Ich besuchte auch am nächsten Tag nicht das Parsenn-Skigebiet, sondern die Dokumentationsbibliothek, das in einer schmucken Holzvilla untergebrachte kollektive Gedächtnis jenes kleinen Ortes, der so ungewöhnlich stark ausgestrahlt hat und noch immer ausstrahlt. Mich interessierte ein weiterer Autor, der Zeit hier verbracht hatte – und mit dem Phänomen der Liebe anders umgegangen war als Thomas Mann. Ein Mensch, der Davos ebenfalls seinen Stempel aufdrücken konnte, doch im Schatten des späteren Nobelpreisträgers in Vergessenheit geraten war.
Der Schriftsteller mit dem Künstlernamen Klabund – eine programmatische Verdichtung aus Klabautermann und Vagabund – hieß bürgerlich Alfred Henschke, litt seit dem 16. Lebensjahr an Schwindsucht und hatte eine Kehlkopftuberkulose bereits überstanden, da es einem Arzt gelungen war, die Geschwüre an seinen Stimmbändern zu vernarben. Um sich von seinem aufreibenden Leben in Berlin zu erholen, kam er häufig ins Landwassertal, reiste aber jedes Mal, nachdem sich seine Lunge eine Zeit lang mit frischer Bergluft füllen konnte, in die Metropole zurück, da er deren Treiben für sein Schreiben benötigte. Doch an der Spree ging es ihm wieder an den Kragen: »Ich bin ein Dichter und speie immer Blut«, schrieb er dann – und löste die nächste Fahrkarte in Richtung Schweiz. Für Klabund, den »stets eine Aura der Liebenswürdigkeit« umgab, entpuppte sich die Tuberkulose als jene berüchtigte Drehtürkrankheit: Manchmal ging es besser, und das Dasein schien wieder normal, doch nie war die Genesung vollständig, es gab Rückfälle, und er war wieder am Ausgangspunkt, dem Husten – und dem Blut.
Nicht weniger als sieben Romane hatte der 34-Jährige im Jahr 1924 bereits veröffentlicht, über 2000 Gedichte geschrieben, seine Couplets in den tonangebenden Kabaretts der Weimarer Republik vorgetragen, ostasiatische Lyrik übersetzt, eine Vielzahl an Erzählungen sowie ein halbes Dutzend Theaterstücke verfasst, wovon sein erfolgreichstes, Der Kreidekreis, kurz vor der Premiere stand. Während der Kaiserzeit hatte Klabund wegen angeblich obszöner Verse vor Gericht gestanden und 1917 seine Position als damals bekanntester junger Dichter Deutschlands genutzt, Wilhelm II. in einem offenen Brief zum Machtverzicht, der Beendigung des Krieges und zur Demokratisierung des Landes aufzufordern. Auch eine ebenso witzige wie fundierte Deutsche Literaturgeschichte in einer Stunde stammte von ihm sowie eine Weltgeschichte der Literatur in einer Stunde, später gemeinsam in einem Band herausgegeben, dessen Gesamtauflage über 80000 betrug – ein rastloser Arbeiter für die Literatur, ohne Rücksicht auf sich selbst oder sein Umfeld.
Klabund galt als Liebling nicht nur der Frauen, sondern auch des Feuilletons, zumal von Alfred Kerr, dem einflussreichsten Kritiker seiner Zeit. Jeder Kulturschaffende in dieser an Kultur so reichen Weimarer Republik kannte Klabund, den bunten Hund, er war mit Gottfried Benn und Hermann Hesse befreundet, den er für ostasiatische Philosophien wie den Taoismus begeisterte, und ein wenig auch mit Bertolt Brecht, dem er den Verlag vermittelte und der zunächst vergeblich mit ihm rivalisierte, dafür umso erfolgreicher mit ihm auf Streifzüge ging: »Einmal sind wir abends in einem Atelier viele Leute«, schrieb Brecht über eine ihrer Eskapaden: »Ich betrinke mich frühzeitig, fülle mich mit Branntwein, Rotwein, Likör, steige zur Decke des Zimmers auf, kann mich nicht mehr an Lieder erinnern. Klabund singt, am Klavier, Soldaten- und Hurenlieder, tanzt, erwehrt sich mühsam der Weiber, die verschossen in ihn sind.« In München traten sie zusammen mit Karl Valentin in der »Roten Zibebe« auf, wobei Brecht Klabunds Fähigkeit zur Stimmenimitation bewunderte, seine Talente als Liedermacher. Dessen Villon-Gesänge inspirierten ihn später zur Ballade der Seeräuberjenny, und Klabunds Kreidekreis wurde Anregung, Quelle und Ausgangspunkt für Brechts Theaterstück Der kaukasische Kreidekreis.
