„Guten Morgen, Mr Hill“, begrüßte Darby den dünnen Mann, der mit mürrischem Ausdruck auf seinem faltigen Gesicht in seinem Krankenhausbett lag.
„Es wäre ein fantastischer Dienstagmorgen, wenn Sie mir sagen, dass ich nach Hause gehen kann.“
„Erst schauen wir uns Ihr Bein an, dann unterhalten wir uns.“
Miteinander sprechen – das hatten Blake und sie nicht getan. Die Heimfahrt gestern Abend war beinahe unerträglich gewesen.
Wie sollte sie ihn heute Morgen begrüßen? Wie ihren Arbeitskollegen oder wie den Mann, der sie Samstagnacht und Sonntagmorgen immer wieder geliebt hatte?
Für Blake war Sex einfach nur Sex. Das wusste sie, und wenn sie ihn nicht verlieren wollte, musste sie so tun, als wäre nichts Weltbewegendes passiert.
Aber konnte sie das?
„Bedeutet dieser Blick, dass ich nicht nach Hause darf?“, fragte Mr Hill und holte Darby damit in die Gegenwart zurück.
„Ich fürchte, ja“, antwortete sie, während sie den feuchten Verband über seinem Beingeschwür ersetzte. „Zumindest nicht in den nächsten Tagen. Die gute Nachricht ist, dass Ihr Bein heilt, langsam aber sicher.“
„Kann es nicht zu Hause heilen?“
Zu Hause.
Sehnsucht fuhr ihr wie ein Stich ins Herz. Zu Hause ist, wo dein Herz ist. Wo war ihr Zuhause? In Knoxville? In Armadillo Lake?
„Nein. Es tut mir leid, aber das geht nicht.“
Sie unterhielt sich noch ein paar Minuten mit ihm, bevor sie sein Zimmer verließ. Darby hatte kaum zwei Schritte in den Flur getan, als Blake aus einem Patientenzimmer kam.
Der Schock stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben. „Ich hatte nicht erwartet, dich so früh hier zu sehen.“
Offensichtlich. Bedeutete das, er war absichtlich früher hergekommen, damit er ihr nicht über den Weg lief?
„Ich dachte, ich muss einiges nachholen.“ Warum hörte sich ihre Erklärung so gekünstelt an?
„Ich auch.“ Er wich ihrem Blick aus und fuhr sich mit den Fingern durch sein dunkles Haar. „Wie geht es deiner Mutter?“
„Laut ihrem Arzt ist sie schon kräftiger. Sie scheint es genauso eilig zu haben, nach Hause zu kommen, wie Mr Hill.“
„Schön, dass sie sich erholt.“ Ohne ihr in die Augen zu sehen, nickte er. „Ich schätze, ich sehe dich im Büro.“ Damit drehte er sich um und ging weg.
Darby seufzte. Nachdem er das ganze Wochenende so getan hatte, als würde er sie lieben, tat es besonders weh, dass er scheinbar nicht schnell genug von ihr wegkommen konnte.
Dachte er, wenn er sich normal verhielt, könnte sie auf die Idee kommen, dass ihm dieses Wochenende etwas bedeutete?
Dann traf sie ein anderer Verdacht. War sie so schlecht gewesen, dass er ihr nicht mehr in die Augen sehen konnte? Dann hätte er am Sonntagmorgen doch nicht noch einmal mit ihr geschlafen, oder? Er war bei ihr gewesen, mit jeder Berührung und jedem Kuss. Die Verzweiflung, mit der er sie genommen hatte, konnte er doch nicht gespielt haben. Er war wild gewesen, als wollte er sie als sein Eigentum markieren. Oder reagierten Männer immer so, wenn sich eine nackte Frau auf ihnen rekelte?
Sie wusste es einfach nicht. Blake hatte auf der Heimfahrt nicht mit ihr gesprochen, und als sie an ihrem Apartment hielten und er ihr half, ihre Sachen hineinzutragen, hatte er nicht einen Fuß in ihre Wohnung gesetzt – nur ihren Koffer hineingestellt, bevor er geflüchtet war, als fürchtete er, sie könnte ihm eins überbraten und ihn in ihr Bett schleifen, wenn er sich länger aufhielt.
Das hatte so wehgetan, dass sie sich eine zweite Nacht in den Schlaf weinte.
