Nach mehreren Tagen regnerischen Wetters mit Temperatursturz bis unter den Gefrierpunkt brach am 18. Mai 1912 endlich die Sonne durch, sodass Katia auf ihrer Liege den Kopf mit einem weißleinenen Schirm schützte, der vermittelst einer Vorrichtung an der Armlehne des Stuhles zu befestigen und dem Stand der Sonne nach zu verstellen war. »Eine tolle Erfindung«, lobte Thomas, der an der Brüstung stand, die Ellenbogen darauf gelehnt, und in den Garten hinabschaute, wo einige Patienten lustwandelten, und ihm war, als schaue er in seinen eigenen, Formen annehmenden Roman hinein.
»Leg dich doch ebenfalls ein wenig hin«, schlug Katia vor, und auch wenn er sich zunächst zierte, nutzte er das Angebot des zweiten, aus rotbraun poliertem Holz gefertigten Liegestuhls und bettete sich auf die Matratze mit ihrem weichen, kattunartigen Überzug, der aus drei hohen Polstern bestand und vom Fußende bis über die Rückenlehne hinaus reichte. Sogleich musste auch er den Gesichtsschirm aufspannen; der Sonnenbrand wurde unerträglich.
»Man liegt ganz ungewöhnlich bequem«, stellte er mit Vergnügen fest. »Ich erinnere mich nicht, dass mir je ein so angenehmer Liegestuhl vorgekommen ist. Vor allem die Nackenrolle ist von besonders wohltuender Wirkung. Weder ist sie zu fest noch zu nachgiebig.« Er stützte einen Arm auf die breite, glatte Fläche der Seitenlehne, blinzelte und ruhte. Durch die Bögen der Loggia gesehen wirkte die harte und karge, aber hell besonnte Landschaft gemäldeartig und wie eingerahmt. Wie ein Bild von Kirchner vielleicht, dem wichtigsten deutschen Maler des zwanzigsten Jahrhunderts, der 1917 nach Davos zog. Plötzlich fiel Thomas etwas ein, und er machte sich eine Notiz. »Erzähl mir noch ein bisschen«, sagte er dann.
Tatsächlich hatte sich der Schriftsteller für die Plaudereien seiner Katia nie so interessiert wie jetzt. Die Anekdoten, die sie zum Besten gab, die kuriosen Persönlichkeiten, die sie im Speisesaal und zu anderen Gelegenheiten angetroffen hatte: für ihn pures Gold. Hier erhielt er Einblick in ungewöhnliche, der Außenwelt verborgene Vorgänge, die ihm exemplarisch erschienen und die er nur leicht fiktionalisieren musste. Wir haben »endlos geschwätzt«, erinnerte sich Katia später: »Ich war doch schon monatelang dort und legte los, erzählte hundert Sachen. (…) Dann habe ich ihm die verschiedenen Typen gezeigt; ich hatte sie ihm auch geschildert. Er hat sie dann bloß mit Veränderung der Namen verwendet.« Auf solche Weise angeregt, vergingen die Tage für Thomas Mann ebenso im Flug wie die Anfangswochen für seine Hauptfigur Hans Castorp. Brav hielt er mit seiner Gattin die Liegekur ein, und Charaktere wie Plot verdichteten sich. Immer mehr verliebte er sich in die Geschichte, wurde hineingezogen in diese so bizarre, so bunte wie tragische Welt.
Da nur ein Pelzsack auf der Loggia zur Verfügung stand und er diesen bei den kühleren Temperaturen der letzten Maiwoche und den heftigen Regenfällen ritterlich seiner Gattin überließ, erkältete sich der Autor: »Ich befand mich etwa zehn Tage dort oben, als ich mir bei feuchtem und kaltem Wetter auf dem Balkon einen lästigen Katarrh der oberen Luftwege zuzog. Da zwei Spezialisten im Hause waren, der Chef und sein Assistent, lag nichts näher, als der Ordnung und Sicherheit halber meine Bronchien untersuchen zu lassen.« Neugierig auf die Visite, da er vielleicht auch diese verwerten konnte, schloss er sich Katia an, »die gerade zur Untersuchung befohlen worden war«.