An Klabund kam keiner vorbei, er galt als einer der wichtigsten deutschen Autoren der frühen Zwanzigerjahre. Sein Pensum galt als legendär. Während Thomas Mann die Schreibarbeit von neun bis zwölf Uhr am Vormittag absolvierte und dabei meist nur eine, mal zwei Seiten erstellte, war Klabund rund um die Uhr aktiv, mit einer Schreibwut, die an Besessenheit grenzte, da er glaubte, »nicht allzu lange am Leben sein zu dürfen«.
Diese empfundene Zeitnot befeuerte den mit Abstand produktivsten Schriftsteller des Expressionismus: In seiner Existenz gab es keine Ruhe- oder Atempausen, ein Werk floss in das nächste, ein Entwurf löste den folgenden ab. In seiner Todgeweihtheit kultivierte er eine Vitalität, einen unbedingten Willen, das Dasein auszukosten bis zum Schluss. Doch seine Tragik lag genau hierin: Indem er so intensiv lebte, verkürzte er seine Existenz, denn um Schonung seiner selbst ging es ihm nie, stets um den literarischen Gedanken, das Weiterentwickeln des Stils und von Themen, das Ausprobieren unterschiedlicher Formen. Seine Krankheit begriff er spirituell: als grundlegende Daseinsweise des organischen Lebens, mit einem so vergänglichen, so verletzlichen Körper. Diese Selbstempfindung setzte er konsequent um, verstand sich als Individuum, das sich ständig überwand, dauernd nach neuen Ufern strebte – ein im klassischen, metaphysischen Sinne zutiefst westlicher Drive. So schwebte ihm, ausgehend von der eigenen heiklen Konstitution, auch eine »Literaturgeschichte der Schwindsüchtigen« vor, denn »diese konstitutionelle Krankheit hat die Eigenschaft, die von ihr Befallenen seelisch zu ändern. Sie tragen das Kainsmal der nach innen gewandten Leidenschaft.«
Leben als Leiden, Liebe als Verzehrung, daraus speiste sich Klabunds Literatur, in der er vom »großen und schmerzlich geeinten Volk, dem ewigen großen Volk der Kranken« erzählte. Unablässig sprudelten die Ideen in ihm, und es entsprach nicht seinem Ansatz, sie alle bis zum Ende auszuarbeiten, wie Thomas Mann dies tat, der einmal behauptete, dass nichts bei ihm verloren ginge. Bei Klabund ging programmatisch alles verloren, musste alles sofort raus, nie hielt er inne, überarbeitete kaum, vor allem gab es erste Fassungen. Auf der Autobahn der Schwindsucht brauste er auf der Überholspur ohne Schreiblimit entlang, folgte seinen körperlichen wie künstlerischen Leidenschaften, experimentierte unentwegt, und sein heterogenes, improvisiert wirkendes Gesamtwerk, das stolze acht Bände umfasst, dessen Einzelteilen aber mitunter die finale Form fehlt, ist eine Art Anti-Zauberberg. Klabund ging es nicht um die Schöpfung des beeindruckenden literarischen Monoliths, vielmehr verfasste er mehrere, von ihm selbst so bezeichnete »Kleine Romane« wie Die Krankheit, 1917 erschienen, just in jener Zeit, in der Thomas Mann an seinem Epos werkelte.
Die Parallelen zwischen Krankheit und Zauberberg fallen ins Auge: In beiden Texten gibt es eine schöne Russin, die deshalb so begehrt wird, weil sie todkrank und unerreichbar ist, auch wird bei Klabund bereits von einem Protagonisten erzählt, der sieben Jahre in Sanatorien verbringt, genau wie später Hans Castorp. Eine wilde Fastnachtsszene, die an Manns Walpurgisnacht erinnert – beziehungsweise umgekehrt –, kommt ebenfalls vor. Ob Thomas Mann bei ihm abgeschrieben hat, bleibt Spekulation. Dass er, während er sein Buch konzipierte, das Werk des Kollegen las, der auch mit seinem Bruder Heinrich befreundet war, ist wahrscheinlich.
