Sie. Brauchen. Auszeit

Frauen stehen unter Druck, ständig noch mehr zu tun. Der Tag beginnt damit, die Kinder zur Schule zu bringen, und geht von dort nahtlos in einen vollgepackten Arbeitstag über. Nach Feierabend folgt dann die zweite Schicht: Abendessen, Schulaufgaben, Hausarbeit und dazu vielleicht noch die Versorgung alter Eltern. Und zunehmend führen wir online ein drittes Leben – Mails checken, Facebook-Posts anschauen. Selbst die Dinge, die uns wichtig sind und von denen wir wissen, dass sie uns glücklich machen, fühlen sich irgendwann wie lästige Pflichten an.

Daher ist es vielleicht eine Erleichterung, dass mit das Wichtigste, was Sie für sich tun können, darin besteht, wenig zu tun. Studien zu Meditation und Achtsamkeit haben ergeben, dass wir allein durch konzentriertes Atmen unserem Körper und unserem Gehirn einen großen Dienst erweisen. Noch besser ist es, wenn man das außerhalb der eigenen vier Wände macht. Die Natur hat ihre eigenen Heilkräfte, die unsere Bemühungen verstärken, und hilft dabei, Körper und Geist zu beruhigen. Man sollte sich so viel wie möglich an der frischen Luft und in der Sonne aufhalten, barfuß, mit Erde unter den Fingernägeln, Vogelgezwitscher in den Ohren, umgeben von Wasser, Bäumen, Bergen … einfach allem, was den Kontakt zur Natur herstellt.

Achtsamkeit hört sich nach etwas Einfachem an, aber es ist schwer, allein mit sich und seinen Gefühlen zu sein. Um das zu vermeiden, unternehmen die meisten Menschen alle möglichen Anstrengungen und beschäftigen sich mit zehn Dingen gleichzeitig. In einer Studie verabreichten sich viele der Probanden lieber selbst einen Elektroschock, als nichts zu tun zu haben und allein mit ihren Gedanken zu sein.1

Wir müssen einen geschützten Rahmen für Auszeiten entwickeln, die ausschließlich uns gehören und in denen wir unseren Akku wieder aufladen können. Entscheidend ist, sich auf gesunde Weise auszuklinken und sich nicht mit Alkohol, Essen oder Drogen zu betäuben.

Eine Patientin von mir, Mutter von zwei kleinen Mädchen, hatte einen anstrengenden Job als leitende Redakteurin bei einer Zeitung. Sie wollte mit dem Rauchen aufhören, und eines Abends erzählte sie mir stolz, dass sie es geschafft hatte, die fünf Zigaretten, die sie bis dahin geraucht hatte, auf eine zu reduzieren, aber die konnte sie nicht lassen, egal, wie sehr sie sich bemühte: Es war die eine auf dem Weg zwischen Arbeit und zu Hause.

Die Patientin wollte eine Grenze zwischen ihrem Arbeits- und ihrem Familienleben ziehen, oder wie manche sagen, zwischen dem ersten und dem zweiten Job. Grenzen helfen uns dabei, uns sicher zu fühlen. Wir müssen eine Möglichkeit finden, um den Teil des Tages zu markieren, der ganz uns gehört. Statt nach Hause zu kommen und uns zu entspannen, wie es Männer klischeehaft im Fernsehsessel und mit einem Bier in der Hand tun, neigen Frauen dazu, müde von der Arbeit zu kommen und sich erneut auf andere zu konzentrieren. Für die meisten meiner Patientinnen beginnt der Feierabend, wenn die Kinder im Bett sind und sie zum Kühlschrank gehen und geistesabwesend irgendetwas essen, um einen Zustandswechsel zu erreichen, vergleichbar mit einem Schlangenbeschwörer, der mit seinem Flötenspiel eine Kobra bändigt. Wenn es nicht der Kühlschrank ist, dann ist es der Gang zum Fernseher, Computer oder Telefon, alles Tore, die woandershin führen sollen.

Wir alle finden Möglichkeiten, uns zu vergessen, uns allem zu entziehen. Wir wollen uns aus unserem Trott in einen glücklichen Zustand katapultieren. Das ist einer der Gründe, warum wir nicht die Finger von Drogen, Medikamenten, Alkohol, Essen und Bildschirmen lassen. Sie versetzen uns leicht in einen dissoziativen Zustand und helfen uns dabei, uns selbst zu vergessen. Diese Dinge konsumieren wir, weil wir wollen, dass etwas anders ist. Wir lehnen die Realität ab. Das Problem dabei ist, dass wir uns mit der Droge unserer Wahl zwar anders fühlen, aber nicht unbedingt besser. Dennoch versuchen wir es weiter damit, weil wir hoffen, irgendwann das zu erreichen, was wir wollen. Das ist so, als ob man an einem Mückenstich herumkratzen würde, der dann umso mehr juckt. Achtsamkeit lehrt uns, das Kratzen sein zu lassen. Man spürt das Jucken, aber reagiert nicht darauf. Und im Lauf der Zeit hört zuerst das reflexartige Kratzen auf und dann das tief sitzende Jucken. Man lernt, einfach zu sein.

Sanktionierte, gesunde Rituale sind wichtig, um wieder Kraft zu schöpfen. Eine Tasse Kräutertee am Fenster mit Blick auf den Sonnenuntergang, ein warmes Bad mit einer Kerze, dehnen, singen, tanzen oder meditieren helfen uns dabei, unsere Mitte zu finden. Wenn Sie das nicht zu Hause machen können, dann packen Sie Ihre Sporttasche, und gehen Sie ins Fitnesscenter oder Yogastudio. Begeben Sie sich nur kurz in die Position des Hundes oder die des Kindes und verlangsamen Sie Ihren Atem, das kann genügen, um etwas von dem Stress loszuwerden. Markieren Sie mit einem festen Ritual eine Grenze zwischen der Arbeitszeit und der Zeit für sich. Meditation und der Aufenthalt im Freien sind gute Möglichkeiten für eine erholsame Auszeit, die wir alle brauchen.

