwillinge Bart und Peter waren zwanzig und hatten gerade angefangen, auf eigenen Beinen zu stehen. Irgendwie hatten sie es geschafft und die Familie zusammengehalten, aber Edward hatte seine eigenen Pläne und Träume an dem Tag begraben, als seine Eltern starben.

Er wusste, sie hätten es sich gewünscht, dass er die Praxis weiterführte, und er hatte dabei viel Unterstützung bekommen. Aber was war mit seinen eigenen Wünschen?

Niemand hatte Edward je gefragt, ob er mit seinem Leben eigentlich glücklich war. In gewisser Weise war er das. Aber am Ende des Jahres würde Hamilton die Schule beenden und wahrscheinlich ausziehen. Was war dann?

Seine neue Vertretungsärztin, so ungewöhnlich ihr Äußeres auch war, schien einen Plan im Leben zu haben, und wenn er nur darin bestand, einen Ort zu finden, an dem sie einmal Kinder großziehen konnte. Bei der Vorstellung von Honey mit einer kleinen Schar Kinder um sich herum, die sich alle mit ausgestreckten Armen im Sonnenschein im Kreis drehten, musste Edward lächeln.

Er warf noch einen Blick auf ihren Lebenslauf und stellte fest, dass ihr vollständiger Name Honeysuckle lautete. Honeysuckle Huntington-Smythe. Ein verrückter Name für eine verrückte Person.

Dann jedoch fiel ihm ein, wo er den Namen schon einmal gehört hatte. Und bei der Erinnerung an sein Gespräch mit Honey über ihr Auto, rief er laut auf: „Hubert Huntington-Smythe ist ihr Großvater?“ Der Mann war einer der führenden australischen Neurochirurgen gewesen, bevor er vor einigen Jahren in den Ruhestand gegangen war.

Kopfschüttelnd legte Edward den Lebenslauf zur Seite und griff nach seinem leeren Kaffeebecher. In der kleinen Küche der Praxis traf er auf Lorelai, die mit geschlossenen Augen auf einem Stuhl saß, die Füße in Honeys Schoß. Die neue Kollegin massierte ihre Füße und erklärte: „Eigentlich geht es nur um Druckpunkte. Wenn ich genau hier, an deinem großen Zeh, drücke, dann lindert das die Schmerzen und hilft dir, zu entspannen.“

„Das fühlt sich wirklich gut an“, murmelte Lorelai mit einem wohligen Seufzer.

„Ich kann deinem Mann zeigen, wie es geht. So kann er dir ein bisschen helfen.“

Lorelai öffnete kurz die Augen. „Das wird John nicht machen. Er findet es furchtbar, dass ich schwanger bin. Er will auch bei der Geburt nicht dabei sein.“

„Ich verstehe“, sagte Honey ruhig. „Dann ruf mich einfach an, wenn die Schmerzen wieder schlimmer werden.“

Edward hielt sich nur mit Mühe zurück. Lorelais Ehemann John war ihm zutiefst unsympathisch, aber sie hatte ihn nun mal geheiratet, und daher bemühten er und seine Brüder sich, mit dem Mann klarzukommen. Lorelai und ihr Vater BJ gehörten schließlich fast zur Familie.

„Auch wenn ich nachts um drei Rückenschmerzen bekomme?“, fragte Lorelai grinsend.

„Ja, auch dann“, sagte Honey eindringlich. „Das sind unnötige Schmerzen, und du hast schon genug Stress. Außerdem werde ich wahrscheinlich sowieso viel Freizeit haben, ich kenne ja hier niemanden. Ich meine es ernst, Lorelai.“

„Hach, ich wünschte, ich hätte schon früher von diesen Akupunkturpunkten gewusst.“ Lorelai seufzte noch einmal.

Edward hielt das für den geeigneten Moment, um sich einzumischen. Er trat an die Spüle, um seinen Becher auszuwaschen. „Wenn du nicht aufpasst, wirst du noch in diesem Stuhl dahinschmelzen, Lore.“

„Ach, Edward. Honey hat magische Hände. Habe ich dir nicht gesagt, dass ich die perfekte Ärztin gefunden habe?“, fragte Lorelai.