»Davos lag in der Abenddämmerung wie eine amerikanische Stadt am Rande der Rocky Mountains … am Rande der Welt … wie improvisiert, zum Abbruch jederzeit bereit, waren die großen Sanatorien und Hotels mit ihren funkelnden Liegehallen da und dort und kreuz und quer im Tal und an den Berglehnen errichtet. Obwohl sie selten über vier Stockwerke zählten, schienen sie mit den himmelauf kletternden Lichtern der Liegehallen Wolkenkratzer.« So beginnt das zweite Kapitel bei Klabund, und da wird schon klar, dass dieser Dichter des Verfalls und der Transzendenz die Sanatoriumskultur nicht wie Mann als etwas Vergangenes erkennt, sie im Gegenteil mit den Wolkenkratzern Amerikas vergleicht, die für Zukunft stehen. Klabund ist in dieser Hinsicht düsterer als Mann: Im Ersten Weltkrieg sieht er keine Zäsur, nach der etwas Neues beginnt, vielmehr eine Kontinuität der Moderne, und wo Thomas Manns Hauptfigur seine vermeintliche Heldenreise im Schnee vollendet, lässt Klabund die Protagonisten mit ihrer Tuberkulose ins Leere und Unerlöste laufen. Sein narrativer Bogen zerfasert, leidet selbst an Schwindsucht – und bleibt gerade deshalb nach all den Jahrzehnten ebenso verstörend wie beeindruckend. In Die Krankheit und seinen weiteren Texten über Davos, jene »Protestversammlung Sterbender gegen den Tod«, wie er den Ort bezeichnete, strebte Klabund nie nach der Perfektion, die Mann umtrieb. Dass er dadurch weniger kommerziell agierte, nahm er in Kauf. Er war kein selbsternannter Zauberer, kein Illusionist, der Tricks anwendet, um die Leser zum Applaus zu bringen, sondern führt das echte Leben und wirkliche Scheitern vor – und ist deshalb unbequemer in der Rezeption.
Was für Klabund Priorität hatte, war Aufrichtigkeit in der Liebe – und über Mangel an solcher konnte er sich nicht beklagen. So lag an diesem eiskalten Morgen des 5. Dezember 1924, den ich durch die Archivalien der Dokumentationsbibliothek nachzeichnen konnte, die von den Feuilletons sogenannte »schönste Frau Deutschlands« in seinem Bett, die 23-jährige Carola Neher – eine Schauspielerin, die Karriere machen würde und die Klabund in der Berliner Straßenbahn kennengelernt hatte. Carola schlief, doch er war bereits aufgestanden, hatte sich als Patient an die Regeln zu halten, Kur genannt. Aus Jessens Waldsanatorium war der Dichter wegen »Undiszipliniertheit« geflogen, doch auch in seiner neuen Pension, dem Stolzenfels, die ihn trotz dieses Rauswurfs ausnahmsweise aufgenommen hatte, gab es einen strengen Ablauf, und der begann um sechs Uhr in der Früh mit einem Glas kuhwarmer Milch, einem Spaziergang von einer Stunde, einer Dusche in viereinhalb Grad kaltem Wasser. Trotz dieses drastischen Tagesanfangs gefiel Klabund das Stolzenfels, das sich ebenfalls in »günstigster Sonnenlage« am Hang befand und mit 8,50 Franken pro Tag inklusive Vollverpflegung erschwinglicher war als Jessens Luxusetablissement.
Klabund, mit seinen kalten Tüchern um den Hals gegen das Fieber, fühlte sich schwach an diesem Morgen. Die lange Anreise aus Berlin hatte ihn geschlaucht, die klimatische Umstellung machte ihm zu schaffen. Jedes Mal ging es ihm erst einmal schlechter, wenn er hier ankam, und er musste sich wieder aufrappeln. Er blickte aus dem Fenster, draußen hing ein Thermometer: minus sieben Grad, dahinter die mächtigen Alpenstöcke, zerrissene Nebel, es schneite.