Stille von der Natur lernen

Wenn wir ganz in der Natur aufgehen, nutzen wir alle unsere Sinne gleichzeitig, und das ist der optimale Zustand, um zu lernen.2 Ein Spaziergang im Wald kann den Geist schärfen, Aufmerksamkeit zurückbringen und geistiger Ermüdung entgegenwirken.3 Die directed attention fatigue kommt vom Starren auf einen Bildschirm und verursacht Reizbarkeit, verminderte Impulskontrolle und Unaufmerksamkeit, alles ADHS-Symptome.4 Diese durch Technik verstärkten Aufmerksamkeitsdefizite könnten der Grund dafür sein, dass ADHS überdiagnostiziert wird (nicht dass damit die Pharmaunternehmen aus dem Schneider wären). ADHS-Kinder, die im Freien spielen, bekommen ihre Symptome besser in den Griff als diejenigen, die sich nur im Haus aufhalten; und nach einem Parkspaziergang können sie sich erheblich besser konzentrieren als nach einem durch die Stadt.5

Die erwachsenen Teilnehmer eines Programms, das sie in Kontakt mit der Natur bringt, berichten von einem Gefühl des Friedens und der Fähigkeit, klarer zu denken, sowie von weniger Angst und Hilflosigkeit und mehr Kreativität.6 Wir alle können unsere Aufmerksamkeit zurückgewinnen, aber dazu müssen wir uns von unseren Bildschirmen losreißen.

Wenn man sich in der Natur aufhält, wird man also ruhiger und konzentrierter.7 Die Introspektion wird gefördert, und gleichzeitig werden unsere Sinne geweckt und wir verspüren Ehrfurcht, wodurch unser Zeitgefühl intensiviert und unser Wohlbefinden gesteigert wird. In der Natur zu sein, kann Ihnen dabei helfen, sich neu in der Ganzheit des Lebens wiederzufinden, ein Gefühl der Zugehörigkeit und der Verbundenheit zu entwickeln, das für die Seele und die Psyche wichtig und wohltuend ist.

Sonne, Luft und der Einfluss des Wetters

Viele von uns leiden unter einem Vitamin-D-Mangel, weil wir einfach immer weniger Zeit unter freiem Himmel verbringen8. Wenn wir uns der Sonne aussetzen, steigt unser Vitamin-D-Spiegel rasant an, und wir tanken viel Energie. Solange wir dreimal in der Woche zwanzig Minuten Sonne kriegen, produziert die Haut Vitamin D.9 Aber wir kriegen längst nicht genug Sonne. Wir sind ursprünglich darauf programmiert, uns an der frischen Luft und im Tageslicht aufzuhalten. Stattdessen verbringen wir den Großteil unserer Tage bei Kunstlicht in geschlossenen Räumen.

Ein niedriger Vitamin-D-Spiegel korreliert mit Depressionen.10 Der Zustand von Patienten, die unter depressiven Symptomen leiden, verbessert sich durch die richtige Menge dieses Vitamins.11 Vitamin D ist zentral für die Muskelgesundheit und das Knochenwachstum. 93 Prozent der Menschen, die wegen Knochen- und Muskelschmerzen eine Notaufnahme aufsuchen, leiden an Vitamin-D-Mangel, wurde in einer Studie festgestellt.12 Bemerkenswerterweise litten darüber hinaus viele dieser Patienten an verschiedenen psychiatrischen Erkrankungen, unter anderem Fibromyalgie, dem chronischen Fatigue-Syndrom und Depressionen.

Alle meine Manhattaner Patientinnen, die ihre Blutwerte überprüfen lassen, stellen erstaunt fest, dass sie einen niedrigen Vitamin-D-Wert haben. Mich erstaunt das kein bisschen. So gut wie kein New Yorker hält sich genug an der frischen Luft auf. Was mich dagegen erstaunt hat, war, dass sie von ihren Internisten Rezepte für hochdosiertes Vitamin D bekamen statt den Rat, einfach mal nach draußen zu gehen, was eigentlich die naheliegende Lösung wäre. Ich empfehle meinen Patientinnen, die den ganzen Tag im Büro sitzen müssen, wenigstens zur Mittagspause hinauszugehen und sich die Sonne ins Gesicht scheinen zu lassen. Ein Tipp dazu: Nehmen Sie Ihre modische Sonnenbrille für ein paar Minuten ab.13 Zwar produziert die Haut Vitamin D, aber das Sonnenlicht muss auf Ihre Retina treffen, um seine unmittelbare antidepressive Wirkung zu entfalten; wobei man natürlich nicht direkt in die Sonne schauen sollte. Aber das hat Ihnen Ihre Mutter sicher beigebracht.14

Die Natur beeinflusst uns mehr, als wir denken. Der Mensch ist genauso lichtempfindlich wie andere Tiere. Die Dauer des Tageslichts bestimmt unser Energieniveau und unser Verhalten. Im Herbst und Winter ist mein Wartezimmer immer voll, neue Patienten kommen dazu, und alte Patienten kehren wieder, um sich Rezepte für ihre Medikamente zu holen. Sie stellen mit dem Kürzerwerden der Tage eine Verschlechterung ihrer Stimmung fest und leiden unter einem Mangel an Energie, Motivation und Konzentration. Im Frühling und Sommer geht es den meisten meiner Patienten gut, und ich bekomme sie kaum zu Gesicht. Sie sind an der Sonne und körperlich aktiver; viele verringern dann die Dosis ihrer Medikamente oder setzen sie ganz ab. Wenn die Tage länger werden und man mehr Sonnenlicht ausgesetzt ist, haben meine bipolaren Patientinnen mit größerer Wahrscheinlichkeit eine manische Episode. (Als ich im Bellevue gearbeitet habe, hießen April und Mai bei mir immer die manische Saison.) Aber kaum wird im Herbst die Zeit umgestellt, fängt mein Telefon an zu klingeln, weil meine Patientinnen spüren, dass ihre Depression zurückkehrt.

Saisonal bedingte affektive Störungen oder auch nur der Winterblues lassen sich hervorragend und ohne Nebenwirkungen wie Gewichtszunahme und Libidoverlust durch Fototherapie behandeln. Man kann Fototherapielampen und Schutzbrillen übers Internet bestellen. Das Licht sollte möglichst über dem Kopf platziert werden, ungefähr dreißig Zentimeter von den Augen entfernt, und zehntausend Lux Vollspektrumlicht abgeben. Ich empfehle meinen Patientinnen, sich möglichst früh am Tag eine halbe Stunde vor eine solche Lampe zu setzen.

