Jene ordnungsliebenden Deutschen, von denen Clawdia Chauchat gesprochen hatte, stellten auch in den Dreißigerjahren das stärkste Ausländerkontingent in der zur Kleinstadt angewachsenen Kommune im Hochgebirge, 15 Prozent der Einwohnerzahl. Mehr denn je spielten die Leute aus dem Nachbarland eine entscheidende Rolle in dem einst von einem Mannheimer erfundenen Kurort: Sie sprachen die gleiche Sprache, mischten wirtschaftlich wie kulturell kräftig mit und bald auch politisch.
So waren mit der Zeit einflussreiche deutsche Institutionen gewachsen: Im Fridericianum, dem Internat im Davoser Zentrum, lernten die Pennäler zwar nicht den verpönten Zauberberg, dafür wurden sie mit rechtslastigen Inhalten gefüttert, die nördlich der Grenze an Popularität gewannen. Mehrere bettenstarke Sanatorien bildeten die Zentren der Exildeutschen: die Deutsche Heilstätte, die Deutsche Klinik und vor allem das Deutsche Kriegerkurhaus, wo Hunderte Versehrte der Reichswehr ihre Wunden aus dem Ersten Weltkrieg leckten, ihre malträtierten Lungen kurierten.
An solchen Orten, den hierarchisch geführten Volksheilstätten, verbreitete sich nun vermehrt ein anderes, viel schlimmeres Übel als die Schwindsucht: der Nazismus, der unter kranken Deutschen, die nichts anderes zu tun hatten, als herumzuliegen und sich in politischem Palaver zu ergehen, idealen Nährboden fand. Auch die Anstalt von Dr. Turban, mittlerweile Ehrenbürger der Gemeinde und durch seine autoritären Manieren beim Durchsetzen der strikten Liegekurregeln vom »Tuberkulosepapst« zum »Tuberkulosetyrannen« mutiert, galt als »Burg des Deutschtums«.
Abgeschlossen von der Welt, manifestierte sich in diesen Heilstätten, in denen Hygiene alles galt und die sich vor Keimen und fremden Einflüssen abschotteten, eine dunkle Version des Zauberbergs als Brutstätte der rechten Ideologie. Von der Angst vor Ansteckung war es nicht weit zu einem faschistoiden Gesundheitswahn. Die Idee der Heilung durch die Natur, die Kräfte von Sonne und sauerstoffarmer Höhenluft, war an solchen Orten in eine ungute Geisteshaltung gekippt, die in den Juden gefährliche Krankheitsherde zu erkennen glaubte, passend zu der Hetze von Hitler, der vom »Judentum als Rassentuberkulose der Völker« sprach. Der gesamte Ort, zuvor kosmopolitischer Schmelztiegel, driftete nach rechts.
Doch nicht Turban wurde mit dem Spitznamen des »Diktators von Davos« belegt, dies kam einem anderen zu, einem groß gewachsenen Norddeutschen mit Namen Wilhelm Gustloff, der 1917 als Tuberkulosepatient gekommen war. Hatte er sich seinen Aufenthalt zunächst mit Schneeschippen verdient, dann über eine Hausmeisterstellung beim Physikalisch-Meteorologischen Observatorium, dem PMOD, an dessen erstem Standort, der Villa Dora, er die Parterrewohnung bezog, begann er Anfang der Dreißigerjahre als Parteimitglied der ersten Stunde seinen gesellschaftlichen Aufstieg. Obgleich von Zeitzeugen als »schüchterner, nicht ernst zu nehmender Funktionär« geschildert, war der beflissentliche Biedermann ein geschickter Netzwerker. In seiner vermeintlichen Gutmütigkeit lag der Schlüssel seines effektiven Engagements: kein hasspredigender Scharfmacher, sondern ein Soft-Nazi und gemütlicher Typ, der sich nicht aufdrängte und sich bei den ebenso gemütlichen Schweizern wachsender Beliebtheit erfreute, mit allen gut konnte. Zudem wollte es sich niemand mit ihm verscherzen, da sein Einfluss auf die wichtige deutsche Gemeinde immer größer wurde. Das Einzige, was die Leute an ihm störte, war die Tatsache, dass er im Garten der Villa Dora sein Radio laut aufdrehte, wenn deutsche Humptata-Musik lief oder eine »Führer«-Rede.