Edward betrachtete Honey, die ihrer Freundin ein belustigtes Lächeln zuwarf. Schnell wandte er sich wieder zur Spüle. Je öfter er Honey ansah, desto stärker wurde ihre Anziehungskraft. Ihr Gesicht war völlig ungeschminkt, das bunte Haar hatte sie mit einem roten Band einfach zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, und ihre Kleidung war alles andere als modisch. Sie war überhaupt nicht sein Typ, aber dennoch konnte er die Augen kaum von ihr abwenden.

Während er das Geschirr in der Küche zusammenräumte, lauschte Edward unwillkürlich auf das Gespräch der beiden Frauen. Honey sprach in ruhigem Ton auf Lorelai ein, während sie weiter ihre Füße massierte. Wieder lag dieser Duft in der Luft, den er jetzt schon nach wenigen Stunden fest mit Honey verband.

Faszinierend. Unwiderstehlich.

„Lorelai?“ Ginny betrat die Küche. Edward fühlte sich wie ertappt und begann, den Kessel mit Wasser zu füllen, um etwas zu tun zu haben. „Ach, hier seid ihr alle.“ Die Empfangsschwester warf einen schnellen Blick zwischen ihnen hin und her. „Oh, ich nehme bitte auch einen Tee, Edward.“ Mit einem leichten Zögern fuhr sie fort: „Lorelai, dein Mann ist am Telefon. Und Honey, die erste Patientin für den Nachmittag hat abgesagt, daher habe ich dir noch zwei von Lorelai gegeben.“

„Ja, kein Problem.“ Honey lächelte und half Lorelai beim Aufstehen. „Wie wär’s denn, wenn Edward und ich alle Patienten von Lorelai übernehmen würden? Sie sollte nach Hause gehen und sich ausruhen.“

„Nein, Unsinn. Ich …“ Ihr eigenes Gähnen unterbrach Lorelais Proteste.

„Ich finde, Honey hat recht“, sagte Edward, während er den Tee für Ginny zubereitete. Er drehte sich um und betrachtete die drei Frauen – zwei von ihnen waren fast Teil seiner Familie, wie Mutter und Schwester. Die dritte … Nun ja, er versuchte, sich selbst einzureden, dass sie nur eine neue Kollegin war.

„Sehr gut, sicher möchte niemand mit Edward streiten“, erwiderte Honey. „Also, ab nach Hause mit dir, Lorelai.“

„Prima Idee“, stimmte auch Ginny zu und schob Lorelai aus der Küche. „Ihr zwei könnt euch dann auf die nächsten Patienten vorbereiten. Allerdings erst wenn ich meinen Tee habe“, fügte sie mit einem Augenzwinkern hinzu.

Honey lachte leise. Edward beschäftigte sich wieder mit dem Tee, aber er spürte, wie Honey aufstand und sich ihm näherte. Sie waren jetzt allein in der Küche.

„Ich nehme auch noch einen Tee bitte“, sagte sie, als sie direkt neben ihm stand. Edward achtete darauf, sie nicht zu berühren, aber das funktionierte nur, bis Honey sich zur Seite beugte, um eine Tasse aus dem Schrank zu holen. Ihr nackter Oberarm streifte seine Brust.

Bei der Berührung zuckte sie zusammen und drehte sich zu ihm. „Oh, sorry. Ich …“ Zum ersten Mal schien Honey ein wenig verunsichert. „Ich wollte Sie nicht … Sagen Sie, Edward, haben wir uns schon einmal getroffen?“

Sein Mund wurde trocken, als sie ihn so aufmerksam musterte. Wenn sie ihn ansah, hatte er das Gefühl, dass sie ihm ihre ganze Aufmerksamkeit widmete. Er räusperte sich. „Daran würde ich mich erinnern.“ Zitterte seine Stimme etwa?