An Tagen, an denen Tiefdruck herrscht und es bedeckt oder regnerisch ist, fühlen sich viele schlapp und niedergeschlagen. Wir sind alle wetterempfindlich und reagieren besonders auf Veränderungen des Luftdrucks. Bei Versuchstieren verstärken sich depressive Symptome, wenn man den Luftdruck künstlich absenkt.15 Eine breit angelegte finnische Studie zeigt eine Korrelation zwischen Tiefdruck und Selbstmordversuchen.16

Bei Hochdrucklage, die gutes Wetter bringt, bessert sich unsere Stimmung tendenziell, was sicher auch damit zu tun hat, dass das oft sonnige Tage sind. Fest steht jedoch, dass sich der barometrische Druck auf die Gelenkflüssigkeit auswirkt, was bei Arthritikern zu Schmerzen führen kann; andere bekommen Migräne. Schmerz wiederum kann die Stimmungslage beeinflussen. Im Bellevue habe ich oft mit Polizisten über den Einfluss des Wetters auf die New Yorker gesprochen. Jeder hatte seine eigene Theorie, die auf Temperatur, Luftfeuchtigkeit oder dem Sinken und Steigen des Barometers gründete, und es rentiert sich sicherlich, diesem Phänomen einmal auf den Grund zu gehen.17

Die Natur hält Erfahrungen für uns bereit, die uns geradezu glücklich machen. Sind Sie schon einmal an einem Wasserfall oder am Meeresufer entlangspaziert, wenn die Wellen gegen Ihre Füße brandeten? Oder erinnern Sie sich, wie weich die Luft nach Regen ist? Oder auch nur unter der Dusche – wie ist dort Ihre Stimmung? Wasser erzeugt negative Ionen, die Energie, die Stimmungslage und Stressniveau positiv beeinflussen können. Auch frische Bergluft enthält signifikant höhere Mengen an negativen Ionen als das Gemisch, das Sie in Ihren eigenen vier Wänden oder im Büro einatmen. Unsere Körperzellen sind negativ geladen, das heißt, dass wir positiv geladene Ionen anziehen, zum Beispiel Staub, Tierallergene und verschiedene Mikroben. Computer und Handys erzeugen positive Ionen, während Klimaanlagen negative Ionen dezimieren; beides tut Ihrem Kopf nicht gut. Untersuchungen mit Ionengeneratoren haben gezeigt, dass die Exposition mit negativen Ionen depressive Symptome lindern, Stress und Entzündungsmarker reduzieren und Wachheit und mentale Energie vergrößern kann.18

Ionengeneratoren umgeben Sie mit einem Schutzschild, das positive Ionen ablenkt. Sie kosten nicht viel und lassen sich neben das Bett stellen, wo sie während Ihres Schlafs ihre Wirkung tun. Aber Sie ahnen bestimmt, wozu ich Ihnen noch mehr rate: Gehen Sie raus. Machen Sie eine Wanderung, die Sie zu einem Wasserfall oder Bach führt, gehen Sie an den Strand oder ins Gebirge, und gehen Sie unbedingt nach einem Frühlingsregen nach draußen, um die saubere, negativ aufgeladene Luft zu atmen. Wenn das alles nicht möglich sein sollte, nehmen Sie wenigstens eine Dusche. Nennen Sie’s Hydrotherapie.

Naturtherapie

Hält man sich regelmäßig in der Natur auf, wird der Körper besser mit Stress fertig und erholt sich schneller von Verletzungen und Krankheiten.19 Bewegung im Grünen stärkt die Widerstandskraft und die Immunfunktion, indem die Aktivität natürlicher Killerzellen erhöht wird.20 In einer Vergleichsstudie zwischen Stadt- und Landbewohnern wurde bei den Städtern eine höhere fMRI-Aktivität in den Angstzentren (Amygdalae) festgestellt.21 Sie zeigten auch eine stärkere Aktivität des anterioren cingulären Cortex nach aufreibenden Aufgaben. Der anteriore cinguläre Cortex ist ein Teil des Gehirns, der bei depressiven Symptomen eine große Rolle spielt.22 Wenn man Stadtbewohner in die Natur schickt, gewinnen sie einen positiveren Blick aufs Leben und größere Zufriedenheit.23 Das kommt ihrer körperlichen Gesundheit zugute, da glückliche Menschen schneller von Krankheiten genesen und offenbar mehr auf Gesundheitsinformationen geben, was wiederum zu einem längeren Leben führt.24

Einer amerikanischen Studie zufolge fühlten sich 22 Prozent der Befragten deprimierter, nachdem sie sich in einem Einkaufszentrum aufgehalten hatten, während sich 92 Prozent nach einem Spaziergang weniger deprimiert fühlten.25 Letztere gaben außerdem an, weniger angespannt, gereizt und müde zu sein. Auch in der Ärzteschaft wird mittlerweile die transformative Kraft der Natur anerkannt.

Schon der Anblick von Natur kann therapeutisch wirken. Patienten, die aus ihrem Krankenhausfenster auf einen Baum blicken, erholen sich schneller, nehmen weniger Schmerzmittel und ihre Krankenakte zeigt einen besseren Verlauf als die der Patienten ohne Baumblick.26 Kanadische Studien belegen, dass Kinder, deren Klassenzimmer große Fenster mit Blick auf eine natürliche Umgebung haben, bessere Noten bekommen und dass ihre Lehrer lieber unterrichten und weniger Disziplinprobleme haben.27 Ebenso zeigte sich, dass sich der Herzschlag von Menschen, die in Büros mit Blick auf die Natur arbeiten, schneller von Stress erholt als der von Leuten mit einem HDTV-Bild von Natur, die wiederum besser abschneiden als solche, die vor einer nackten Wand sitzen.28

Die Untersuchungen von Frances Kuo haben ergeben, dass es auf städtischen Spielplätzen mit Wiesen und Bäumen zu weniger gewalttätigen Zwischenfällen kommt; die Verbrechensraten in Stadtvierteln mit mehr Grünflächen sind niedriger.29 In Sozialsiedlungen in Chicago korreliert das Vorhandensein von Grünanlagen in unmittelbarer Nähe mit besserer Konzentration, weniger mentaler Müdigkeit und weniger Fällen von häuslicher Gewalt von Frauen gegenüber ihren Partnern.30 Ja, Frauen. Und noch ein Beispiel für den Grüneffekt hinsichtlich Gewalt. Paare, bei denen beide Cannabis rauchen, neigen am wenigsten zu häuslicher Gewalt.31

Wenn wir uns in die Natur begeben, fördert das die Beziehung zu anderen, und wir messen sozialen Beziehungen einen höheren Stellenwert bei. Ein Spaziergang im Wald kann mit einem tiefen Gefühl der Heimkehr verbunden sein. Es hat sich gezeigt, dass uns die Natur zugewandter und großzügiger macht.32 Leute, die Bilder einer künstlichen Umgebung betrachten und dabei in einem Raum ohne Pflanzen sitzen, bewerten Reichtum und Ruhm höher als diejenigen, die umgeben von Pflanzen Bilder einer natürlichen Umgebung ansehen. Letztere schätzten Gemeinschaft höher ein und waren großzügiger mit ihrem Geld. Natur hilft uns dabei, in Kontakt mit unserem wahren Ich zu kommen. Wir stammen alle von Jägern und Sammlern ab, und die waren für ihr Überleben aufeinander angewiesen. Sie waren ausgesprochen egalitär und gemeinschaftlich eingestellt.33 Wenn Menschen zusammenkommen, um etwas für ihre Gemeinschaft zu tun oder sich für die Umwelt einzusetzen, wächst das soziale Kapital, und damit heilen sie sich schließlich selbst. Verlieren wir den Kontakt zur Natur, kann auch unser Gemeinschaftssinn leiden, was unser Bedürfnis nach Drogen und einem anderen Ersatz für dieses lebenswichtige Gefühl von Zugehörigkeit und Einssein steigert. Grün ist nicht nur gut für die Umwelt, es ist auch gut für die Seele.

