Fünf Monate später
„Wo ist er, Evie?“ Richard Lockheart klang ungeduldig. „Prinz Khalid bin Aziz möchte, dass Finn Kennedy ihn operiert, und zwar nur Finn Kennedy. Um sich erkenntlich zu zeigen, wird der Prinz dem Krankenhaus eine weitere Million spenden. Das Harbour braucht ihn, Evie. Also, wo ist er?“
„Ich weiß es nicht.“ Sie blickte aus dem Bürofenster ihres Vaters auf die Segelboote, die über das glitzernde Hafenwasser glitten, und wünschte, auf einem von ihnen davonfahren und alle Sorgen hinter sich lassen zu können.
„Evie!“
Verärgert über den herrischen Kommandoton fuhr sie herum. „Wie kommst du darauf, dass ich weiß, wo er ist?“
„Ich bin nicht dumm, Evie. Glaubst du wirklich, dass der Krankenhaustratsch mich hier oben nicht erreicht? Ich weiß, dass du und er … etwas miteinander hattet. Eine Affäre.“ Er zuckte mit den Schultern. „Nenn es, wie du willst. Aber ich nehme an, dass ihr in Kontakt geblieben seid.“
Ihr Vater bewies wieder einmal grandios, wie wenig Ahnung er von ihrem Leben hatte, vom Leben anderer ganz zu schweigen. Hätte er Finn wirklich gekannt, wüsste er, dass Finn nicht der Typ war, der „Kontakt hielt“.
Nach ihrer leidenschaftlichen Begegnung vor fünf Monaten hatte Evie eine Zeit lang gehofft, dass sich etwas ändern würde.
Bis Finn dann von einem Tag auf den anderen verschwand. Spurlos.
Gladys hatte es ihr gesagt, als sie Evie den Zettel von ihm gab.
Leb wohl, Evie. Versuch nicht, mich zu finden.
Acht Wörter, kein Gruß, keine Unterschrift. Nach allem, was sie miteinander erlebt hatten, reduzierte er ihre Beziehung auf lächerliche acht Wörter.
„Evie?“ Ihrem Vater dauerte das Schweigen anscheinend zu lange.
Sie warf ihm einen abweisenden Blick zu, auch, weil er sie ansah, als wäre sie eine trotzige Zweijährige. Aber sie war längst erwachsen, eine qualifizierte, erfahrene Notfallärztin. „Meine Beziehung zu Finn geht dich nichts an.“
„Da täuschst du dich, mein Kind! Alles, was in diesem Krankenhaus passiert, geht mich etwas an.“
Richard Lockheart nahm seine Aufgabe als größter Sponsor des Sydney Harbour Hospitals sehr ernst. Sein Großvater hatte es seinerzeit mitbegründet, und Richard arbeitete unermüdlich dafür, dass das renommierte Lehrkrankenhaus nicht nur technisch stets auf dem neuesten Stand, sondern auch personell mit hoch qualifizierten Kräften ausgestattet war.
Manchmal kam es Evie so vor, als liebte er das Harbour mehr als seine Frau und seine drei Töchter.
Sie seufzte, zu müde für diese anstrengende Diskussion. Überhaupt war sie in letzter Zeit unerträglich müde. „Hör mal“, begann sie, um Geduld bemüht. „Ich kann dir wirklich nicht sagen, wo er sich aufhält.“
Damit wandte sie sich wieder zum Fenster um. Finns unpersönliche Zeile war wie ein letzter Schlag ins Gesicht gewesen. Evie hatte um ihre Liebe gekämpft, hatte alles versucht, aber mehr hielt ihr Herz nicht aus. Der Krug geht so lange zum Wasser, bis er bricht, dachte sie.
Also beschloss sie, Finn zu vergessen, sagte sich fünf Monate lang Tag für Tag, dass es so am besten war, und schob die Gedanken an ihn weit von sich.
Vor allem an das, was er ihr hinterlassen hatte.
Doch es ließ sich nicht länger verdrängen. Die ersten zarten Bewegungen heute Morgen machten ihr unabwendbar bewusst, dass sie Mutter wurde. Dass sie Finns Baby unter dem Herzen trug. Und dass er ein Recht darauf hatte, es zu erfahren.
Evie drehte sich wieder zu ihrem Vater um. „Ich glaube, ich weiß jemanden, der eine Ahnung haben könnte, wo er sich aufhält.“
Evie war die letzten drei Nachmittage vor Marco D’Arvellos Sprechzimmer auf und ab getigert, besten Willens, den gynäkologischen Chefarzt des Sydney Harbour aufzusuchen, sobald seine letzte Patientin gegangen war.