»Herein!«, rief Professor Jessen, ein knochiger, hochgewachsener Mann mit weißen Haaren und blauen Backen. Er stand in seinem makellosen Chirurgenrock mitten im Raum, in der Rechten das schwarze Hörrohr, mit dem er sich gegen den Schenkel klopfte, dabei betrachtete er mit seinen großen, vorquellenden und blutunterlaufenen Augen, in denen Tränen schwammen, die Ankommenden. Zunächst begrüßte er die Dame: »Na, und Sie haben schön geschlafen, Frau Mann?« Dann, ohne eine Antwort abzuwarten, ihren Gatten: »So, da sind Sie also auch. Na, freut mich.« Beiden gab er die Hand, die groß war wie eine Schaufel. Am Schreibtisch vor dem Fenster saß sein Assistent, in der einen Hand die Feder, die andere im Bart, vor sich Papiere, wahrscheinlich Krankenakten.
»Haben Sie die Fieberkurve für mich?«, wandte sich Jessen an Katia und nahm den mitgebrachten Hefter aus ihrer Hand, um ihn durchzusehen. »Und Sie«, kurz blickte er zu ihrem Gatten, »machen sich derweil gürtelaufwärts nackig, damit ich Sie beklopfen kann.«
Thomas beeilte sich, seinen Oberkörper frei zu machen und die abgelegten Kleidungsstücke an den neben der Tür befindlichen Garderobenständer zu hängen. Dabei überhastete er sich, fand nicht gleich aus seinem punktierten Manschettenhemd heraus, ließ sich auf einem altmodischen kleinen Fauteuil mit Troddeln an den Armlehnen nieder und sah sich unauffällig um. Bücherschränke mit breitrückigen medizinischen Werken und Aktenfaszikeln standen gegen die Wände. An Möbeln war sonst nur eine mit weißem Wachstuch überzogene, höher und niedriger zu kurbelnde Chaiselongue vorhanden, über deren Kopfpolster eine Papierserviette gebreitet war.
»Komma 7, Komma 9, Komma 8«, stellte Jessen fest, die Wochenkarten durchblätternd, in die Katia die Ergebnisse ihrer täglichen fünf Temperaturmessungen eingetragen hatte. »Immer noch ein bisschen illuminiert, liebe Frau Mann, können nicht gerade behaupten, dass Sie seit neulich solider geworden sind.«
»Neulich?«, fragte sie zurück. »Das war vor vier Wochen gewesen.«
»Nicht entgiftet, nicht entgiftet«, entgegnete der Chefarzt kopfschüttelnd. »Na, das geht natürlich nicht so von heute auf morgen, hexen können wir auch nicht.«
»Von heute auf morgen, davon kann ja auch nicht die Rede sein«, schaltete Thomas sich ein. »Meine Frau ist ja keineswegs erst seit gestern hier oben.«
Langsam drehte Jessen sich zu dem Sitzenden hin. »Gut, ich merke, Sie sind ungeduldig, das ist im Übrigen eine Krankheit des flachen Landes. Na, kommen Sie her! Wollen mal höflich bei Ihnen anklopfen«, sagte er, fasste den Schriftsteller mit seiner riesigen Hand am Oberarm und betrachtete ihn scharf. »Hm«, sagte er. »Na, wollen mal sehen, wie Sie sich anspielen.«
Zuerst klopfte Chefarzt Dr. Jessen, breitbeinig dastehend und rückwärts geneigt, oben an die Schulter, klopfte aus dem Handgelenk, indem er sich des gewaltigen Mittelfingers seiner Rechten als Hammer bediente und die Linke zur Stütze gebrauchte. Dann ging er unter das Schulterblatt hinab und klopfte seitlich am mittleren und unteren Rücken, worauf Thomas Mann brav den Arm hob, um auch unter der Achsel klopfen zu lassen. Hierauf wiederholte das Ganze sich linkerseits, und damit fertig, kommandierte Jessen: »Kehrt!« – zur Beklopfung der Brust. Er klopfte unter dem Hals beim Schlüsselbein, klopfte über und unter Herzhöhe, zuerst rechts und dann links, und kehrte zu verschiedenen Stellen mehrmals zurück. Längere Zeit klopfte er abwechselnd und zu Vergleichszwecken links oben beim Schlüsselbein und etwas weiter unten. »Hören Sie?«, fragte er seinen Assistenten, und dieser, fünf Schritte entfernt am Schreibtisch, bekundete durch eine Kopfneigung, dass er höre.