Bereits 1931, als Hitler von der Macht noch weit entfernt schien, bekleidete Gustloff mit Verve das höchste NSDAP-Amt in der Schweiz, obwohl von einem Auslandsengagement der rechtsradikalen Partei anderweitig kaum die Rede sein konnte. So harmlos er nach außen wirkte, bereitete er alles für den Tag X vor und richtete einen offiziellen Nazistützpunkt ein, den ersten in der Schweiz. Zur »Ortsgruppe Davos« kamen bald eine »Zelle Deutsches Kriegerkurhaus«, eine »Zelle Deutsche Heilstätte«, ein »Standort Hitlerjugend«, ein »Standort Bund Deutscher Mädel«, eine »Deutsche Kolonie«, ein »NS-Opferring«, eine »NS-Frauenschaft«, die »Deutsche Arbeitsfront« sowie eine »NS-Sportgruppe« hinzu. Unter Gustloffs Führung tobte sich die Vereinshuberei der Deutschen im Kurort aus, unter braunen Vorzeichen.
Später offenbarte der zum »Landesvertrauensmann für die Schweiz« ernannte Gustloff, dem sämtliche Ortsgruppen, Stützpunkte und Einzelmitglieder in der Eidgenossenschaft »unterstellt« wurden, sein wahres Gesicht. Seinen Fanatismus formulierte er so: »Ich liebe auf der Welt am meisten meine Frau und meine Mutter. Wenn aber mein Führer mir befähle, sie zu töten, so würde ich ihm gehorchen.« Auch die eigene Unversehrtheit schien ihm weniger wichtig als blinder Gehorsam: »Wenn der Führer mir befiehlt, mich zu diesem Fenster hinaus (…) zu stürzen, so tue ich das ohne Besinnen.« Stundenlang saß er in der Stube und starrte auf das Hitler-Porträt an der Wand, um daraus Kraft zu schöpfen. Auch ideologisch betätigte er sich und verquirlte Kapitalismuskritik mit Krankheitsmotiven zu rechter Weltanschauung: »Der Nationalsozialismus sieht in den schweren Krisen unserer Zeit nur Symptome eines inneren Zerfalls. Er sucht hinter den unmittelbar fassbaren Schäden die tiefere Ursache zu fassen: Jenen Materialismus, für den Wirtschaftsprofit, organisierte Spekulation und Rentabilität Begriffe geworden sind, die alle, selbst die edelsten Belange menschlichen Lebens, bestimmen.«
Mit der Machtergreifung Hitlers am 30. Januar 1933 legte Gustloff, der an diesem Tag seinen 38. Geburtstag feierte – und in der Synchronizität ein Zeichen sah –, einen Gang zu. Nun ging es darum, den Weltkurort »gleichzuschalten«. Widerstand gab es zunächst nicht, die neue Ära wurde in der Schweiz verharmlosend wahrgenommen: »Sprünge wird die Welt auch Hitlers wegen nicht machen«, hieß es in der Davoser Zeitung, und zwei Wochen später bezeichnete das Blatt Hitler als »Retter Deutschlands, als Retter Europas«. Schon aus wirtschaftlichen Gründen schätzte man die deutsche Klientel zu sehr, seit Jahrzehnten loyale Gäste in der Schweiz, um die Gefahr erkennen zu wollen. Gustloff nutzte dies aus, und eine umfassende Überwachung aller Deutschen begann, egal ob Bewohner oder Kurgäste. Sogenannte »Sprechabende« organisierte er, an denen teilzunehmen Pflicht war, sonst gab es Druck. Da saßen dann 500 Deutsche in einem angemieteten Saal oder einem der deutschen Sanatorien, sangen das Horst-Wessel-Lied, lauschten einem Vortrag über die nationalsozialistische Bewegung. »Ein Deutscher, der sich vier Wochen lang nicht meldet bei diesen Sprechabenden, wird auf Meldeformular nach Deutschland gemeldet und hat sich über sein Fernbleiben zu verantworten«, berichtete ein lokaler Polizist. Üblicherweise schlossen die Abende mit der Aufforderung: »Kaufe nur bei Deutschen, wenn das nicht geht, bei Schweizern, aber nur deutsche Ware.«
Als ein lokaler Buchhändler den 1935 außerhalb von Nazideutschland erschienenen Tatsachenbericht »Moorsoldaten« von Wolfgang Langhoff über die Zustände in einem Konzentrationslager in seinem Schaufenster ausstellte, wurde sein Laden boykottiert, und Deutsche, die dennoch dort einkauften, ließen sich das Einwickelpapier umdrehen, damit das Signet des Buchladens nicht nach außen zeigte. Auf der Promenade des Kurortes flogen die Arme immer häufiger nach oben, und Deutschen, die sich solcher Bekundungen enthielten, schickte Gustloff Drohbriefe und Fragebögen ins Haus. Die Adressen, auch von Neuzugezogenen, die auf Linie zu bringen waren, spielte ihm ein Kontakt im Kurverein zu. Ausgestattet mit einer wachsenden Kartei seiner Landsleute, baute Gustloff sein Kontrollregime aus, verlangte von allen in der Schweiz lebenden Deutschen eine Zwangsabgabe an die Partei von zwei Franken monatlich, dem heutigen Wert von etwa 25 Franken. Über dem Fridericianum, der deutschen Schule im Zentrum, flatterte die Hakenkreuzfahne. Aufsatzthemen wie »How to make the British people understand that the Germans are ›ein Volk ohne Raum‹?« beschäftigten die Schülerinnen.