Bakterien für die Gesundheit

Wir sind heute geradezu zwanghaft, was Sauberkeit und Keimfreiheit angeht, aber das kann gesundheitsschädlich sein. Schmutz ist etwas Natürliches, übertriebene Sauberkeit nicht. Durch antibakterielle Seifen und die übermäßige Verabreichung von Antibiotika entstehen »Superbakterien«, die resistent gegen die üblichen Chemikalien und Medikamente sind und mehr Schaden als andere Bakterien verursachen. Darüber hinaus fordern wir in unserer keimfreien Umgebung das Immunsystem nicht adäquat, was Autoimmunstörungen, Asthma und Allergien zur Folge haben kann.34

Wenn man schwächeren Pathogenen (krank machenden Bakterien und Viren) ausgesetzt ist, wird das Immunsystem angeregt und die Toleranzgrenze verschoben, die wir gegenüber potenziell schädlicheren oder tödlichen Pathogenen haben. Stellen Sie sich das Immunsystem wie eine Grenzstation vor. Wenn niemand von außen die Grenze übertritt, ist es sehr viel schwerer festzustellen, wer dazugehört und wer fremd ist, weil alle gleich aussehen. Ohne Vielfalt kann der Körper nicht zwischen sich und anderen unterscheiden und fängt dann womöglich an, das eigene Gewebe zu bekämpfen, wie man es bei Autoimmunstörungen beobachtet.

Für unsere Immun- und Verdauungsfunktionen ist es gesünder, wenn wir eine große Bandbreite von Bakterien im Darm haben. Kinder, die per Kaiserschnitt geboren werden und nicht über die an Bakterien reiche Vagina, leiden später eher an Asthma, Allergien und Autoimmunsymptomen.35 Auch werden sie mit höherer Wahrscheinlichkeit übergewichtig, weil eine größere Vielfalt von Darmbakterien einen günstigen Einfluss auf den Stoffwechsel hat.36 Vielleicht würde es einfach reichen, dem Neugeborenen einen Tupfer mit dem Vaginalabstrich der Mutter in den Mund zu stecken.

Landwirte versetzen das Tierfutter mit Antibiotika, damit die Tiere in kürzerer Zeit und mehr zunehmen. Nur leider geraten diese Antibiotika auch in unsere Nahrung. Wenn man hochkalorisches Mäusefutter mit Antibiotika versetzt, dann entwickeln die männlichen Mäuse Muskeln und Fett, die weiblichen nur Fett.37

Antibakterielle Seifen sind ein weiteres Problem. Es besteht die Sorge, dass Triclosan und Triclocarban die Schilddrüsenfunktion stören, verschiedene Hormonspiegel erhöhen und medikamentenresistente Infektionen fördern.38 Diese antibakteriellen Stoffe sind in menschlichem Urin, Muttermilch und Abwasser nachweisbar.39

Bei der Gartenarbeit sollte man auf Handschuhe verzichten. In dem Schmutz unter den Nägeln kann ein »bakterielles Antidepressivum« stecken. Wenn wir uns Bakterien in der Natur aussetzen, kann uns das schlauer, glücklicher und gelassener machen. Mycobacterium vaccae hat einen positiven Einfluss auf den Serotonin- und Noradrenalinspiegel im Gehirn und stimuliert das Wachstum bestimmter Gehirnzellen, was zu einer Verminderung von Angst führt. Mäuse, denen man M. vaccae injiziert, finden in der Hälfte der Zeit den Weg durch ein Labyrinth und zeigen dabei weniger Angstreaktionen als die Kontrollgruppe.40 Bakterien spielen auch eine Rolle bei der Regulierung der Stressreaktion.41 Bei Labortieren und gesunden Menschen reduziert die Verabreichung von Lactobacillus helveticus und Bifidobacterium longum über einen Zeitraum von zwei Wochen deutlich angstähnliches Verhalten und negative Emotionalität.42 Es gibt verschiedene Studien, die darauf hinweisen, dass bestimmte Bakterien für die Entwicklung eines normalen Sozialverhaltens bei Mäusen wesentlich sind und dass sich bei ihnen autistisches Verhalten verbessert, wenn man ihnen das Bakterium Bacteroides fragilis verabreicht.43

Was wir daraus lernen können, fasst Michael Pollan in seinem Artikel im New York Times Magazine, »Some of My Best Friends Are Germs«, zusammen: »Verwenden Sie möglichst wenig Antibiotika und Händedesinfektionsmittel und lassen Sie Ihre Kinder im Dreck und mit Tieren spielen.«44 Ich empfehle zur Vergrößerung der bakteriellen Vielfalt auch gerne die Einnahme von Probiotika (vgl. das Kapitel zum Essen).

Das Nest beschmutzen: Umweltschäden und Pestizide

Wir beschmutzen unser Nest. Die Erde wird entwaldet, was zu einem Verlust an Artenvielfalt und zum Klimawandel führt. Wir vergiften auf tausenderlei Weise unsere Luft und unser Wasser. Unser Wasser ist hormonell verseucht. Millionen von Frauen, die die Pille nehmen, scheiden die darin enthaltenen Hormone mit dem Urin aus, und diese Hormone gelangen über die Kläranlagen ins Wasser.45 Hormone im Trinkwasser haben einen erhöhten Östrogenspiegel im Blut zur Folge, was beim Mann das Prostatakrebsrisiko, bei der Frau das Brustkrebsrisiko erhöht.46