Als sie ins Büro kam, fand sie genau das vor, was sie erwartet hatte. Einen Schreibtisch voller Dinge, die sie erledigen musste.
Statt damit anzufangen, ging sie in Blakes Büro, wo er fleißig seinen eigenen Berg abarbeitete.
„Bist du sauer auf mich wegen dem, was zwischen uns passiert ist?“
„Nein.“ Offensichtlich überrascht von ihrer offenen Frage, lehnte er sich in seinem Stuhl zurück. „Ich bin wütend auf mich selbst.“
„Warum?“
„Weil wir Grenzen überschritten haben, die wir nicht hätten überschreiten dürfen.“
Das ließ ihr zwei Möglichkeiten: vorgeben, dass sie es ebenfalls bedauerte, oder ihm die Wahrheit sagen – dass sie ihn liebte.
„Okay.“ Sie zuckte die Schultern. „Vergessen wir, dass es dieses Wochenende überhaupt gab.“
Blake kniff die Augen zusammen. „Können wir das?“
„Ich habe es bereits vergessen.“ Darby hob ihr Kinn und starrte ihn herausfordernd an, während ihr Herz hinter ihrer professionellen Fassade brach. „Du nicht?“
Es war ein anstrengender Morgen gewesen, und der Nachmittag schien auch nicht besser zu werden. Blakes Terminplan war vollgepackt, und er erhielt einen Anruf nach dem anderen vom Krankenhaus.
Aber das Schlimmste war, dass er sich nicht auf seine Arbeit konzentrieren konnte. Ständig wanderten seine Gedanken zu Darby.
Sie hatte alles vergessen?
Wenn er ihr nur glauben könnte.
Vergessen könnte, wie sich ihr Körper an seinen presste.
Er konnte es nicht.
Letzte Nacht hatte er nicht geschlafen, weil er es vermisste, wie sie sich warm an ihn schmiegte. Die Nacht davor, in einem fremden Hotelzimmer, war nicht besser gewesen. Im Bett hatte er nie zuvor eine Frau vermisst. Er schlief lieber allein. Aber das schien nicht mehr zu stimmen.
Er vermisste Darby so sehr, dass er ihr Kissen aus dem Auto geholt hatte, das sie versehentlich vergessen hatte.
Mit ihrem Kissen im Arm, eingehüllt in ihren Duft, schlief er endlich ein und träumte von ihren gierigen Küssen.
Blake folgte dem Patienten, den er gerade behandelte hatte, aus dem Behandlungszimmer, und sofort begegnete er Darby. „Alles okay?“, fragte er sie.
„Ja.“
„Gut.“
„Danke.“
Weil er genug hatte von dem einsilbigen Gespräch, holte Blake tief Luft und betrat das nächste Patientenzimmer.
Einen Monat später untersuchte Darby den rechten Arm eines älteren Mannes. „Sind Sie sicher, dass Sie sich den Arm nicht angeschlagen haben?“
Der Mann hörte nicht gut und starrte sie verständnislos an.
„Ihr Arm – haben Sie ihn sich angeschlagen?“, wiederholte sie lauter.
Er schüttelte den Kopf. „Zuerst haben meine Finger wehgetan, und dann ist der Schmerz den Arm hinaufgewandert. Als ich gestern Abend mein Hemd ausgezogen habe, habe ich das gesehen.“
„Das“ war eine dunkelviolette Verfärbung, die an seiner Schulter begann und bis zu seiner Handfläche lief. Die gesamte Unterseite seines Armes sah aus, als hätte ihn jemand geschlagen.
„Haben Sie aus Versehen mehr von Ihrem Blutverdünner eingenommen?“
Wieder verstand er sie nicht, und sie wiederholte ihre Frage.
Sein Blut musste viel zu dünn sein. Es gab sonst kaum andere Erklärungen für seine unüblichen Symptome. Unter normalen Umständen würde sie Blake um eine zweite Meinung bitten.
Das war einfach lächerlich. Sie waren noch immer Partner. Wenn sie miteinander sprachen, fragte Blake sie meist nach ihrer Mutter, nach ihren Fahrten nach Armadillo Lake über die Wochenenden, um bei ihrer Familie zu sein. Manchmal sprachen sie auch über Patienten, aber nie erwähnten sie, was passiert war.