Wehmütig und mit leichtem Kopfschmerz betrachtete er die kerngesunde Carola und versuchte, seinen Hustenreiz zu unterdrücken, um sie nicht zu wecken. Selig schlummerte sie, dehnte die Zeit in ihrem Lieblingsmöbel, dem Bett, so lange aus wie möglich. Ja, sie machte gerne Liegekur, verband diese präferiert mit sexuellen Höchstleistungen. Als »Menschenfresserin« war sie bekannt – und so ungeheuer sympathisch dazu: eine verführerische Kombination und möglicherweise ein bisschen zu viel für den schwer erkrankten, kahlgeschorenen Klabund mit dem gütig-schüchternen Kinderblick, dessen Stimme von den verätzten Tuberkeln auf den Stimmbändern so melancholisch sanft-heiser klang. Seit ein paar Monaten kannten sich die beiden, und es war intensiv. Wahrscheinlich, so mutmaßte er, würde sie ihn zu Tode lieben, wobei das wahrscheinlich nicht die schlimmste Art zu sterben war. Das Ungeheure an ihr, so empfand er es, war ihr großes, gütiges Herz. Unbedingt wollte er sie heiraten, das hatte er sich geschworen, auch wenn er ahnte, dass sich diese Wahl als fatal erweisen könnte, weil zu aufregend für seine angeschlagene Konstitution. Doch genau das zog ihn ja an: Er versteckte seine Liebe nicht, sondern ging in ihr auf, auch (oder gerade) wenn es seinen eigenen Untergang bedeutete, mit einem solchen Energiebündel liiert zu sein – einer derart aufregenden Partnerin, die ihn stimulieren würde, bis zum letzten Augenblick.
Während er den Zenit seines Ruhmes und Lebens gerade durchschritt, stand Carola Neher erst am Anfang. Wie ein Komet würde sie loszischen, und den Startschuss gab Klabunds Kreidekreis, bei dessen Inszenierung in Meißen und Breslau sie für die Hauptrolle vorgesehen war. Das Paar ergänzte sich perfekt: Er schrieb ihr die Rollen auf den Leib, und sie machte seine Stücke durch ihre brillante Darstellung populär, wobei sich allmählich die Balance änderte: In Klabunds Brennende Erde, worin Carola ein 17-jähriges Mädchen namens Marusja gab, umjubelte das Publikum frenetisch sie, während seine dramaturgische Leistung kaum Erwähnung fand. Doch ihm machte das nichts aus. Er gönnte Carola den Erfolg und die Aufmerksamkeit – und versuchte nicht, ihrer Unbändigkeit Grenzen zu setzen.
So kam es beispielsweise auf einem der großen Kostümfeste in Berlin vor, dass er alleine durch das Getümmel zog und sie verzweifelt suchte, kurz und heftig atmend, sie aber nicht fand, dabei wollte er so gerne nach Hause: »Sie kann ja hier bleiben, wissen Sie. Ich müsste ihr nur ihr Handtäschchen geben.« Die Schriftstellerin Gina Kaus beschrieb Carola Neher später so: »Sie war eine extrem sinnliche Frau. Man sagte von ihr, sie ginge keine Nacht ohne einen Mann ins Bett, auch wenn sie ihn am Tage noch nicht gekannt hätte. Verheiratet war sie mit dem sensiblen Klabund – der, wie jedermann wußte, übers Jahr, höchstens zwei Jahre dem Tode durch Schwindsucht verfallen würde. Er wusste von Carolas allnächtlichen Eskapaden. Ob sie ihm gleichgültig waren oder ihn amüsierten, weiß ich nicht, aber ich weiß, daß Carola ihn auf ihre Art liebte. Ich war hin und wieder anwesend, wenn Brecht sich um sie bemühte, und sie erzählte mir, wie sehr sie ihn begehrte, aber Brecht stellte eine Bedingung: sie müsse zumindest die erste Nacht bis zum Morgen mit ihm verbringen. Es hätte Klabund aber gekränkt, wenn sie eine ganze Nacht nicht nach Haus gekommen wäre, und Carola lehnte es ab, ihn zu kränken. Sie erzählte mir, wie schwer es ihr fiele und wie schwer es Brecht ihr mache, aber sie hielt durch.«
