Die echte Clawdia

Ob sich die Begegnung zwischen Katia und Thomas wirklich so zugetragen hat, bleibt Spekulation – oder in diesem Falle: Fiktion. Fakt immerhin ist, dass während dieses oder eines der sich anschließenden Abendessen eine Frau den Speisesaal betrat, die Mann interessierte – und die später im Zauberberg-Roman ihren Niederschlag finden würde: eine russische Patientin, die die Tür des Saals vernehmlich hinter sich zuschlug und als Clawdia Chauchat zum unerfüllt bleibenden love interest von Hauptfigur Hans Castorp wurde. Ob es wohl tatsächlich eine echte Clawdia Chauchat gegeben hatte?

Meine Neugierde war geweckt: Während Suki und Lana am nächsten Morgen die Skischule besuchten, stattete ich der Dokumentationsbibliothek Davos einen Besuch ab und ließ mir die Gästeliste des Waldsanatoriums für jenes Jahr 1912 vorlegen. In den Davoser Blättern waren damals sämtliche Besucher der wichtigen Heilstätten veröffentlicht worden. Datenschutz schien offenbar nicht so das Problem; vielmehr boten diese Aufstellungen begehrten Lesestoff, Tratschfutter. Würde ich eine allein reisende Russin entdecken? Für die zweite Maiwoche 1912 war unter Waldsanatorium eine »Frau Thomas Mann« eingetragen, das Fehlen des Vornamens Katia war wohl ebenso den patriarchalischen Gepflogenheiten geschuldet wie der Berühmtheit des Schriftstellers. Doch vor allem fiel mir ein weiterer Name auf: »Madame Marie Cheicina, Moskau«. Hatte ich sie entdeckt?! War es nicht naheliegend, dass es diese Cheicina war, die zur ähnlich klingenden Chauchat wurde?

Während ich darüber nachdachte, kam mir Emma in den Sinn, meine eigene unerfüllte Liebe, und nun dachte ich an Suki: Vielleicht hatte mein Töchterchen recht, und es war wirklich an der Zeit, dieses Gespenst zu verjagen, hier am Berg, um nicht eben so wie Hans Castorp ewig lang etwas nachzuhängen, was sich dann doch nie erfüllte.

Ich bedankte mich bei der Bibliothekarin und stapf‌te durch den Schnee in Richtung Schatzalp zurück.