Das Ende des Gesprächs

Nur ein Jahr später standen die Davoser Hochschulkurse unter dem Einfluss von Zeiten, die immer unsicherer und wirtschaftlich prekärer wurden. Bis zum Crash an der Wall Street 1929 waren es nur noch sechs Monate, die industrielle Produktion ging überall drastisch zurück. Die internationalen Finanzströme drohten zu versiegen, Banken starben, selbst in der Schweiz, Massenarbeitslosigkeit. Auch im Weltkurort sah es wirtschaftlich wenig gesund aus: nicht einmal halb so viele Gäste wie im Vorjahr. Immerhin versprachen diese zweiten Davoser Hochschulkurse einen PR-Erfolg: Als Höhepunkt des dreiwöchigen Treffens stand die Konfrontation zweier Geistesriesen auf dem Programm. Der Shootingstar und neue Hoffnungsträger der Philosophie, der badische Kleinbürger Martin Heidegger, sprichwörtlich aus dem Nichts aufgestiegen, aber bereits als »Denker der Zukunft« geltend aufgrund seines verrätselten Meilensteins Sein und Zeit, trat in einer Diskussion zur Frage »Was ist der Mensch?« gegen den älteren Ernst Cassirer an, den Platzhirsch und führenden jüdisch-deutschen Philosophen mit Weltrenommee. Passenderweise würde der Disput in der Reihe »Generationen« laufen.

Brustbild von Heidegger und einer weiteren Person an einem Tisch vor einer Blockhütte. Auf dem Tisch im Vordergrund mehrere Weinkaraffen und Gläser, größtenteils leer. Die beiden Männer schauen auf den Tisch gestützt zufrieden in die Kamera.

Coole Socke Heidegger (rechts): Philosoph bräunt sich fürs Publikum in der Höhensonne.

Für Heidegger bot sich die einmalige Chance einer Wachablösung, und entsprechend nervös agierte er; die Atmosphäre im Ort ging ihm an die Nerven: »Davos selbst ist furchtbar; maßloser Kitsch in der Architektonik, absolut zufälliges Durcheinanderfallen von Pensionen u. Hotels. Und dann die Kranken …«, schrieb er seiner Frau, die er »Seelchen« nannte, während er selbst den Brief mit »Möhrchen« unterschrieb. Auch das mondäne Belvédère, wo alle Vortragenden residierten, schien nicht nach seinem Geschmack: »Die Existenz im ›Grand Hotel‹ ist etwas herausfordernd.« Was dem 39-Jährigen gefiel, war das Wetter, das die Station Davos-Platz die volle Woche hinweg als »wolkenlos den ganzen Tag« beschrieb. So schwänzte er die Veranstaltungen, die er ohnehin »ziemlich anstrengend« fand, legte lieber eine Auszeit ein und erkundete mit seinen Studenten das Parsenn-Skigebiet – jenes, wo auch Suki und ich unseren letzten Urlaubstag verbringen wollten. Bis auf 2700 Meter kraxelte die Gruppe hoch, Ski über der Schulter – eine Bahn gab es erst zwei Jahre später –, um am Weissfluhjoch auszuruhen, die Aussicht zu genießen und »genuine Reflexion« zu betreiben, gestelzt über Selbstoptimierung zu sprechen. Dann ging es ins Tal zurück. Bei Heidegger klappte das offenbar gut, vielleicht gab er aber auch nur an: »Nun konnte ich meine Skitechnik erst sich auswirken lassen«, schrieb er an »Seelchen«: »Im Anfang war mir etwas bange wie das werden wird, aber gleich nach den ersten 100 m. merkte ich, daß ich allen (…) überlegen war.«

Sosehr dieser und sich anschließende Ausflüge aus Spaß an der Freud geschahen, steckte auch Kalkül dahinter, denn seine alpinen Abenteuer sprachen sich rum: »An den Abenden, noch mit dem Schwung unserer weitreichenden Exkursion, unsere Körper voll mit Sonne und der Freiheit der Berge, mischten wir uns, noch immer in Skiklamotten, unter die Eleganz der Abendgesellschaft.« Einen Vortrag zur Neubewertung der Philosophie Kants hielt Heidegger sogar in Skikleidung und bastelte damit an seinem Image als antibürgerlicher Rebell.