Klabund stand auf der Waage. Immerhin: In der leichten Gewichtszunahme war ein Fortschritt erkennbar. Er musste los, zur Untersuchung, zog sich an: Kniebundhosen, Hemd mit Krawatte, Jacke, Mütze, runde Brille – nahm sein blaues Speiglas, auf dem Maßeinheiten angebracht waren, las ab: zehn Kubikzentimeter Auswurf, das lag in der Norm. Ohne hastige Bewegungen, um seinen Kreislauf zu schonen, ging er hinunter zum Frühstück: Kaffee, Brot, Butter, Käse und Honig, zwei weiche Eier, ein Glas Wein: notwendige Stärkung nach der Nacht mit Carola. Da saßen die Kranken um den Tisch herum, unter ihnen Frieda und Erwin Poeschel, sie Rechtsanwältin, er Kunsthistoriker, gemeinsame Inhaber von Stolzenfels. Anders als bei Chefarzt Jessen stand hinter den Poeschels kein Financier, sondern sie führten die Pension in Eigenverantwortung, pflegten einen persönlichen, häufig freundschaftlichen Umgang mit ihren Gästen. Den intellektuellen Poeschels gefiel der bänkelsängerische Charme des poetischen Klabund, der wahrlich an seiner Krankheit litt, aber diesem Leiden seine Verse abrang – der unermüdlich arbeitete an einem Ort, wo so viel Müßiggang herrschte. Auch mochten sie seine aufregende Partnerin mit dem Bubikopf, der androgynen Kleidung, ihrer »ergreifenden Beseeltheit und kernigen Anmut«. Carola Neher besaß sogar den Führerschein! Es war spannend für die Poeschels zu beobachten, wie Klabund, der sich selbst immer alle Freiheiten herausgenommen und den früher einmal ein Kumpel als »Kettenraucher der Liebe« bezeichnet hatte, nun mit einer Frau zusammen war, die Ähnliches für sich beanspruchte, während die Krankheit ihm selbst die Vitalität raubte.
An diesem Morgen war das Thema am Frühstückstisch wie schon an den Tagen zuvor das dicke Buch von Thomas Mann – jenem Kettenraucher von Mancini-Zigarren –, seit dem 24. November 1924 im Handel. »Der Zauberberg hat die Davoser sehr verärgert«, schrieb Katia Mann in ihren Memoiren: »Das Buch hat in Davos Anstoß erregt, weil es den Anschein erweckte, als ob junge Leute aus reichen Familien, eingefangen von der Atmosphäre des Sanatoriums und den Annehmlichkeiten dieser Existenz, festgehalten würden, wo sie schon nicht mehr so krank waren, und nur wegen des Geschäftlichen und der Ungebundenheit viel länger blieben, als sie eigentlich mussten.«
Tatsächlich hätte dem Ort, wo in Dutzende von Sanatorien Millionen von Franken investiert worden waren, zu jenem Zeitpunkt nichts Schlimmeres passieren können, da die Gästezahlen wegen der anhaltenden Weltwirtschaftskrise ohnehin einbrachen. Manns spektakuläre Kritik auf höchstem literarischem Niveau war da wenig hilfreich und rief einen »Sturm der Entrüstung«, »Befremden und Empörung« hervor. Ganz Deutschland – woher die meisten Patienten kamen – amüsierte sich über die als Heilstätten getarnten »Lustschlösschen, die ungeheure Laxheit, die bestand, dass man über die Balkone von einem Zimmer ins andere kommt«, wie Katia Mann es beschrieb: »Es war schon in sittlicher Hinsicht dort oben alles nicht ganz einwandfrei.«
Vor allem die lokale Ärzteschaft fühlte sich auf den Kittel getreten: Der Roman wurde als Heimsuchung empfunden, beleuchtete er doch ihre selbstpostulierte Allmacht, prangerte ihr Herrschen über Leben und Tod an und entlarvte das Narrativ des »Mekkas der Schwindsüchtigen« als eine geldgesteuerte, fragwürdige Fiktion. So geriet Der Zauberberg zum »bestgehassten Buch in Davos selbst, weil der Arzt dort rückhaltlos und fast nur in seinen Schwächen gezeichnet« würde. Vor allem die Darstellung Dr. Jessens als zynischer, blaubackiger Hofrat Behrens mit blutunterlaufenen Augen stieß sauer auf. Jessen galt vor Ort als führender Mediziner, so wurde auch er gebeten, die Bronzebüste »Der Atmende« zu Ehren des Davoser Gründervaters Alexander Spengler im Kurpark einzuweihen. Heftig gingen die Diskussionen, ob das Buch lokal verboten werden sollte, und in vielen Sanatorien kam es dazu: Während der Liegekur im Zauberberg zu schmökern wurde zum Tabu.