„Ja, ich auch, aber dennoch …“ Honey lehnte sich etwas vor, ihr Blick streifte seinen Mund. „Vielleicht sind wir uns im Traum begegnet. Ich habe das Gefühl, es gibt da so eine seltsame Verbindung zwischen uns, finden Sie nicht auch?“

„Nun …“

Honey trat wieder einen Schritt zurück, dann griff sie nach seiner linken Hand und legte sie in ihre Handfläche. „Sie haben gute Hände. Man kann viel über Menschen erfahren, wenn man ihre Hände betrachtet.“ Sanft strich sie mit einem Finger über seine geöffnete Handfläche. Die leichte Berührung schien jeden Nerv in Edwards Körper in Flammen zu setzen. „Fürsorgliche Hände.“ Sie fuhr mit dem Finger über eine kleine Narbe an seinem Daumen.

Selbst wenn er gewollt hätte: Edward konnte sich in diesem Moment keinen Zentimeter von der Stelle bewegen. Er war wie hypnotisiert.

„Woher haben Sie die Narbe?“

„Ähm …“ Wieder räusperte er sich. „Ich habe mir den Daumen gebrochen, als ich sieben war. Ich bin vom Fahrrad gefallen.“

„Oh.“ Honey riss die Augen auf. „Haben Sie geweint?“

„Ich habe versucht, nicht zu weinen.“ Er wich ihrem Blick aus. Es war lange her, dass ein anderer Mensch ihn so angesehen hatte. Als wäre er etwas ganz Besonderes.

„So tapfer. Auch damals schon.“ Honey beugte den Kopf und küsste die Narbe, dann ließ sie seine Hand los.

„W…warum haben Sie das getan?“ Edward rieb über seinen Daumen, als könnte er so das glühende Kribbeln vertreiben, das über seine Haut lief.

„Was? Ihnen Fragen gestellt oder Ihre Hand geküsst?“

„Beides.“

„Ich möchte Sie gerne besser kennenlernen. In einem so kleinen Ort wissen die Menschen doch bestimmt mehr übereinander als nur den Beruf und den Namen.“

„Apropos Namen und Beruf …“ Dankbar ergriff Edward die Gelegenheit zum Themenwechsel. „Ich habe in Ihrem Lebenslauf gesehen, dass Ihr Nachname Huntington-Smythe ist.“

„Ja, stimmt.“

„Heißt das, Ihr Großvater Hubert ist der berühmte Neurochirurg?“

„Ja, bis er vor ein paar Jahren in den Ruhestand gegangen ist.“

„Und jetzt repariert er Autos?“

„Genau. Er sagt, das ist auch nicht so viel anders, als ein menschliches Gehirn zu operieren. Nur dass es nicht so schlimm ist, wenn man einen Fehler macht. Jessica, meine Großmutter, ist froh, dass er endlich mehr zu Hause ist. Er hat immer so viel gearbeitet, dass wir manchmal Angst hatten, er würde bei dem ganzen Stress einen Herzinfarkt bekommen.“

„Das klingt, als hätten Sie bei Ihren Großeltern gelebt.“

„Ja, seit ich achtzehn war.“

Das überraschte ihn. Es passte nicht zu dem Bild, das er sich von Honey gemacht hatte. Sie gab ihm ständig neue Rätsel auf. „Und Ihre Eltern?“

„Oh, meine Mutter ist von zu Hause fortgelaufen, als sie siebzehn war. Sie hat ihren Namen geändert und meinen Vater geheiratet. Die beiden sind von Ort zu Ort gezogen, haben in Kommunen gelebt und immer gegen irgendeine Ungerechtigkeit in der Welt protestiert. Sie hat keinen Kontakt mehr mit meinen Großeltern.“

Edward betrachtete sie nachdenklich. „Und das haben Sie dann auch gemacht? Von zu Hause fortlaufen?“ Irgendwo im Hinterkopf dachte er dabei an Hamilton. Sein jüngster Bruder war gerade siebzehn geworden und würde am liebsten die Schule verlassen, ohne einen Abschluss zu machen. Er drohte damit, nach Canberra zu Bart zu ziehen, weil Edward ihn angeblich nur kontrollierte.