Der Östrogenrezeptor ist überaus flexibel, und er ist promisk. Er ist nicht wählerisch, auf wen er reagiert, und lässt sich von vielen chemischen Verbindungen austricksen, weil er glaubt, es mit Östrogen zu tun zu haben. Dazu gehören synthetische Stoffe, die Xenoöstrogene genannt werden. Östrogene binden sich im Blut oft an Proteine, sodass weniger davon die Östrogenrezeptoren erreichen. Stoffe, die wie Östrogene wirken, bleiben dagegen ungebunden; sie erreichen den Rezeptor direkt und sind daher östrogener als das Östrogen selbst. Das meiste Plastik, mit dem wir Tag für Tag zu tun haben, ist östrogen. Erhitzt man Plastik in der Mikrowelle, setzt es sogar noch mehr davon frei.47 Bisphenol A, die Chemikalie, mit der Kunststoffe flexibler gemacht werden, findet man in älteren Schnabeltassen und Babyfläschchen, in der Beschichtung von Konservendosen und auf Kassenbons. BPA ist hochöstrogen; der ständige Kontakt damit lässt Mädchen früher in die Pubertät kommen und verursacht bei Jungen Genitalmissbildungen.48 Die Forschung hat nicht nur einen Zusammenhang zwischen Bisphenol A und Unfruchtbarkeit, Genitaldeformationen und geringerer Spermienzahl festgestellt, sondern auch mit Asthma, Herz- und Lebererkrankungen, ADHS und Krebs.49 Bisphenol A kann Gene ausschalten, die das Tumorwachstum hemmen, was zu dem schon erwähnten erhöhten Brustkrebsrisiko führt.50

Und hier wird das Ganze ein bisschen Sci-Fi-mäßig. Die genetischen Veränderungen können über Generationen hinweg vererbt werden. »Ein Gift tötet. Eine Chemikalie wie Bisphenol A programmiert die Zellen um und führt bei deinem Enkelkind zu einer Krankheit, an der es stirbt.«51 Keine der von der Industrie finanzierten Studien hat signifikante Folgen bei niedrigen Bisphenol-A-Dosen aufgezeigt, dagegen mehr als 90 Prozent der öffentlich finanzierten.52 Wenigstens verzichten viele Hersteller inzwischen auf Bisphenol A. Allerdings wurde es durch andere Chemikalien ersetzt, die immer noch eine östrogene Aktivität zeigen, zum Teil sogar eine höhere als Bisphenol A.53 Die milliardenschwere Kunststoffindustrie übt wie früher die Tabakindustrie immensen Druck auf die Regierungen aus, damit weniger Tests durchgeführt werden, die Öffentlichkeit nicht entsprechend aufgeklärt wird und Produkte nicht zurückgerufen werden.54

Auch Phthalate werden als Weichmacher bei Kunststoffen eingesetzt; darüber hinaus finden sie sich in Kosmetika und Reinigungsmitteln, um diese geschmeidiger zu machen. Man bringt sie mit Krebserkrankungen und Geburtsfehlern in Zusammenhang, einer Verschlechterung der Spermienqualität und einer abnormen Hodenentwicklung.55 Sie stören die Testosteronproduktion, beeinflussen bei Frauen die Eizellenproduktion, führen zu verminderter Fruchtbarkeit und sollten als Fortpflanzungsgifte betrachtet werden.56 Phthalate führen zu einer früheren Pubertät, und es gibt Hinweise, dass sie Brustkrebs, Diabetes und Fettleibigkeit hervorrufen.57

Seit ich all das über Bisphenol A und Phthalate in Erfahrung gebracht habe, habe ich sämtliche Plastikbehälter aus meinem Haushalt verbannt und sie durch Glasgeschirr ersetzt. Ja, es ist zum Verrücktwerden, weil Plastik überall ist. Vermeiden Sie es wenigstens, Ihr Essen in Plastikbehältern aufzubewahren und vor allem: Erhitzen Sie Plastik nicht, schon gar nicht in der Mikrowelle, da die Phthalate dann in Ihr Essen dringen. Schwangere, Föten und heranwachsende Kinder sind am meisten gefährdet.

Ökopsychologie

In der monotheistischen Sicht auf das Leben regiert der Geist über den Körper. Der Mensch befreit sich von der Natur und beherrscht sie. Wir transzendieren die Natur, indem wir uns über sie erheben, und Heimstatt des Geistes ist der Himmel, jenseits der Widrigkeiten alles Irdischen und Triebhaften. In indigenen Kulturen lebt der Geist jedoch in der Natur.58 Der Himmel ist hier auf Erden, er kommt nicht erst, er ist da. Die Wälder und Dschungel sind heilig; daraus leitet sich das Bedürfnis nach deren Erhalt ab. Umweltschäden beeinflussen unserer Seele. Die Erde leidet unter unseren Händen, und wir trauern zumindest unbewusst um sie.

Es liegt in unserer Verantwortung, uns um die Erde und unsere Umwelt zu kümmern, und es trägt zu unserem Wohlbefinden bei. Solange wir uns von der Natur entfremdet fühlen, werden wir nicht auf sie achten und fühlen uns womöglich nicht vollständig. Sich einer Gemeinschaft zugehörig zu fühlen ist wohltuend. Wenn man Teil von etwas Großem und Beständigem ist, um das man sich kümmern muss, tut das der Seele gut. Sich umweltbewusst zu verhalten, wirkt antidepressiv. Gut mit der Umwelt umzugehen, ist dasselbe, wie gut mit sich umzugehen, weil wir nun einmal in ihr leben. Achtung gegenüber unserem Planeten kommt Selbstachtung gleich. Sorgen wir dafür, dass die Erde überdauert und gedeiht, grün und gesund bleibt, ermöglicht das nicht nur uns eine gesündere Lebensweise, sondern auch unseren Kindern.

Wir haben alle dasselbe Zuhause. Wenn unter uns Umweltsünder leben, leiden alle darunter. Zum Glück ist das, was für das Individuum am gesündesten ist, auch oft für die Erde das Beste. Pflanzliche Nahrung essen, im Gleichklang mit dem zirkadianen Rhythmus und der Natur leben und selbst die Einnahme von Entzündungshemmern auf Cannabisbasis, um unsere Widerstandkraft gegen Stress zu erhöhen, sind alles umweltfreundliche Maßnahmen.59 Cannabis und Hanf allgemein sind dürreresistente krautartige Pflanzen, die ohne eine für den Menschen schädliche Behandlung mit Pestiziden auskommen. Solche Pflanzen spenden dem Boden Nährstoffe, reinigen mehr als Bäume die Luft von Kohlenstoff und beschenken uns nicht nur mit Heilmitteln, sondern auch mit Ballast- und Treibstoffen sowie Nahrung.60 Cannabisraucher werden leichter eins mit ihrem Körper und nehmen die Natur intensiver wahr. Das macht es zu einem geeigneten Medikament für Frauen mit Stimmungsschwankungen.

Wir haben das Paradies weder verloren, noch ist es uns verschlossen worden, und es gibt keine Pille, die die Natur ersetzt. Man rettet sich und den Planeten, indem man hinausgeht, die Schönheit in der Welt entdeckt, sei es der Bach in einem Wäldchen gleich um die Ecke oder in einem entlegenen Naturschutzgebiet, und den Aufenthalt dort genießt.61 Und dann kann man sich um die Umwelt kümmern, wie man sich um einen geliebten Menschen kümmert. Heile die Welt, dann heilst du dich selbst.