Auch in den tonangebenden Fachzeitschriften wie der Münchner Medizinischen Wochenschrift oder der Deutschen Medizinischen Wochenschrift brachen Mediziner den Stab über dem Roman: »Die ernste Arbeit der Heilstätten« sei »durch diese Darstellungen Manns einigermaßen gefährdet«. Tuberkulosepapst Turban meldete sich ebenfalls zu Wort. Akribisch durchforstete er die vielen Hundert Seiten nach fachlichen Fehlern, wies, wie er behauptete, »die Unwissenheit des Schriftstellers Thomas Mann in medizinischen Dingen« nach und bezeichnete »diesen Sensationsroman (als) ein trübes Destillat einer trüben Zeit«. Das Buch habe »bei Ärzten und Tuberkulosekranken Schaden angerichtet, wird aber bald vergessen sein«, postulierte er – und lag zumindest mit Letzterem kolossal daneben.
Der Autor reagierte auf die Anschuldigungen aus Fachkreisen gelassen, zumal es auch Ärzte gab, die seine Detailkenntnis lobten. Wer die Sache ebenfalls locker sah, war Jessen selbst. Den Vorschlag seines Kollegen Turban, den Schriftsteller auf Rufschädigung zu verklagen, um die Verbreitung des Buches wegen Verletzung der Persönlichkeitsrechte zu stoppen, lehnte er ab: Wenn er sich vor Gericht auf dieses Gleis begebe, laufe er Gefahr, vom Fabulierer Thomas Mann ausgebootet zu werden. Jessen wusste, wovon er sprach: Er kannte die Macht der Fiktion und dass in diesem Fall gegen den Meister kein Stich zu gewinnen war.
Im Stolzenfels wurde weniger die Häme am Sanatoriumswesen diskutiert als Manns Behandlung des Leids, der Krankheit selbst. Erwin Poeschel bemängelte, dass seiner Meinung nach dem Schriftsteller das Verständnis für den komplexen Problemkreis der Tuberkulose fehle, wodurch das Buch zynisch ausgefallen sei. Mann habe das Milieu lediglich ausgeschlachtet, sei aber, anders als Klabund in Die Krankheit, dem transformativen Leid, der Tragik von Davos, nicht nahegekommen.
Was Klabund vom Zauberberg hielt, der seine eigene Schöpfung vom ersten Tag an in den Schatten stellte, ist nicht überliefert. Ob er glaubte, noch genügend Lebenszeit zu besitzen, um sich durch die 1200 Seiten zu kämpfen, wissen wir nicht. Damit er immerhin erfuhr, wie es um ihn stand, machte er sich nach dem Frühstück zur Visite bei Dr. Staub auf, dem Chefarzt des Sanatoriums Schweizerhof, wo er in Behandlung war.
Es gab nur kurze, leichte Aufhellungen an diesem 5. Dezember 1924, und im Laufe des Tages fielen 6,2 Zentimeter Schnee. Ein Wetter zum Abgewöhnen, kein der Gesundheit zuträgliches Klima: Ausfälle an Sonnenstrahlung, dem wichtigen Heilfaktor. Stets hing die Stimmung auf der Promenade vom Wetter ab, und an einem graukalten, windigen Tag wie diesem, wenn unter der starken Bewölkung der hässliche Geruch von Karbol, Lysol und Chlor hing, empfanden sich viele schon wie mit einem Bein im Grab. Klabund versenkte die Hände in den Taschen seiner Sportweste und lief hustend durch den Zigarettenqualm vor der Haltestelle für die Pferdetram. Dunkle Wolken zogen sich um das Schiahorn zusammen, in der Ferne blitzte und donnerte es. Aufgrund der Sauerstoffarmut der Höhenluft musste er tiefer einatmen, als er es in Berlin je gewagt hätte – tiefer in die Lungen hinein, das hätte gutgetan an einem klaren Tag. Doch heute war die Luft nass und stechend.