Nur um im letzten Moment zu kneifen, sobald sich die Tür öffnete.
Heute war es kaum anders. Es war fünf Uhr, der Wartebereich leer, und Marcos Tür ging auf. Evie sprang von ihrem Stuhl hoch, auf dem sie in der vergangenen halben Stunde nie länger als ein paar Minuten hatte still sitzen können, und eilte zum Fahrstuhl.
„Evie?“
Eine tiefe samtige Männerstimme mit italienischem Akzent hielt sie auf. Marcos Frau Emily, Hebamme hier am Krankenhaus, musste sehr glücklich sein, jeden Morgen neben einem Mann aufzuwachen, der so eine sexy Stimme hatte. Und nicht nur das … groß, dunkelhaarig und ausgesprochen attraktiv zog der Italiener Frauenblicke wie magnetisch an. Aber er hatte nur Augen für Emily.
Oh ja, dachte Evie, jeden Morgen neben dem Mann, den man liebt, aufzuwachen muss wunderschön sein.
Marco kam auf sie zu. „Seit drei Tagen lungerst du vor meiner Tür herum“, meinte er augenzwinkernd. „Willst du vielleicht zu mir?“
Evie zögerte. Sie wusste nicht genau, was sie wollte. Schließlich konnte ihr ein Gynäkologe auch nicht mehr sagen als das, was sie längst wusste. Und doch hatte es sie immer wieder hierhergezogen.
„Komm“, sagte er sanft, umfasste ihren Ellbogen und führte sie in sein Zimmer.
Evie ging mit ihm. Warum kann ich nicht jemanden wie Marco lieben? haderte sie mit dem Schicksal. Jemand, der liebevoll ist und ein Halt, wann immer man ihn braucht?
Jemand, der lieben kann.
Sie hörte die Tür ins Schloss fallen und ließ sich bereitwillig zu dem Besucherstuhl begleiten.
„Du bist schwanger?“ Marco setzte sich hinter seinen Schreibtisch.
Verblüfft starrte sie ihn an. „Woher …?“ Sie blickte auf ihren Bauch und legte die Hand auf die leichte Wölbung. Evie war schlank und sportlich, und wenn sie nackt war, sah man ihr die Schwangerschaft an. Aber in der weiten OP-Kleidung, die sie hier im Krankenhaus trug … auf keinen Fall!
Marco lächelte. „Andere werden es nicht merken, aber ich habe einen Blick dafür. Das bringt der Beruf so mit sich.“
Evie nickte. Ihre Gedanken wirbelten durcheinander, und eine Zeit lang sah sie Marco nur stumm an. „Entschuldige“, brachte sie schließlich hervor. „Ich weiß nicht, warum ich hier bin.“
Wenn er ihre Bemerkung seltsam fand, so ließ er sich nichts anmerken. Sie war schwanger, er Gynäkologe. Natürlich lag es auf der Hand, warum sie hier war. Sie hätte schon viel früher kommen müssen.
Marco wartete geduldig, dass sie weitersprach.
„Ich habe es noch niemandem erzählt“, sagte sie.
„Wievielte Woche?“
„Achtzehnte.“
„Und du warst nicht beim Arzt?“, fragte er erstaunt.
„Ich hatte zu tun“, verteidigte sie sich. „In der Notaufnahme ist immer der Teufel los, und … die Zeit rennt eben.“ Sie sah auf ihre Hände, die immer noch auf dem Bauch lagen. Eigentlich gab es keine Entschuldigung, dass sie sich und ihr Kind vernachlässigt hatte. Sie hätte längst zur Vorsorge gehen müssen.
Meine Güte, du bist Ärztin. Du solltest es besser wissen!
„Geht es dir gut?“
Evie blickte auf. „Unverschämt gut. Ein bisschen Übelkeit in den ersten Wochen, ich war müde … bin es immer noch. Aber das ist alles.“
Anfangs hatte sie das Schlimmste erwartet. Finn war ein schwieriger Mann – und das war noch untertrieben –, und ein Kind von ihm würde ihr das Leben genauso schwer machen wie er. Aber bis jetzt war es eine Bilderbuchschwangerschaft gewesen.
Was es ihr allerdings leicht gemacht hatte, sie zu verdrängen.
„Wir sollten ein paar Bluttests machen“, schlug Marco vor. „Was hältst du davon, wenn du dich auf die Liege legst, und ich sehe es mir mal an?“
Als sie auf dem schmalen Bett lag, starrte sie an die Decke, während Marco den Uterus abtastete und den Fundusstand maß.