Wie im »Dritten Reich« gehörten feierliche NS-Kundgebungen zur neuen Normalität, die Hitlerjugend zog mit Fahne umher, Marschklänge schallten durch das Landwassertal. Zur Überwachung der Schweizer Presse hatte sich Gustloff ein typisch nationalsozialistisches System ausgedacht: In jeder NS-Ortsgruppe der Eidgenossenschaft wurde ein Pressewart ernannt, der die Publikationen aus seiner Region auswertete und die Ergebnisse in die braune Zentrale Davos schickte. Diese Pressewarte mussten »alle wichtigeren Artikel für und gegen das neue Deutschland herausschneiden (…) und mit eventuellen Bemerkungen und Stellungnahmen (…) senden«. Rückenwind für solche Infiltration erhielt Gustloff von den Schweizer Behörden: Um Konflikte mit dem mächtigen Nachbarn zu vermeiden, wurde seine Einflussnahme unterstützt. Als die angesehene Neue Zürcher Zeitung einen NS-kritischen Beitrag veröffentlichte, wurde sie flugs für zwei Wochen geschlossen, und am 26. März 1934 entschied der Bundesrat in Bern: »Preßorgane, die durch besonders schwere Ausschreitungen die guten Beziehungen der Schweiz zu anderen Staaten gefährden, werden verwarnt. Bei Nichtbefolgung der Verwarnung wird ihr Erscheinen auf bestimmte Zeit verboten.« Dies meinte im Besonderen: »Angriffe und kritische Pressestimmen betreffend den Führer (…), das Dritte Reich beziehungsweise Deutschland allgemein«.
Die Selbstzensur und Anbiederung betraf nicht nur die Medien, sondern auch die Kultur. Das von Erika Mann, der Tochter von Katia und Thomas, gegründete Kabarett »Pfeffermühle« mit seinen NS-kritischen Darbietungen erhielt 1934 Auftrittsverbot in Davos. Dort war gerade der erste Skilift der Welt feierlich eingeweiht worden, ein Bügelschlepplift, und man freute sich auf wachsende Besucherzahlen – antifaschistische Kunstdarbietungen wurden deshalb als potenziell störend empfunden. In der Begründung gegen die »Pfeffermühle« hieß es: »Die Tendenz des Cabarets ist offensichtlich gegen die Verhältnisse des Dritten Reichs gerichtet. Nun besitzt aber der Kurort Davos eine prozentual starke ansässige deutsche Kolonie, wie wohl keine andere Schweizergemeinde, und ist außerdem stark von deutscher Klientel besucht, welche beiden Bevölkerungskomponenten außer allem Zweifel mehrheitlich auf dem Boden des gegenwärtigen Staatsregimes stehen. Die kulturelle Bedeutung des Cabarets kann vom Kleinen Landrat aber unmöglich so hoch eingeschätzt werden, dass es sich rechtfertigen würde, durch die Bewilligung von Gastspielen die Beziehungen innerhalb der Einwohnerschaft unserer Gemeinde trüben zu lassen.« Zudem schulde der Kurort der Familie Mann seit dem »schädigenden Roman Der Zauberberg eh keine besondere Dankespflicht«, schloss der Landrat – eine späte Rache an Thomas Mann, vor allem aber ein Armutszeugnis für einen Ort, in dem nur sechs Jahre zuvor Albert Einstein für Toleranz plädiert hatte. Heideggers in Davos proklamierte Geisteshaltung von der angeblich dem Menschen innewohnenden Unfähigkeit zur Verständigung manifestierte sich nun.
Unverhohlen stand an der Hauptstraße des Ortes ein Schild, das den Weg zur neuen Residenz des »Davoser Gauleiters« am Kurpark wies. Auch auf die Sanatorien übte der Alpennazi immer größeren Druck aus und erreichte, dass für SA- und SS-Mitglieder je sechsmonatige Gratisaufenthalte möglich wurden. Zwar hatte die NS-Gesundheitsführung in Berlin dem Abfluss deutscher Gelder in Kliniken außerhalb des Reiches den Riegel vorgeschoben, doch gelang es Gustloff, »die Versicherungsträger und die amtlichen Stellen, die über Kurzuschüsse an erkrankte Beamte des Staates und der Gemeinden zu entscheiden haben, anzuweisen, dass unsere Anstalt bei der Gewährung von Kuren und Kurbeihilfen den innerhalb der Reichsgrenzen gelegenen Heilanstalten gleichgeschaltet wird«, wie es zum Status der Deutschen Heilstätte hieß. Ab März 1935 wurden die germanischen Sanatorien »als lebensnotwendig für die deutschen Interessen erklärt«. Für solche Lobbyarbeit erhielt Gustloff Einladungen in die Aufsichtsgremien mehrerer Institute, saß im Vorstand der Deutschen Heilstätte und des Deutschen Kriegerkurhauses, kassierte multiple Honorare. Kritisch gesinnte Mitarbeiter solcher Etablissements wurden peu à peu durch regimetreue ersetzt. Auch das Waldsanatorium, wo einst Katia Mann gekurt hatte, leitete mittlerweile ein NSDAP-Mitglied.