Wenn ich im Sommer den Strand entlanglaufe, sammle ich oft unwillkürlich den Müll auf, der in den Algen im Sand hängt. Die synthetischen Materialien, meistens Plastik, sind kaum zu übersehen. Plastik habe ich noch nie leiden können, es erinnert mich an die unersättliche Gier, zu kaufen und wegzuwerfen. Seit ich durch die Recherchen zu diesem Buch weiß, dass Kunststoff unser endokrines System stören kann und krebserregend ist, hat sich mein Blick darauf noch einmal verändert.62 Ich kann es kaum erwarten, bis endlich kompostierbares Verpackungsmaterial aus Hanf hergestellt wird.

Im Pazifischen Ozean treibt ein »Plastikstrudel« in der Größe von Texas. Daheim pflegen wir unser eigenes Plastikgeschwür. Synthetische Kissen für unsere Brüste und Gesichter, gefakte Sexpartner auf den Computern und die künstliche Rationalität von selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern vertreiben die Natur aus uns. Wir haben uns zu sehr auf Technik und Synthetik eingelassen und von Haaren und Pheromonen entfernt, und darunter leiden unsere Körper. Aus unserer Vergangenheit als Jäger und Sammler ist uns der Sammeltrieb geblieben, und zwanghaft konsumieren wir, ohne je satt oder zufrieden zu sein.

Wir nehmen künstlichen Süßstoff zu uns, aber unsere Bauchspeicheldrüse schüttet Insulin aus, als wäre es Zucker.63 Männer starren auf dem Bildschirm Plastikbrüste an, und ihr Gehirn reagiert darauf, als hätten sie echten Sex.64 In Kunststoff enthaltene Chemikalien verhalten sich wie Hormone, docken an unsere Östrogenrezeptoren an und stören unsere endokrine Funktion und Reproduktionsfähigkeit.65 Setzen wir uns in Massenmedien den Traumata anderer Leute aus, wird auch bei uns eine Stressreaktion ausgelöst, so als würden wir sie selbst erfahren.66

Bildschirme sind gesundheitsschädlich

Mit Drogen entstehen Süchte. So ist es auch bei Bildschirmen passiert. In den USA gibt es inzwischen mehr Geräte mit Internetzugang als Menschen – 311,5 Millionen Amerikaner besitzen mehr als 425 Millionen PCs, Tablets, Smartphones und Spielkonsolen.67 Ähnlich ist die Situation in den anderen Industrieländern. Man muss sich nur einmal auf der Straße umsehen. Alle starren auf ihre iPhones, während sie sich durch die Menge auf den Bürgersteigen drängen oder, schlimmer noch, die Straße überqueren. Beim Warten auf dem Bahnsteig checken die Leute ihre Mails oder schreiben eine SMS. In der U-Bahn spielen sie geistlose Videospiele. Alles, um irgendwo anders als dort zu sein, wo sie sind. Technik entführt uns an einen anderen Ort. Mit der »anhaltenden partiellen Aufmerksamkeit«68, wie Linda Stone es nennt, mit der wir uns elektronischen Geräten zuwenden, nimmt unsere Fähigkeit, unsere Aufmerksamkeit gezielt zu richten, klar zu denken und produktiv und kreativ zu sein, ab.69

Wir sind neuronal so sehr mit unseren Smartphones beschäftigt, dass unser Gehirn wie verrückt feuert, wenn sie klingeln, so wie bei einem Junkie Dopamin ausgeschüttet wird, sobald er eine Nadel und einen Löffel sieht. Bei Versuchspersonen, die ihr Telefon klingeln hören, leuchtet die Insula auf, die unter anderem an Empfindungen wie Liebe und Mitgefühl beteiligt ist, eine Reaktion, wie sie in der Gegenwart eines geliebten Menschen erfolgt.70 Unsere Beziehung zu unseren Handys ist beängstigend. Mit dem neuen Begriff der Nomophobie versucht man die Unruhe zu beschreiben, die viele von uns befällt, wenn sie ihr Handy nicht finden oder keinen guten Empfang oder einen schwachen Akku haben.71

Wir sind soziale Primaten, und daher ist es für uns entscheidend, dass wir uns als Teil einer Gruppe empfinden. Unser Status innerhalb der Gruppe beeinflusst unser Verhältnis zu uns selbst und zu unserem Clan. Wir pflegen unsere Beziehungen verbal, statt dass wir uns wie die Affen gegenseitig lausen, ein Pflegeverhalten ist es trotzdem. Facebook hat dafür eigene Regeln erfunden, aber darin kommt ein uraltes Primatenverhalten mit Dominanzhierarchien und der Zurschaustellung von Fruchtbarkeit, Aggression oder Gruppenzugehörigkeit zum Ausdruck. Uns ist das Bedürfnis, gehalten zu werden, angeboren, und um dieses Bedürfnis zu befriedigen, tauchen wir in soziale Medien ab. Allerdings ist es unmöglich, von etwas genug zu bekommen, das nur fast funktioniert.72 Soziale Internetdienste wie Facebook und Instagram sind reiner Fake, da niemand Bilder von einem Streit mit seinem Partner, Ausrastern wegen der Kinder oder der Nervosität bei einem Meeting mit dem Chef postet. Und genau wie nach einer Junk-Food-Völlerei haben wir nach einer Völlerei mit unbefriedigenden sozialen Interaktionen weniger Hunger auf das Eigentliche.

Ich empfehle gerne ein pseudoreligiöses Ritual, nämlich im übertragenen Sinne »den Sabbat zu heiligen«. Verhalten Sie sich wie ein gläubiger Jude, und schalten Sie Ihre elektronischen Geräte für vierundzwanzig Stunden ab, freitags bis samstags von Sonnenuntergang zu Sonnuntergang. Keine E-Mail, keine SMS, kein Fernseher, kein Computer. Versuchen Sie das doch mal, Sie werden sehen, wie entspannend es ist. Sie werden sehen, wie viel mehr freie Zeit und Kraft Sie haben. Es ist wie ein Mini-Wellness-Wochenende.

Ihre Lunge ist ein Tor ins Nirwana

Loslassen tut nicht nur dem Kopf gut, es ist gut für den ganzen Körper. Und am schnellsten und einfachsten baut man Druck über die Atmung ab. Das Gehirn kann praktisch nicht in Panik geraten, wenn es voll mit Sauerstoff ist, allerdings atmen viele von uns sehr flach. Wenn wir angespannt und nervös sind, atmen wir oft noch weniger ein.73 Einer der Gründe, warum ich meinen Patientinnen Kardiotraining und Yoga empfehle, ist der, dass es die Fähigkeit, tiefer und intensiver zu atmen, steigert.