„Stimmt, achtzehn Wochen“, meinte er und schaltete das Ultraschallgerät ein.
„Nein.“ Evie richtete sich auf und zog ihren OP-Kittel über den Bauch. „Ich möchte keinen Ultraschall.“
Sie wollte sich das Baby nicht ansehen. Noch nicht. Für sie war es bereits ein großer Schritt, jemandem die Schwangerschaft einzugestehen. Mehr schaffte sie heute nicht.
Marco wunderte sich wahrscheinlich.
„Entschuldige …“, begann sie. „Du bist sicher andere Reaktionen gewohnt.“ Sie konnte ihren Widerstand nicht einmal erklären, sie wusste nur, dass sie ihr Kind noch nicht sehen wollte.
Marco stellte das Gerät ab und sah sie an. „Evie, du hast zu lange gewartet. Es ist zu spät, um … noch etwas zu unternehmen.“
Sie setzte sich auf. Zwar hatte sie daran gedacht, dass sie die Schwangerschaft abbrechen könnte, den Gedanken aber wie alles, was mit ihrem Zustand zu tun hatte, schnell wieder von sich geschoben. „Ich weiß. Will ich ja auch nicht.“
Halt, stopp, wo kommt das auf einmal her?
Plötzlich wusste sie, dass sie dieses Baby liebte, mit derselben unumstößlichen Sicherheit, wie sie es auch bei Finn gewusst hatte. Einfach so. Ohne Wenn und Aber.
Finn mochte ihre Liebe nicht wollen, doch zwischen sich und sein Kind würde sie nichts kommen lassen. Niemals.
Evie lächelte schief. „Tut mir leid, aber ich glaube, ich habe die Schwangerschaft nicht wahrhaben wollen – bis vor ein paar Tagen, als es sich das erste Mal bewegt hat. Ich versuche immer noch, das alles … zu verarbeiten.“
„Schon gut.“ Er erwiderte ihr Lächeln. „Also eins nach dem anderen. Wie wäre es, wenn wir uns seinen Herzschlag anhören und ich dir danach ein bisschen Blut abnehme?“
Sie nickte und legte sich wieder hin. Sekunden später lauschte sie dem stetigen Pochen eines winzigen Herzens. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. „Da ist wirklich ein Baby drin.“
Marco lächelte sie sanft an. „Dein Baby.“
Evie schloss die Augen. Finns Baby.
Finn Kennedy lehnte sich im Liegestuhl bequem zurück und genoss im Schatten der breiten Veranda den großartigen Ausblick auf den Pazifik. Es gefiel ihm hier, in dem verwinkelten alten Haus hoch oben auf einer Klippe über dem Ozean. Tiefblaues Meer erstreckte sich bis zum Horizont, und an den Felsen unter ihm brach sich weiß schäumend die Brandung.
Ihm gefiel auch die Ruhe. Zu lange hatte er versucht, den Schmerz zu betäuben – mit Arbeit, mit Whisky. Hatte sich bis an seine Grenzen getrieben, um zu vergessen.
Wer hätte gedacht, dass Stillstand und Nichtstun viel besser wirkten?
Zwar war er nicht völlig untätig gewesen. Seine Muskeln schmerzten von der Anstrengung, die er sich bei dem harten Training in den letzten fünf Monaten tagtäglich auferlegt hatte. Aber es war ein gutes Gefühl. Finn fühlte sich fit und so klar im Kopf wie seit langer Zeit nicht mehr.
Er ballte die rechte Hand zur Faust, entspannte die Finger wieder, presste Daumen und Zeigefinger zusammen, dann Mittelfinger und Daumen und brachte der Reihe nach alle Finger in Kontakt mit der Daumenkuppe. Finn wiederholte die Übung mühelos. Kaum zu glauben, dass er sich schon fast damit abgefunden hatte, die Finger nie wieder richtig benutzen zu können.
„Sieht gut aus.“
Finn sah auf, als Ethan Carter zu ihm kam, mit dem er vor zehn Jahren im Mittleren Osten gewesen war. „Ich bezweifle, dass ich in meinem Leben jemals wieder Marmeladengläser aufdrehen kann.“
Ethan zuckte mit den Schultern und reichte ihm ein Bier. „Dann lass es bleiben.“
Die Bemerkung war typisch für Ethan. Der Mann lebte Gelassenheit wie ein buddhistischer Mönch. Beim Militär war er Hubschrauberpilot gewesen. Nach seinem Ausscheiden aus der Armee hatte er Psychologie studiert und Beach Haven gegründet: einen exklusiven Rückzugsort für traumatisierte Soldaten, fünfhundert Kilometer nördlich von Sydney, wo sie sich ausruhen, sich erholen, Kraft tanken und neue Perspektiven für ihr Leben entwickeln konnten. Vom Staat nur mäßig unterstützt, arbeitete Ethan beharrlich dafür, die großzügigen Sponsoren bei der Stange zu halten, die den Aufbau von Beach Haven ermöglicht hatten.