Darby hoffte immer noch, dass er sich entspannte und erkannte, dass sie etwas Besonderes geteilt hatten. Stattdessen schienen sie sich immer weiter voneinander zu entfernen.
Sie hatte es satt, ignoriert zu werden und sich zu fühlen, als hätte sie ihren besten Freund verloren.
Verdammt noch mal! Sie wollte seine Meinung zu einem Patienten, und die würde sie auch bekommen!
Darby entschuldigte sich und sah in den Raum, wo Blake gerade die Untersuchung eines Patienten beendet hatte. „Hast du ein paar Minuten?“
Sie bemerkte sein Zögern, bevor er antwortete. „Was ist los?“
„Ich hätte gern, dass du dir Clinton Rogers’ Arm ansiehst. Ich vermute, dass sein Blut zu dünn ist, aber die Ergebnisse sind noch nicht da.“
„Was ist passiert?“
„Keine sichtbare Verletzung, aber der Schmerz in seinem rechten Arm ist eine acht auf einer Skala von zehn. Es fing an der Wurzel seines Mittelfingers an und ist den Arm hinaufgewandert. Als er gestern Abend sein Hemd ausgezogen hat, war der Arm violett und fühlte sich kalt an.“
„Warum ist er nicht in die Notaufnahme gefahren?“
„Sag du es mir.“ Mr Rogers hätte in die Notaufnahme gehen sollen, aber das war er nicht. Jetzt musste sie entscheiden, ob er im Krankenhaus aufgenommen werden musste oder zu Hause behandelt werden konnte, wahrscheinlich mit Vitamin-K-Injektionen, je nachdem, wie seine Laborergebnisse ausfielen.
Blake folgte ihr in den Behandlungsraum, untersuchte Mr Rogers’ Arm und sprach dann laut mit dem alten Mann. „Ich werde Sie zur Ader lassen.“
Darby nickte. Sie hatte das Gleiche vorgehabt, sich aber entschieden zu warten, bis die Laborergebnisse zurückkamen.
Er holte, was er brauchte, aus dem Behandlungsraumschrank, Darby reichte Blake eine Spritze. Ihre Finger streiften sich, ihre Blicke trafen sich, und ihr Atem stockte.
„Blake?“ Sie konnte das Gefühl, das in ihr brodelte, nicht zurückhalten. Sie hatten sich seit jenem Wochenende nicht mehr berührt, und sofort erfüllte sie heiße Sehnsucht.
Er sah sie aus schmalen Augen an, sein Blick wurde kühl. Dann drehte er ihr den Rücken zu und erklärte Mr Rogers ziemlich laut, was er vorhatte.
Darbys Hoffnung, dass die Dinge zwischen ihnen besser werden würden, starb einen schmerzhaften Tod.
Am Wochenende des Klassentreffens war sie ein Risiko eingegangen, und sie hatte verloren. Denn sie ertrug diese feindliche Umgebung nicht mehr.
Es fiel ihr schwer, seinen herben männlichen Duft zu riechen oder seine Stimme zu hören, die sie daran erinnerte, was sie haben könnten, wenn er sie lieben würde.
Sie verließ den Raum und wollte nach Mr Rogers’ Laborergebnisse sehen. Stattdessen wählte sie Mandys Nummer.
„Coulson Immobilien.“ Mandy arbeitete im Immobilienunternehmen ihres Vaters. „Mandy Coulson am Apparat.“
„Mandy, hier ist Darby Phillips. Steht Mack Donahues Haus immer noch zum Verkauf? Ich würde gern ein Angebot machen.“
In der nächsten Woche starrte Darby ungläubig auf die blauen Linien auf dem Test.
Schwanger.
Wie konnte das sein? Sie und Blake hatten doch verhütet. Vielleicht irrte sich der Test. Aber das positive Ergebnis war beinahe sofort zu sehen gewesen.
Ihr drehte sich der Kopf.
Schwanger.
Sie bekam ein Baby.
In diesem Augenblick wuchs in ihrem Körper ein Baby.
Sie musste einen Termin mit ihrem Gynäkologen machen.
Und es Blake erzählen.
Blake.
Wie würde er reagieren?
Mit jedem Tag, der verging, entfernten sie sich weiter voneinander, und sie sehnte sich in die Zeit zurück, als er sie neckte, nach seiner Berührung.