Atmen läuft unbewusst ab, ob wir daran denken oder nicht, aber wir können es auch bewusst steuern, so als wäre es eine willkürliche Funktion. Wenn man sich auf seine Atmung konzentriert, verrichtet man spirituelle Arbeit, und sie hilft, Seele und Geist mit dem Körper, Bewusstsein mit Unterbewusstsein zu verbinden. Versuchen Sie es einmal mit diesen vier unterschiedlichen Atemtechniken (die ich von Andrew Weils Anleitungen zur Atemarbeit übernommen habe):

  1. Folgen Sie einfach Ihrem Atem, atmen Sie langsam ein und aus, ohne Tiefe oder Tempo zu beeinflussen. Spüren Sie, wie sich die Luft in Ihrer Nase anfühlt, in ihrem Hals, Ihrer Brust, Ihrem Bauch; spüren Sie, wie Ihr Bauch sich hebt und senkt. Bleiben Sie mit Ihrer Aufmerksamkeit so lange wie möglich dabei, und wenn Sie merken, dass Sie gedanklich abschweifen, richten Sie Ihre Aufmerksamkeit wieder auf Ihre Atmung, vielleicht indem Sie einfach »Denken« zu sich sagen.
  2. Übertriebenes Ausatmen. Versuchen Sie, die gesamte Luft aus Ihrer Lunge zu pressen, bevor Sie wieder einatmen. Dabei soll jedes Ausatmen langsamer, länger und vollständiger sein als das vorhergehende.
  3. Zählen Sie beim Einatmen bis vier, halten Sie den Atem an, während Sie bis sieben zählen, und atmen Sie bei acht aus. Wiederholen Sie das zehnmal. Dadurch können Sie ruhiger werden und »wieder zu sich kommen«.
  4. Blasebalgatmung: Atmen Sie flach und möglichst schnell durch die Nase ein und aus. Diese Atemübung kann zu mehr Energie und Konzentration verhelfen, wach machen und den Adrenalinspiegel erhöhen.

Bauen Sie diese Atemübungen in Ihren Tagesablauf ein. Wenn Sie irgendwo Schlange stehen, im Verkehr feststecken oder warten, bis Ihr Computer endlich eine Datei heruntergeladen hat … dann atmen Sie. Auf diese Weise können Sie in Ihren Körper zurückkehren und Kontakt mit Ihrer Umgebung aufnehmen. Atmen bringt Sie zurück in die Gegenwart. Jeder Atemzug kann Sie daran erinnern, einen neuen Anfang zu setzen, bewusst, wach und klar, in Ihrem Körper zu sein.

Neben diesen vier Atemübungen habe ich fünf weitere Ratschläge für Sie. Begreifen Sie sie einfach als Dr. Julies hilfreiche Tipps für ein gelassenes Leben.

  1. Suchen Sie Ruhe. Vielleicht kennen Sie den Spruch: »Fürs Glück entscheidet man sich.« Nicht anders ist es bei Gelassenheit. Geben Sie der Ruhe Priorität. Schalten Sie Fernseher und Radio aus (Sie brauchen sie nicht, um »Gesellschaft zu haben«). Geschrei zu Hause muss nicht toleriert werden.
  2. Genießen Sie den Moment. Wir verschwenden viel Energie darauf, die Realität zu bekämpfen. Wenn wir leiden, hat das meistens damit zu tun, dass etwas anders sein soll, als es ist, dass wir das Jetzt verleugnen. Akzeptieren Sie, was ist. Beobachten Sie, was geschieht, und lassen Sie es zu. Sie müssen es nicht mögen, aber Sie müssen ihm Raum geben. Das gehört zur inneren Ruhe dazu.
  3. Verbringen Sie möglichst viel Zeit in der Natur. Gehen Sie nach draußen, wo Sie die Natur genießen können, in den Park, den Garten, den Wald, die Berge oder ans Meer, es wird Ihre Stimmung verbessern.
  4. Wenn Sie mit anderen kommunizieren, sollten Sie daran denken, dass die Leute gehört und verstanden werden wollen. Achten Sie also darauf, dass Sie das Gehörte spiegeln und empathisch auf die Gefühle Ihres Gegenübers reagieren. Wir wollen das Gefühl haben, dass wir dazugehören. Wenn sich jemand bei Ihnen über etwas beklagt, überlegen Sie, ob da nicht etwas ist, was der andere nicht ausspricht oder übersieht, und versuchen Sie, seinem Bedürfnis nach Einbeziehung gerecht zu werden.
  5. Sie sollten jeden Tag Zeit für Meditations- oder Achtsamkeitsübungen finden. Richten Sie Ihre Aufmerksamkeit auf eine Sache, sei es Ihr Atem, ein Mantra oder etwas, das Sie gerade tun. Wenn Sie Geschirr spülen oder das Abendessen zubereiten, sollten Sie sich ganz darauf konzentrieren. Legen Sie den Schalter von »Senden« auf »Empfangen« um, während Sie versuchen, Ihr Gedankenkarussell anzuhalten. Bauen Sie Entspannungsübungen in Ihren Tagesablauf ein. Falls nötig, schreiben Sie sich Termine dafür in den Kalender.

Das Gehirn im Achtsamkeitsmodus

Meditation wirkt sich positiv auf Stress, Cortisolwerte, Blutdruck und das Risiko eines Herzanfalls aus.74 Meditation erhöht die Resilienz und wirkt Entzündungen entgegen; sie unterstützt Gene, die den Energiestoffwechsel kontrollieren und die Insulinausschüttung und die Telomerstabilität, die den Alterungsprozess und das Absterben von Zellen verlangsamt.75 Meditationsübungen beeinflussen neuroplastische Veränderungen überall dort, wo es um Stress, Resilienz, Angst und Depression geht, also in der Insula, dem anterioren cingulären Cortex und den Verbindungen zwischen dem präfrontalen Cortex und dem limbischen System.76 Diese veränderte funktionelle Konnektivität drückt sich in einer verbesserten Verarbeitung und Wahrnehmung sensorischer Erfahrungen sowie einer erhöhten Aufmerksamkeitsspanne aus. Vor allem aber verbessert eine Stärkung dieser Verbindungen die Selbstregulation, was SSRIs überflüssig machen kann.77

Je mehr Meditationspraxis man hat, desto mehr Gehirnwindungen bekommt man (Gyrifikation genannt), und das bedeutet mehr Gehirnverbindungen.78 Vielleicht liegt es an diesen vermehrten Verbindungen, dass Menschen, die meditieren, ihre Emotionen und Reaktionen besser unter Kontrolle haben. Man entspannt sich also nicht nur während der Meditation, sondern ist auch sonst ruhiger und weniger reaktiv.