Schweigend tranken die beiden Männer ihr Bier, den Blick auf den weiten Ozean gerichtet.
„Es wird Zeit, Finn“, sagte Ethan schließlich.
Finn sah Ethan nicht an. Erst nach einer Weile antwortete er: „Ich bin noch nicht so weit.“
Bevor er nach Beach Haven gekommen war, hatte er gedacht, dass ein Alltag fernab vom Sydney Harbour Hospital, vom OP-Tisch, für ihn schlimmer wäre als der Tod. Inzwischen war er nicht mehr so sicher, ob er überhaupt jemals zurückkehren wollte.
Die Vorstellung, alles hinter sich zu lassen und wie ein Einsiedler in einer Strandhütte zu leben, hatte etwas Verlockendes. Vielleicht sollte ich surfen lernen, dachte er.
„Dein Arm ist so gut wie neu. Du kannst dich nicht ewig hier verstecken.“
Sein altes grantiges Ich regte sich, und Finn warf Ethan einen finsteren Blick zu. „Warum nicht?“
„Weil es nicht zu dir passt. Du würdest nur den Kopf in den Sand stecken, um deinen Problemen aus dem Weg zu gehen.“
„Ich soll also zurückgehen und mich ihnen stellen? Und das in einer mit hohem Stress belasteten Arbeitsatmosphäre, wo das Leben anderer Menschen von mir abhängt?“
„Du bist wieder gesund. Körperlich auf jeden Fall, und mental bist du wesentlich entspannter als bei deiner Ankunft. Du hast die Zeit hier bitter nötig gehabt. Emotional bist du allerdings immer noch ziemlich zugeknöpft.“
Finn trank einen Schluck Bier. „Ich bin Chirurg. Wir gehören nicht zu den emotionalen Typen.“
„Falsch, Finn. Chirurg ist dein Beruf, aber nicht das, was dich als Mensch ausmacht. Hinter all den tollen Titeln an deinem Namen bist du auch nur ein Mann, der mitten in einem Hölleninferno seinen sterbenden Bruder in den Armen hielt und nichts dagegen tun konnte. Du konntest ihm nicht helfen. Du konntest ihn nicht retten. Du warst machtlos. Das hat dir tiefere Wunden geschlagen als die Granatsplitter, die in deinem Körper steckten.“
Innerlich zuckte Finn zusammen. In den vergangenen fünf Monaten hatten sie nicht ein einziges Mal über das gesprochen, was vor so vielen Jahren passiert war. Ethan hatte Finn gefunden, im Staub sitzend, von Geschosssplittern getroffen, blutend, während er Isaac in den Armen hielt.
„Ich denke, beim Operieren bist du dem Albtraum wenigstens ein bisschen entflohen. Mit jedem Patienten, den du gerettet hast, konntest du die Schuld, die du dir an Isaacs Tod gibst, etwas besser ertragen. Und wenn du dich emotional nicht öffnest, wenn die Chirurgie die einzige Therapie ist, die du dir gestattest, dann solltest du wieder anfangen zu arbeiten.“
Erneut herrschte Schweigen. Nur das Donnern der Brandung war zu hören.
„Du wirfst mich also raus.“ Finn starrte zum Horizont.
„Nein. Ich habe dir nur einen Therapieansatz genannt. Selbstverständlich kannst du bleiben, so lange du willst.“
Finns Gedanken wirbelten durcheinander wie der Schaum der aufgewühlten Wellen, den er bei seinem täglichen Lauf am Strand zwischen den Felsen sah. Ethan hatte recht, und im Grunde wusste Finn auch, dass sein Rückzug in diese Oase der Ruhe nicht für immer gedacht war.
Reifen knirschten auf Kies und unterbrachen seine Gedanken. Ein feuerroter Mini fuhr auf den Parkplatz.
„Erwarten wir heute einen Neuzugang?“ Ethan runzelte die Stirn.
„Nicht dass ich wüsste.“
Die Männer sahen, wie die Fahrertür aufging und eine Frau ausstieg.
„Oh, verdammt!“, stieß Finn hervor.