Sie vermisste ihn. Ihr war gar nicht aufgefallen, wie viel Zeit sie mit Blake verbrachte, bis er so deutlich aus ihrem Leben verschwunden war.
Oh, körperlich war er noch da. Sie arbeiteten in derselben Praxis, im selben Krankenhaus, aber er sorgte dafür, dass sie sich nicht begegneten, und weil sie es nicht ertrug, das Bedauern in seinen dunklen Augen zu sehen oder wie er zusammenzuckte, wenn er sie sah, war sie dazu übergegangen, ihm ebenfalls aus dem Weg zu gehen.
Nicht nur das. Sie hatte einen Vertrag für das Haus und fünf Morgen Land des Mack-Donahue-Grundstücks in Armadillo Lake unterschrieben und versuchte seitdem zu ergründen, was das bedeutete. Sie vermisste ihre Familie und wurde in Armadillo Lake dringend gebraucht, aber wollte sie wirklich wieder nach Hause ziehen? Und Blake für immer aufgeben?
Lange hatte sie gehofft, dass sie zu der unkomplizierten Beziehung zurückkehrten, die sie all die Jahre gehabt hatten. Schließlich heilte die Zeit alle Wunden. Jetzt wusste sie, dass es unmöglich war.
Wenn sie Blake erzählte, dass sie schwanger war, würden ihre Neuigkeiten jede Hoffnung darauf zerstören.
Sie vermisste alles an ihm – sein Lächeln, sein Necken, seinen Witz, seine Freundschaft, seine Küsse. Alles.
Aber jetzt musste sie an das Baby denken – ein Baby! Sein Baby. Sie und Blake mussten sich darüber unterhalten, wie es weitergehen sollte.
Für sie kam eine Abtreibung nicht infrage. Wenn Blake wollte, dass sie diesen Weg ging, hatte er Pech. Aber er würde ihr keinen Schwangerschaftsabbruch vorschlagen.
Oder vielleicht doch.
Sie wusste es nicht mehr.
Aber sie wusste, dass sie schon viel zu lange in dem privaten Bad war, das sie mit Blake teilte, darum umklammerte sie den Teststreifen. Sie konnte den Test nicht liegen lassen, oder die Verpackung.
Schnell stopfte sie beides in ihre Tasche und schloss den Reißverschluss, um die Beweise zu verstecken.
Mit dem Plan, ihre Tasche in ihrer Schreibtischschublade einzuschließen, betrat sie den Flur, der ihr und Blakes Büro trennte.
Sie schlossen ihre Türen selten, daher war seine wie üblich offen, und seine Stimme klang bis auf den Flur.
„Ich komme heute Abend vorbei, bevor ich nach Hause fahre.“
Ihr Blick wurde magisch von ihm angezogen. Er hatte den dunklen Kopf gebeugt und studierte ein Papier auf seinem Tisch, während er telefonierte. Würde ihr Baby seine dunklen Augen und Haare haben? Seinen Witz und sein Lächeln?
Die Tiefe der Gefühle, die sie überrollten, überraschte sie. Sie hatte nie daran gedacht, dass sie schwanger werden könnte, aber sie wollte Blakes Baby.
Er bekam gar nicht mit, dass sie ihn beobachtete, und blätterte in den Papieren. „Mach noch ein komplettes Blutbild. Ich sehe mir die Ergebnisse dann nachher an.“ Als er aufblickte und sie entdeckte, presste er seine Lippen zu einer schmalen Linie zusammen, die sein Missfallen deutlich zeigte.
Darby sehnte sich nach den Tagen, als er ihr zuzwinkerte, schmunzelte oder ihr bedeutete, in sein Büro zu kommen.
Sie war schwanger.
Mit seinem Baby.
Oh, Blake.
Von allein wanderten ihre Hände zu ihrem Bauch.
Sein grimmiger Blick wanderte tiefer, er bekam große Augen, hob den Blick und sah sie fragend an.
Darbys Magen drehte sich um. Er wusste es.
Sie war noch nie gut darin gewesen, ihre Gefühle zu verstecken. Warum sollte eine unerwartete Schwangerschaft da die Ausnahme sein?
Ob sie nun bereit war, ihre Neuigkeiten zu teilen, oder nicht, Blake wusste Bescheid.
Sie wurden Eltern.