Katias Burn-out

Um die Ehe der Manns stand es schlecht im Jahre 1911. Die 28-jährige Katia, hochbegabte und einzige Tochter aus wohlhabendem jüdischem Münchner Haus, die zehn Jahre zuvor als eine der ersten Frauen der bayrischen Hauptstadt das Abitur abgelegt hatte, war körperlich am Ende. Vier Kinder hatte sie schon auf die Welt gebracht: Erika, Klaus, Golo und Monika, dazu noch zwei Abtreibungen. Zur Vielgebärenden war die einst so Gutaussehende mutiert, und ob ihr acht Jahre älterer Gatte sie noch begehrte, wusste sie längst nicht mehr, dafür von seinen erotischen Vorlieben, die der Schriftsteller als »sexuell invertiert« bezeichnete, ein anderes Wort für homosexuell. Ein Tagebucheintrag von Thomas wirft ein Schlaglicht: »Abendspaziergang mit Katia, die mich sehr liebt und der ich unendlich dankbar bin.« Auch seine Zöglinge bereiteten ihm nicht nur Glück: »Setzt man Kinder in die Welt, so schafft man auch noch Leiden außer sich, objektive Leiden, die man nicht selber fühlt, sondern nur fühlen sieht, und an denen man sich schuldig fühlt.« Eine intakte Familie sieht anders aus.

Katia Mann in einer Dreiviertelaufnahme nach halblinks, stehend. Sie trägt einen Bubikopf und eine aufwändig verzierte Bluse mit Puffärmeln.

Frisch und gut aussehend, noch: die junge Katia Mann am Tage ihrer Verlobung.

Auch literarisch lief es nicht optimal. Noch war Thomas Mann nicht der Großschriftsteller, als der er sich stets sah. Eine gute Dekade lag sein Roman Buddenbrooks zurück; bis dato waren knapp 50000 Exemplare über den Ladentisch gegangen – beileibe kein Flop, aber auch kein Riesenerfolg. Die 1903 erschienene Novelle Tonio Kröger hatte bei Kritikern noch seinen Ruf gefestigt, aber sein 1909 publizierter zweiter Roman Königliche Hoheit verkauf‌te sich zwar gut, die Reaktion des Feuilletons fiel jedoch verhalten aus. Thomas Mann selbst kam dies Buch »zuweilen so neu und schön (vor), daß ich in mich hineinlache – und zuweilen so läppisch, daß ich mich auf die Chaiselongue setze und zu sterben glaube«. Die meisten seiner Erzählungen, wie das burleske Luischen, das mit antisemitischen Klischees versetzte Der Wille zum Glück, Novellen wie Tobias Mindernickel oder das plauderhafte Der Weg zum Friedhof hatten keinen Anklang gefunden und waren in Vergessenheit geraten. Katia Mann musste sich fragen, ob sich die literarische Schaffenskraft ihres Gatten langsam erschöpf‌te und all ihre Aufopferung, das Aufgeben eines eigenen Lebensentwurfes, für die Katz gewesen war. Was der Schriftsteller dringend benötigte, war etwas Ikonisches, ein herausragender Roman – etwas, das blieb.

Im Herbst 1911 zog sich die abgemagerte Katia eine Bronchitis zu, die es ihr ermöglichte, vor ihren Verpflichtungen als Gattin eines vermeintlichen Genies für eine Zeit ins Krankenbett zu flüchten, eine Auszeit zu nehmen von ihren Pflichten im stetig wachsenden Haushalt. Als ein Urlaub im Grand Hotel Waldhaus in Sils Maria sie von ihrer »kleinen Lungenaffektion« noch immer nicht kurierte, beschloss sie, eine längere Pause einzulegen. Möglicherweise war ihr Leiden psychosomatisch. »Ich war nicht schwer krank«, heißt es in ihren Memoiren: »Es bestand keine Lebensgefahr, und möglicherweise wäre die Geschichte, wären wir nicht zu Sanatoriumsaufenthalten in der Lage gewesen, von selbst wieder gut geworden, was weiß man.« Da es sich als Ehefrau und Mutter von vier Kindern nicht schickte, alleine in den Urlaub zu fahren, bot sich Davos als legitimer Ausweg an: Erholung durch temporäre Abwesenheit von einer Ehe, die immer mehr zu einer Interessengemeinschaft zur Förderung des Schriftstellers Thomas Mann geworden war.