Vor der Visite bei Dr. Staub – ein nicht unpassender Name für einen Tuberkulosearzt – beschloss er, sich mit einem Vermouth zu stärken, um mögliche Hiobsbotschaften besser verkraften zu können. Im Restaurant Kolbinger wurde hinter verhangenen Fenstern »Zigeunermusik« gespielt, ein schattenhafter Frack schwang eine graue Geige, Soupers de luxe en commande blinkte in goldenen Lettern. Doch Klabund ging weiter, setzte sich ins Kurhauscafé, sein Stammlokal, weil es dort mehr Zeitungen gab und er das Zeitunglesen liebte, vor allem den Sportteil. Oft auch schrieb er hier, versah, »von den Kurgästen interessiert beobachtet, von den Kellnerinnen belächelt, (…) an seinem Stammplatz Hunderte von kleinen blauen Oktavheftchen mit schlechten Versen und verwirrter Prosa«. Er bestellte seinen Drink, streifte die unförmigen Überschuhe ab und wischte mit einem Taschentuch seine blaue Schneebrille blank. In der Neuen Zürcher Zeitung stand an diesem Morgen etwas über die Mafia in Chicago: Der Anführer der North Side Gang war in seinem Blumenladen erschossen worden. Seitdem war Bandenkrieg – Ereignisse, die sich in Brechts Dreigroschenoper wiederfinden würden. Auf Klabunds Tisch lag auch die neuste Ausgabe der Davoser Blätter. Das Editorial sprach an vorderster Stelle ebenfalls vom Ortsgespräch Nummer eins, wenngleich wenig kritisch: »Die literarische Welt der deutschen Zunge ist voll davon: Der Zauberberg ist erschienen! Der große längst erwartete Roman von Thomas Mann. Der Zauberberg aber ist Davos, hier hat der Dichter seine Inspiration empfangen und aus dem Geist der Liegehallen, der Sehnsucht nach Gesundung des Einzelnen und (…)auch der ganzen Welt, (…) ist der riesige, 1200 Seiten starke Roman entstanden.« Ins Detail ging der Text nicht, dafür driftete er ins Schwülstige ab: »Für heute dürfen wir uns darauf beschränken, dankbar festzustellen, dass einem der bedeutendsten Köpfe des gegenwärtigen Deutschland in Davos der Gedanke aufgesprungen ist: das ist der Zauberberg, der Berg des Heils. Heil muss uns widerfahren von der Höhe aus. Davos: Der Zauberberg!«
Bis zum Schweizerhof waren es nur zwei Minuten in Richtung Krematorium. Der Wind blies aus Süden, das mochte Föhn bedeuten, und der war schlecht für die Gesundheit. Trotz des Drinks fühlte Klabund sich schlapp, vielleicht hätte er noch ein Danziger Goldwasser kippen sollen, seine Nerven waren herunter, seine Energie wie alter Kuchen zerbröselt. Zu keiner Arbeit war er fähig, dabei musste er jetzt nachlegen, wo sein Kreidekreis in alle Welt ging und die Aufmerksamkeit der Feuilletons auf ihm lag. Ob er es jemals wieder ins flache Land schaffen würde? Oder war dies bereits der Abschied von Carola … Starb er demnächst? Die Luftfeuchtigkeit war wirklich hoch an diesem Mittag. Vielleicht würde es zum Abend hin Niederschlag geben, im besten Falle Schnee, doch auch Sprühregen war möglich, und in der Feuchtigkeit lebten die Tuberkel auf, fingen zu tanzen an, was zu Blutungen führen konnte.