Am 26. März 1929 um 10 Uhr war es so weit. Lediglich zwei Stunden dauerte die sogenannte »Arbeitsgemeinschaft« Heidegger versus Cassirer im Konversationssaal des Belvédère, doch ging sie in die Geistesgeschichte ein, wurde verglichen mit wegweisenden Streitgesprächen im antiken Griechenland. Entscheidend bei dieser Davoser Disputation waren nicht allein die Argumente, sondern der Stil der unterschiedlichen Kontrahenten: »Vom inhaltlichen abgesehen«, schrieb Heidegger, habe die Diskussion auf die Studenten »einen großen Eindruck« gemacht. Das New Kid on the Block wirkte nämlich cooler als sein Old-School-Kontrahent – der sportlich enge Anzug hob sich vom altmodischen Frack Cassirers erfrischend ab, und während Letzterer blass um die Nase war, zeigte Heideggers Antlitz sportliche Bräune. Auch kam Heidegger mit Absicht etwas zu spät zu der Veranstaltung – was ja immer als cool gilt –, mischte sich volkstümlich unter die Studenten auf den hinteren Plätzen, anstatt seinen reservierten Sitz in der ersten Reihe einzunehmen, bis Geraune im Saal umging: »Heidegger ist da.« Gegen solche Selbstinszenierungskünste hatte Cassirer, den zudem eine Erkältung schwächte, einen schweren Stand. Tapfer hielt er sich aufrecht und verkörperte an diesem Morgen in Davos die liberale Kultur Europas, stand da als ein Produkt und nobler Repräsentant einer langen Entwicklung in der Tradition von Kant, Goethe und natürlich auch Thomas Mann – einer alten Ordnung, die allerdings vor dem Untergang stand. Heidegger hingegen verkörperte das Unbekannte, Neue, das Ab- und Untergründige, Aufregende.

Doch über was disputierten die beiden? »Das bloße Vermitteln wird nie produktiv weiterbringen«, lautete Heideggers düstere These, die er mit unverhohlen badischem Akzent in leicht beleidigtem Duktus vorbrachte. Seinen tief sitzenden Gefühlen von Einsamkeit, Unterdrückung und Frustration – die von vielen im Saal geteilt wurden – gab er Ausdruck, indem er betonte, dass Dissens das Leben bestimme. Der Boden solle stets als Abgrund wahrgenommen werden, um für den revolutionären Augenblick, der jederzeit kommen könne, bereit zu sein. Dieser prekären Weltsicht entsprach auch seine Einschätzung der Studenten: »Es ist furchtbar, wie zerrissen, ungleichartig, ohne Halt und Instinkt doch die jungen Menschen sind. Und nicht mehr zurückfinden in die Einfachheit des Daseins.« Kein Wunder, dass sein Vortrag bei diesen ankam, wenn er von »Geworfenheit« sprach oder vom »Widerstreit, der im Wesen der Freiheit liegt«.

Mit solchen Gedankenstimmungen konnte Grandseigneur Cassirer wenig anfangen. Zweckoptimistisch postulierte er, aus der Fülle der europäischen Geistesgeschichte schöpfend, dass Verständigung möglich sei und eine Vielfalt symbolischer Formen die Wirklichkeit erst erschaffe, den Menschen dazu bringe, auch abweichende Meinungen gelten zu lassen. Alle Kunst sei eine Manifestation der Freiheit, und ihr Sinn liege darin, den Menschen produktiv von seiner Angst zu entbinden. Wann immer der Altmeister eine seiner Ausführungen begann, stellte er zunächst fest, dass grundsätzlich Einvernehmen zwischen Heidegger und ihm vorliege: »Und doch verstehen wir uns durch das Medium der Sprache.« Doch sein Herausforderer ließ das nicht gelten, konterte jedes Mal trotzig und mit einer Schärfe, die fast an Unhöf‌lichkeit grenzte, dass die Unterschiede zwischen beiden erkannt werden müssten. Auf Krawall getrimmt, soll Heidegger, wie Anwesende beobachtet zu haben glaubten, am Ende des Gesprächs Cassirer sogar den Handschlag verweigert haben, sein Argument, dass Menschen sich letztlich nicht verstehen können, konsequent umsetzend.

Handgeben oder nicht, cool oder uncool: Dem Publikum kam es so vor, als gebe künftig Zauberzwerg Heidegger den Ton an mit seiner Absage an eine »Brücke von Individuum zu Individuum«, für die der verschnupf‌te Idealist Cassirer mit so wenig Verve geworben hatte, dass ihn die Studenten bei einer satirischen Darstellung an einem der folgenden Abende mit ausladender Perücke zeigten, aus der der Kalk rieselte. Somit setzte Heidegger den Trend, propagierte unterschwellig Angst und Trennung, wo Cassirer etwas hilf‌los für Liebe und Verständigung plädierte. Die Intensität des Menschseins in der Moderne, die Thomas Mann so gemieden und Klabund so gesucht hatte, veranlasste den aufkommenden Radikalphilosophen zu einem neuen Denkgebäude, das die bürgerlich-westliche Welt, wie Cassirer sie repräsentierte, ablehnte. Doch leider schuf er nichts Besseres, im Gegenteil.

Nicht der versöhnliche Geist des Austauschs behauptete sich somit, nicht der Aufenthalt unter einem Dach, sondern der existenzialistische Extremismus, der einer Umwälzung entgegenfieberte, die der »Härte des Schicksals« entsprach. Und vor allem markierte die Disputation einen Endpunkt, denn es waren die vielleicht letzten beiden Stunden in der Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts, in denen das Denken als entscheidend empfunden wurde, bevor dann das geistabtötende NS-Regime dem intellektuellen Diskurs ein Ende bereitete, ihn durch eine Ära der Propaganda und fake news ersetzte, die die finale Phase dieser Endmoderne charakterisiert und heute noch auf uns ausstrahlt. Und Heidegger machte mit. The times they were a-changin’.