Den Drill bei Dr. Turban umging die im März 1912 ins Hochgebirge reisende Katia. Ein anderes Haus bot sich an: Der Cello spielende Professor Dr. Friedrich Jessen fungierte, wie es in der Reklame hieß, als »dirigierender Arzt« des mondänen Waldsanatoriums, eines neu eröffneten Luxusetablissements für 60 Patienten, alle Zimmer mit Südlage und Balkon, »günstigste Besonnung – höchster Komfort – höchste Hygiene«, Quellwasser lief warm und kalt aus den Hähnen, Telefonanschluss. Keine preußisch anmutende Glocke schrillte wie bei Turban, sondern Lichtsignale wiesen dezent auf den Beginn der Fünf-Gänge-Mahlzeiten hin. Dazu wurde nicht mit roher Milch aufgewartet, sondern mit Champagner und erlesenen Weinen.

Auch die Liegekur, die auf Privatbalkonen stattfand, hielt Jessen lockerer als Turban. Nicht nur war Lesen und Schreiben erlaubt, auch konnten sich die Patienten gegenseitig besuchen, ohne dass jemand dies mitbekam. Um bei Bedarf gemeinsam der Sonne zu frönen, so leicht bekleidet wie möglich, damit die heilsamen Strahlen an die Haut gelangen, wurde diskret die Abkürzung um die Trennwände der Loggien herum genommen. »Nichts anderes mehr im Kopf als die Temperatur unter seiner Zunge und den Flirt«, hieß es später im Zauberberg. Bei legerem Umgangston traf sich im Waldsanatorium die Hautevolee Europas, und an windstillen Nachmittagen mischten sich lustvolles Stöhnen und verzweifeltes Husten über dem Tal – eine Art Balzhotel für Reiche. Dass auch Katia im Waldsanatorium flirtete, mit einem »jungen Marineoffizier« nämlich, der eine »verehrungsvolle Beziehung« zu ihr knüpf‌te, ist belegt. Für Chefarzt Jessen war der Aufenthalt der wohlsituierten Patientin ein Geschenk des Himmels. Mit solchen Gästen würde er seine Investoren glücklich machen, jene »unsichtbaren Mächte«, die »über und hinter ihm standen«: Aufsichtsrat und Aktiengesellschaft, die eine »saftige Dividende unter ihre Mitglieder verteilen« wollten.

Doch was geschah während des Besuches von Thomas Mann bei seiner Frau, das ihn inspirierte, über diese Luxusvariante der Pandemiebekämpfung zu schreiben? Wir wissen es nicht, denn wir waren nicht dabei. Doch so wie der Schriftsteller seine Erlebnisse vor Ort in Fiktion verwandelte, kann aus ebendieser sowie aus späteren Bemerkungen von ihm wie Katia auf die wahren Begebenheiten rückgeschlossen werden: »Wenn Sie das Kapitel am Anfang des Zauberbergs lesen (…), so haben Sie eine ziemlich genaue Beschreibung unseres Wiedersehens in dieser Sphäre und meiner eigenen wunderlichen Eindrücke von damals«, erläuterte er Jahre später vor Studierenden der Princeton University.

Was also steht am Beginn des Zauberbergs, und ist es möglich, wie Mann behauptete, seine Schilderungen autobiografisch zu lesen, sie also für eine Szene seiner Ankunft in Davos auszuschlachten?

Ich lag auf der Loggia und las im Zauberberg-Roman, und wie ich dies tat, bot sich mir eine Art Zaubertrick an: Ich konnte Strecke machen mit meinem eigenen Buch, Seiten herunterreißen, indem ich unverfroren bei Mann paraphrasierte, legitimiert durch seine eigenen Aussagen, mich dadurch den wahren Begebenheiten seiner Visite in den Alpen zu nähern.