Mithilfe von Meditation kann man die Resilienz gegenüber Stress erhöhen.79 Der präfrontale Cortex ist ein Teil des Gehirns, der die Angst- oder Wutreaktionen der Amygdala unterdrückt und so hilft, Angst zu hemmen. Wenn man seinen Input stärkt oder aktiviert (und das lässt sich am besten durch Meditation bewerkstelligen), kann man die Dauer der Reaktion der Amygdala auf Stress und die Zeit, die man zur Erholung von einem Trauma braucht, verkürzen, was zu mehr Widerstandskraft führt. So sieht Top-down-Kontrolle in Aktion aus.80 Der präfrontale Cortex, die Amygdala und der Hippocampus tragen alle zur Resilienz bei. In Studien mit bildgebenden Verfahren hat sich gezeigt, dass Menschen, die ein Trauma überlebt haben, ohne eine posttraumatische Belastungsstörung zu entwickeln, stärkere Verbindungen zwischen dem präfrontalen Cortex und dem Hippocampus haben, was nahelegt, dass ihre höheren kognitiven Funktionen beruhigend auf ihre emotionale Reaktivität wirkten.81

Meditationsgeübte können Schmerzsignale und Reaktionen auf bedrohliche Situationen besser kontrollieren, was vermutlich der Grund dafür ist, dass bei ihnen seltener Depressionen und Ängste auftreten.82 Nach nur acht Wochen Achtsamkeitstraining nimmt die Zelldichte im Hippocampus zu und in der Amygdala ab, worin sich eine Dominanz des Rationalen über das Emotionale spiegelt.83 Menschen, die meditieren, sind nicht nur seelisch, sondern auch körperlich gesünder.84 Deshalb sage ich meinen Patientinnen, dass sie nicht nur ihren Beckenboden trainieren sollen, sondern durch Meditation und Achtsamkeit auch ihren präfrontalen Cortex. Es ist ein Weg zu einem Leben ohne Antidepressiva.

Meditation ist kein Glaubenssystem; es ist eine neue Möglichkeit, Aufmerksamkeit zu schenken. Man braucht kein spezielles Kissen und keine Lehrstunden bei einem Schamanen, um zur Ruhe zu kommen und zu atmen. Das nächste Mal, wenn Sie den Eindruck haben, gleich auszurasten, sollten Sie überlegen, ob Sie stattdessen nicht den Computer runterfahren, das Telefon leise stellen und auf Ihren Atem achten. Ihre einzige Aufgabe besteht dann darin, da zu sein, ganz und gar gegenwärtig.85 Wenn Sie Ihren Geist ausschließlich auf das, was Sie tun, richten, sei es in der Arbeit oder beim Sport, erreichen Sie diesen segensreichen Zustand namens Flow.

Man sollte sich möglichst oft eine Auszeit gönnen. Nutzen Sie Achtsamkeit, um Einfluss auf Ihr reaktives Verhalten und Ihre Emotionalität zu gewinnen. Heutzutage ist das ständige Beschäftigtsein eine Droge und Erschöpfung ein Statussymbol. Aber durch Besitzstreben, Kaufrausch und Leistungsdenken lässt sich das Loch in uns nicht füllen. Stattdessen sollte man sich reglos in dieses Loch setzen und erkennen, dass es ein Ort des Friedens und der Ruhe ist. Erfreuen Sie sich an dem Weniger, der Leere und dem Jetzt. Heißen Sie Unsicherheit willkommen. Üben Sie sich in der Bescheidenheit bei Emotionen und Konsum. Wenn man präsent und bewusst bleibt, innerlich nicht aussteigt oder sich ablenkt, dann hat man irgendwann diese Einflussmöglichkeit. Nehmen Sie sich Zeit, Ihre Gefühle zu spüren und sie sich anzusehen, bevor Sie sie ausdrücken. Das kortikale Gehirn, das plant, analysiert und entscheidet, sollte über das niedrigere, stammesgeschichtlich älteste Gehirn herrschen, das reaktiv und manchmal aggressiv ist.

Wenn Dasitzen und Meditieren einfach nicht Ihr Ding ist, können Sie auch ins Grüne gehen. Orientieren Sie sich an der Natur. Gehen Sie in den Wald. Dort gibt es keine Hektik, dort ist es ruhig und still, was Ihnen dabei helfen kann, es selbst auch zu werden. Die Natur ist eine unerschöpfliche Quelle des Staunens. Wenn man Ehrfurcht empfindet und ihre Größe begreift, dann erfährt man ein Gefühl der Fülle und des Reichtums.86 Wenn man das Gefühl hat, mehr Zeit zur Verfügung zu haben, wird man nicht so schnell ungeduldig und widmet sich bereitwilliger anderen. Wahrscheinlich zieht man sogar Erfahrungen materiellen Dingen vor. Sich grenzenlos und stark zu fühlen, eingebettet ins Universum und mit all seinen Bewohnern verbunden, ist Kraftfutter für die Seele. Wer sein kleines Ich in das große Ganze einordnet, sich in die Arme der großen Mutter Erde begibt, erfährt Trost und Transzendenz. Das gelehrteste Vorbild, das uns zur Verfügung steht, und die wirkungsvollste Kraft ist die Welt von Flora und Fauna. Die Natur ist ein Ort der uranfänglichen Vollkommenheit, sie ist heilig. Die Natur gibt uns alle Antworten, die wir brauchen, um ein erfülltes und gesundes Leben zu führen; wir müssen nur aufmerksam sein, hinschauen, hinhören.

Es gibt nichts Gesünderes, als im Gleichklang mit der Natur zu leben. Sie sollten Ihren Schlaf am Rhythmus von hell und dunkel ausrichten. Ihre Kalorienaufnahme und Ihr Energieverbrauch sollten an den Jahreszeiten ausgerichtet sein. Ihr monatlicher Zyklus sollte Einfluss auf Ihre sexuellen Prioritäten haben. In der Natur herrschen Dualität und zyklische Rhythmen aus einem bestimmten Grund vor. Einheitlichkeit und Stabilität sind nicht natürlich; Homogenität ist nicht natürlich. Wir gelangen durch Vielfalt zur Entfaltung. In der Synthese von Gegensätzen liegt Stärke; Hybride sind immer widerstandsfähiger als Artreine. Lernen Sie, das Ihnen, Ihren Beziehungen und der größeren Gemeinschaft innewohnende Yin und Yang in Gleichklang zu bringen. Die Ausgewogenheit wird Ihnen Frieden schenken.