Honey schüttelte den Kopf. „Nein, ich war achtzehn. Ich war volljährig. Das ist ein großer Unterschied. Jessica war damals oft allein, weil Hubert so viel gearbeitet hat. Ich wollte unbedingt Medizin studieren und habe ein stabiles Zuhause gesucht.“

„Sind Ihre Eltern denn so instabil?“

Honeys Lachen klang hohl. „Das ist wohl eine Frage der Definition. Sie waren so etwas wie Hippies. Mir war mit achtzehn Jahren klar, dass das nicht mein Leben ist. Also habe ich etwas unternommen, ich bin gegangen.“

„Und dann haben Sie den Namen Ihrer Großeltern angenommen?“

„Ja.“ Honey runzelte die Stirn. „Auf eine gewisse Weise habe ich genau das Leben gewählt, das meine Mutter nicht wollte. Sie fühlte sich eingeengt, und ich war froh, endlich Regeln und Grenzen zu haben.“

„Hatten Sie die vorher nicht?“

„Nein, mein Bruder und ich sind ganz frei und natürlich aufgewachsen, so haben es meine Eltern zumindest genannt.“ Sie zuckte die Achseln. „Als ich zu meinen Großeltern gezogen bin, habe ich dann ihren Namen angenommen.“

„Und wie lautete Ihr früherer Nachname?“, fragte Edward interessiert.

„Moon-Pie.“ Honey musste lächeln. „Na los, machen Sie schon Ihre Witze. Mein Bruder und ich haben uns in der Schule ziemlich viel anhören müssen.“

„Ja, das kann ich mir vorstellen.“

„Eines kann ich Ihnen sagen.“ Sie legte den Kopf zur Seite und sah ihn an. „Ich werde meiner Tochter einen ganz normalen Namen wie Clara oder Elizabeth geben.“

Der Anblick ihres eleganten Nackens, an den sich der Zopf mit dem roten Haarband schmiegte, lenkte Edward kurzzeitig ab.

Es fiel ihm zunehmend schwerer, sich in Honeys Nähe zu konzentrieren. Mit einem weiteren kleinen Räuspern rückte er von ihr ab.

„Und hat es geholfen? Den Namen zu ändern, meine ich.“

„In gewisser Weise schon … Aber ich bin noch immer auf der Suche.“

Er nickte. „Sind wir das nicht alle? Ich habe immer für andere eine Rolle spielen müssen … Vater, Bruder, Ernährer der Familie.“ Warum er ihr das erzählte, hätte Edward selbst nicht sagen können. Er sprach nur sehr selten über seine Gefühle. „Mein jüngster Bruder, Hamilton, ist so starrköpfig, eben ein typischer Teenager. Mit ihm muss ich streng sein und ihm Grenzen aufzeigen. Auch wenn ich mir manchmal wünschte, ganz anders sein zu können, aber …“

Etwas verlegen unterbrach er sich. Honeys Blick war voller Mitgefühl. Edward wünschte, er hätte sich nicht zu diesen Geständnissen verleiten lassen. Diese Frau hatte eine geradezu unheimliche Wirkung auf ihn. Er musste sie auf Distanz halten.

„Ja, das verstehe ich“, sagte sie. „Aber wir sind nun einmal alle an bestimmte Regeln gebunden.“

„Ein gutes Stichwort“, fiel Edward energisch ein. „Es gibt da noch etwas, was ich Ihnen sagen muss. Ich würde es begrüßen, wenn Sie unseren Patienten keine privat hergestellten Medikamente geben würden. Das ist ein Risiko, das wir aus versicherungstechnischen Gründen nicht eingehen können.“ Edward griff nach Ginnys Teetasse und ging zur Tür. Er war sehr zufrieden mit seinen Worten und fuhr fort: „Akupunktur ist eine Behandlungsmethode, die wir nicht einsetzen. Außerdem wäre es gut, wenn Sie ab morgen Kleidung tragen würden, die ein wenig besser in eine ganz normale Arztpraxis in der Provinz passt.“ Er nickte ihr kurz zu und verließ dann den Raum, in dem eine hoffentlich sprachlose Honeysuckle Huntington-Smythe zurückblieb.