Flucht

Zurück in Katias Zimmer, kontaktierte Thomas seinen Münchner Hausarzt. »Ich kenne Sie doch ganz genau«, entgegnete dieser: »Sie wären der Erste, der bei einer Untersuchung in Davos nicht irgendeine Stelle gehabt hätte. Kommen Sie nur gleich zurück. Sie haben in Davos gar nichts zu suchen.«

Auch Katias Mutter schien die Fragwürdigkeit der Davoser Diagnostik erkannt zu haben. Scharfzüngig kommentierte sie: »Selbstverständlich ist es gesund und bekömmlich, täglich sechs Stunden im Freien in der köstlichen Luft auf einem Liegestuhl zu verbringen, fünf Mahlzeiten, viel Milch, keine Sorgen und Dienstmädchen, in absoluter Ruhe.« Dafür brauche aber »kein weiser Medizinmann vom Himmel zu steigen«, das könne man auch im familieneigenen Landhaus in Bad Tölz erreichen, und zwar viel günstiger – wenn ihre Tochter dort einmal Ruhe hätte und sich Thomas ausnahmsweise um den Haushalt kümmerte. Den Sanatoriumsärzten traute die Schwiegermutter des Schriftstellers jedenfalls nicht über den Weg: Auch Katias Zwillingsbruder hatten die lokalen Doktoren versucht, eine Tuberkulose »in die Lunge zu schwätzen, wie jedem, der so unvorsichtig ist, sich hier in Davos untersuchen zu lassen«.

Als Thomas Mann am 12. Juni 1912 nach München zurückkehrte, schrieb er zunächst seine Novelle Der Tod in Venedig zu Ende, machte sich aber bereits Notizen zum Zauberberg. Die Erinnerungen waren noch frisch, und weiteres Futter kam ständig hinzu, denn Katias »muntere Briefe« trudelten in hoher Frequenz ein. Ihre Beobachtungsgabe stand der seinen nicht nach, und motiviert durch sein großes Interesse an dem Stoff, sammelte sie alles für ihn: Gesichter, Geschichten, Tratsch, Handlungsorte: »Ich habe meinem Mann absichtlich kleine Details geschrieben, weil ich wusste, dass er an dem Buch arbeitete. (…) In den Briefen, die alle verloren sind, standen viele Einzelheiten. Es wäre für Germanisten ein gefundenes Fressen, diese Briefe mit dem Zauberberg zu vergleichen.«

Brustbild nach links von Katia Mann, an einem Tisch sitzend, den Kopf auf die rechte Hand gestützt. Sie trägt eine schwarze Samtbluse mit ausladendem weißen Spitzenkragen.

Depression statt Schwindsucht: Katia Mann nach neun Jahren Ehe.

Niemals zuvor oder später geriet ihre Mitarbeit an einem Text von ihm so intensiv – und so wertvoll. Obgleich Thomas Mann am eigenen Leib erfahren hatte, wie sehr die Diagnostik der vor allem an Finanziellem interessierten Ärzte infrage zu stellen war, tat er nichts, um seine Frau aus den Fängen des Waldsanatoriums zu befreien. War für ihn entscheidend, dass sie lange dortblieb, um möglichst viel zu berichten? Literaturproduktion stand in der Familie Mann im Vordergrund: Ein halbes Jahr lang betrieb Katia Recherche, viel anderes hatte sie auch nicht zu tun, riskierte dabei ihre Gesundheit, da ständigem Infektionsrisiko ausgesetzt. Thomas Mann baute indessen das Material, das sie ihm lieferte, zum Roman aus, seinem dritten, während das Hausmädchen die Kinder versorgte.

Die Hilfe Katias, deren Burn-out für ihn zum Glücksfall wurde, stellte er in der Öffentlichkeit nie gebührend dar. In seinem viel beachteten Princeton-Vortrag zum Zauberberg verschweigt er ihre Mitarbeit komplett, berichtet vielmehr, wie er begann, »den Zauberberg zu schreiben, worin ich die Eindrücke verwertete, die ich in kurzen drei Wochen dort oben empfing und die hinreichten«.

Ob er sich persönlich bei seiner Frau bedankt hat, zeigen die Quellen nicht. Fakt ist: Es sollte nicht der letzte Kuraufenthalt von Katia bleiben. Auch in den Folgejahren verschwand sie häufiger, um Abstand von ihrem Begleiterinnenleben zu gewinnen. Davos hatte ihr gezeigt, wie sie ausbrechen konnte. Dabei scheute sie sich auch nicht mehr, ihrem Gatten gegenüber deutlich zu werden: »Ich habe hier soviel Zeit zum Nachdenken, und da denke ich doch manchmal, daß ich mein Leben nicht ganz richtig eingestellt habe, und daß es nicht gut war, es so ausschließlich auf Dich und die Kinder zu stellen.«

Dass Katia tatsächlich keine Lungenprobleme hatte, kam ein halbes Jahrhundert später heraus, als ein Professor Dr. Christian Virchow ihre damaligen Röntgenbilder untersuchte und feststellte, dass keine krankhaften Veränderungen der Atemwege vorlagen. Die Erfindung der Tuberkulose bei Katia Mann durch einen geschäftstüchtigen Doktor trug somit dazu bei, dass eine der großen Erfindungen der Weltliteratur entstand.