Auf solche Weise missbrauchte Gustloff die Internationalität des Ortes, wo es Konsulate Großbritanniens, Frankreichs, Hollands, Portugals und Italiens gab, um NS-Propaganda über die Grenzen des Reiches hinweg zu verbreiten: eine schleichende Aushöhlung seines demokratischen Gastgebers. Mehrere Dutzend Ortsgruppen, Stützpunkte, Standorte der Hitlerjugend und des Bundes Deutscher Mädel machten sich unter seiner Führung in diesen frühen Dreißigerjahren überall in der Eidgenossenschaft breit, organisiert in den drei Kreisleitungen Ost-, Mittel- und Westschweiz und einer eigenen Kreisleitung in der Hauptstadt Bern – ein Staat im Staat.
Mit der Zeit gab es Gegenstimmen: »Die nationalsozialistischen Ortsgruppen in der Schweiz schießen wie Pilze aus dem Boden«, warnte eine Presseagentur. Forderungen nach Ausweisung des Parteigenossen wurden erstmals laut. Allmählich wachte das Alpenland aus seinem politischen Dornröschenschlaf auf. »Liegt Davos in der Schweiz?«, fragte ein Leserbrief in einer Graubündner Zeitung sarkastisch und stellte die Frage, ob dem weltoffenen Kurort nicht bald die Gäste von außerhalb Deutschlands fernbleiben würden, genervt von so viel NS-Propaganda. Als Gustloff sogar Vereidigungen auf seinen »Führer« abhielt, dessen erklärtes Ziel es war, alle Deutschsprechenden zu einem Großdeutschland zu vereinen, erreichten die Vorgänge die Hauptstadt Bern. War dadurch nicht »eine deutsche Amtshandlung auf Schweizer Gebiet« vollzogen, um die in der Schweiz lebenden Deutschen weniger den lokalen Gesetzen gegenüber zu verpflichten denn einem ausländischen Staatschef? Wurde hier sogar klammheimlich eine Annexion vorbereitet? Die Sozialdemokratische Partei im Großen Rat des Kantons Graubünden warf die Frage auf, »ob der beamtete Sekretär des Physikalisch-Meteorologischen Observatoriums Davos, einer unter Aufsicht des Bundes stehenden Anstalt, in seiner Eigenschaft als Leiter der NSDAP für die Schweiz in Davos und von Davos aus (…) nicht zuletzt die Interessen der bündnerischen Fremdenindustrie in hohem Maße gefährdet«.
Doch der Bundesrat, der sich später »großartige Naivität« unterstellen lassen musste, verglich die von Fahnenpomp begleiteten Vereidigungen mit den Feierlichkeiten und dem Bratwurstessen von Schweizern im Ausland zum Nationalfeiertag am 1. August. Ein Verbot der NSDAP, zu dem die Opposition aufforderte, wurde verworfen, da man wirtschaftliche Nachteile befürchtete. Auch hatten die Schweizer Sozialdemokraten die Rechnung ohne die lokalen Hoteldirektoren gemacht, die aus Angst vor Einbußen eine Ausweisung Gustloffs ablehnten, da dies deutsche Gäste verschrecken und dem Winterreiseverkehr schaden könne. Die Deutschen machten 40 Prozent der Bettenbelegung aus, und es wurde befürchtet, dass Gustloff Nachricht in die Heimat sende, dass das Klima in Davos, also das politische, ungünstig sei. Auch der Polizeivorsteher des Ortes Johann Badrutt, per Du mit dem Obernazi, sprach sich gegen Sanktionen aus: »Wir vermögen in der Tätigkeit, die Herr Gustloff hier entwickelt, keine Schädigung der Kurortsinteressen zu erblicken. Er ist vorsichtig, sachlich, kein Hetzer und kein Fanatiker und ist vom Wohlergehen unseres Kurortes stark abhängig. (…) Herr Gustloff wurde attestiert, dass ihm das Wohl und Wehe des Kurortes am Herzen liegen muss.«