Der Chefarzt des Schweizerhofs, Dr. Staub, kam von einer Operation, sein »weißer Mantel ein wenig mit Blut bespritzt«. Er klopfte Klabund zunächst ab, produzierte jenes charakteristische Davoser Pochen. »Ich stelle fest«, sagte er, als sein hölzernes Stethoskop wieder in seine Brusttasche geglitten war: »Aufgrund starker Widerstandsfähigkeit und Zähigkeit Ihrer Natur könnten Sie durch eine streng eingehaltene Kur Ihr Leben entscheidend verlängern. Die Wendung von einer heftigen akuten zu einer chronisch leicht verlaufenden Form ist erreichbar. Die Tuberkulose hat sich mehr oder weniger in den Oberlappen beider Lungen lokalisiert, und der Körper ist immun geworden gegen eine weitere Ausbreitung. In dem betroffenen Gebiet hat die Krankheit allerdings zu großen Zerstörungen geführt, welche auch die Ursache für Ihre manchmal schweren Blutungen bilden. Doch Ihnen kann geholfen werden. Aber ist es Ihrem Temperament denn gegeben, eine Heilung um den Preis des Verzichts auf ein intensives Leben einzuhandeln und dafür sich den ärztlichen Vorschriften ganz zu fügen?«
Als auf dem Nachhauseweg helleres Wetter eintrat, strömten die Kurgäste wie Bienen aus den Pensionen hervor. Klabund dachte an Carola und dass er mit ihr zurückwollte nach Berlin. Doch an der Spree war an Ruhe nicht zu denken, und die Sonne schien dort auch nicht. Wollte er wirklich sein Leben herunterschrauben, um es länger genießen zu dürfen? Aber war es dann noch der Genuss, den er lebenswert fand? »Ich will unbedingt, dass du die ganze nächste Saison wegbleibst von Berlin«, hatte Carola ihn gewarnt, aus Anteilnahme, weil sie wusste, dass ihn dieses Dilemma zerstörte: »Du gehst nachts aus, rennst den ganzen Tag herum, telefonierst den ganzen Tag.«
Um Punkt 14 Uhr war er zurück im Stolzenfels: Mittagessen, vier Gänge, um vier Uhr gab’s Kaffee und einen Schoppen Milch. Kurz darauf war die Sonne hinter den Bergen untergegangen, da nutzte auch ein Flachdach wenig, und bei Klabund begann das Fieber. Um sieben Uhr Abendessen, danach noch mal auf den Balkon zum Liegen. Neun Uhr zu Bett mit Fräulein Neher, obgleich Dr. Staub zu sexueller Mäßigung geraten hatte, da die Ausschweifung »als Bedrohung des Körpers und des Subjekts schlechthin« galt. Doch die Versuchung war groß: Die Vergeistigung, die mit der Schwindsucht einherging, führte auch bei Klabund zu sexueller Raffinesse, außerdem hieß es, dass Tuberkulose Toxine produzierte, die einen erotischen Berauschungszustand förderten.
Er schluckte eine Arsenikpille, weil ihm das ein feuriges Aussehen verlieh und angeblich die Leistung steigerte. Sein Thermometer zeigte 39 Grad. Carola steckte sich eine Kognakbohne in den Mund. Noch immer hoffte er, ihr seinen wahren, hoffnungslosen Zustand verheimlichen zu können, aus Angst, sie würde ihn dann verlassen. Doch da hatte er die Lage falsch eingeschätzt. So wie Hans Castorp sich von der dahinschwindenden Clawdia Chauchat angezogen fühlt, ging es Carola Neher mit Klabund. Er verzehrte sich vor ihren Augen, in ihren Armen, er verschwand in ihrer Liebe, und das berührte und erregte sie. Immer mehr löste er sich in ihr auf, und im Grunde vollführten sie eine Art Dreier: Carola Neher, Klabund sowie seine zweite Braut, die dunkle Königin »Auszehrung«, von der er nicht loskam und die ihn immer enger umgarnte, umarmte, enger noch als Carola. Die in sein Innerstes vorgedrungen war, die Stelle über seinem Herzen besetzt hielt, in jenen Lungenspitzen ihr Zerstörungswerk trieb. Diese finstere Gattin entzog ihm mehr Energie, als Carola ihm geben konnte: Gegen diese Gegnerin kam nicht einmal sie an, doch es forderte sie heraus – Klabund fasste ein solches Stelldichein in die verstörenden Verse: »Ein Herr tanzt exaltiert wie ein Tuberkel, / Des Frackes Schöße zwitschern vogelgleich. / Die rosa Sängerin hält fürstlich Cercle. / Ein Oberleutnant pokert schreckensbleich. / Ein Jüngling träumt von einer fernsten Ferne. Aus seiner ausgeschnittnen Weste stiert / Die Höhlung einer riesigen Kaverne. / In der die Nacht wie eine Palme friert.«