Als der Arzt genügend geklopft hatte, ging er zum Horchen über, indem er sein Hörrohr, das Ohr an der Muschel, erst auf die Brust, dann auf den Rücken setzte – überallhin, wo er geklopft hatte. »Tief atmen. Husten!«, kommandierte er, das Rohr in Habachtstellung. Abwechselnd musste sein Patient nun stark atmen und künstlich husten, über mehrere Minuten hinweg, was ihn anstrengte, und in seine Augen traten Tränen. Jessen sprach währenddessen kein Wort, setzte das Hörrohr nur dahin und dorthin und horchte, meldete alles, was er vernahm, dem Assistenten: »Kurz«, »verkürzt«, »vesikulär« – und abermals: »Vesikulär.«
»Was bedeutet das?«, fragte Thomas, etwas außer Atem.
»Rau«, sagte Jessen zu seinem Assistenten und schnitt ein Gesicht. »Sehr rau. Geräusch.« Er schob das Hörrohr unter seinen Arm, legte die Hände auf den Rücken und blickte auf den Linoleumboden nieder.
»Ja, Herr Mann«, sagte er, »die Sache verhält sich so praeter-propter, wie ich sie mir schon gedacht hatte, schon seit ich zuerst die unverdiente Auszeichnung hatte, Sie kennenzulernen – und ziemlich sicher vermutete, dass Sie im Stillen ein Hiesiger wären und das auch noch einsehen würden, wie schon so mancher, der zum Spaß hier heraufkam und sich umsah und eines Tages erfuhr, dass er gut täte – und nicht bloß ›gut täte‹, bitte mich wohl zu verstehen –, hier eine etwas ausgiebigere Station zu machen. Hören Sie den Unterschied?« Der Chefarzt klopfte abwechselnd links oben an der Brust und etwas weiter unten.
»Da klingt es etwas dumpfer«, bestätigte der Schriftsteller.
»Schön, Herr Mann. Ich will nun mal mehrere goldene Worte sprechen. Wenn es weiter nichts wäre mit Ihnen, verstehen Sie, und es bei den Dämpfungen und Narben an Ihrem Äolusschlauch da drinnen und mit den kalkigen Fremdkörpern darin sein Bewenden hätte, so würde ich Sie besten Gewissens entlassen. Wie aber die Dinge liegen und weiterhin noch der Befund ist, und wo Sie nun einmal hier bei uns sind – so lohnt es die Heimreise nicht. In Kurzem müssten Sie doch wieder antreten.«
Thomas stand ohne Regung, um seinen Mund zuckte es sonderbar, und deutlich konnte Katia sein Herz gegen die Rippen pulsieren sehen. Er blickte zu ihr hinüber und dann wieder in des Chefarztes Gesicht mit den blauen Backen, den blutunterlaufenen Quellaugen und dem einseitig geschürzten Schnurrbärtchen.
»Also die Luft hier bei uns«, fuhr Jessen fort, »die ist gut gegen die Krankheit, meinen Sie, nicht wahr? Und das ist auch so. Aber sie ist auch gut für die Krankheit, verstehen Sie mich, sie fördert sie erst einmal, sie revolutioniert den Körper, sie bringt die latente Krankheit zum Ausbruch, und so ein Ausbruch, nichts für ungut, ist Ihr Katarrh. Das sage ich Ihnen gleich, ein Fall wie Ihrer heilt nicht von heute bis übermorgen, Reklameerfolge und Wunderkuren sind dabei nicht aufzuweisen. Sie täten sehr gut daran, ein halbes Jahr mit Ihrer Frau zusammen hierzubleiben. Denken Sie einmal darüber nach.«
Damit schloss Chefarzt Dr. Jessen die Unterredung und setzte sich an den Schreibtisch, um als Mann von vielen Geschäften die Pause bis zur nächsten Untersuchung mit schriftlicher Arbeit auszufüllen. Der Assistent aber erhob sich von seinem Platz, schritt auf das Ehepaar zu, lächelte kernig, sodass in seinem Barte die gelblichen Zähne sichtbar wurden. So schüttelte er beiden zum Abschied die Hand.