Doch es gab jemanden, der nicht so zögerlich agierte. »Ich kann das Unglück des jüdischen Volkes nicht länger ertragen«, schrieb der Medizinstudent David Frankfurter: »Es nimmt mir die Lebensfreude.« Ebenso feinfühlig wie zunehmend nervös nahm der 26-Jährige die gesellschaftliche Fieberkurve wahr: Von der Ermordung des deutschen Außenministers Walter Rathenau zu den Nürnberger Rassengesetzen und den ersten Pogromen gegen Juden im NS-Staat – die Temperatur stieg, das politische Klima heizte sich auf, ein letaler Ausgang drohte. Es sah nicht gut aus für den angegriffenen jüdischen Patienten, und David war, nachdem jemand seinen Onkel, einen promovierten Arzt, im Winter 1933 auf offener Straße in Berlin am Bart gezogen hatte, in die Schweiz geflüchtet, weil er sich vorstellen konnte, dass es beim Bartziehen nicht bleiben würde. Doch auch dort sah er immer mehr Hakenkreuze Jackenaufschläge zieren.
Lange fiel ihm nicht ein, auf welche Weise er sich wehren sollte. Was konnte ein Einzelner schon tun? Dann lernte er in der Berner Universitätsbibliothek einen Kommilitonen kennen, der Bakterienforschung betrieb, ihm im Labor der medizinischen Fakultät Streptokokken auf die Hand strich, um sie mit einem neuen Präparat zu bekämpfen, jenem Penicillium-Pilz, der acht Jahre zuvor in London entdeckt worden war. Mittlerweile wurde an den Hochschulen weltweit nach einem Antibiotikum geforscht, um endlich die Tuberkulose kurieren zu können, doch noch immer war nichts auf dem Markt. Während des Versuchs verstand David Frankfurter plötzlich, was er tun konnte, und er fasste einen ungeheuerlichen Plan: Er würde selbst ein solches Antibiotikum sein – und den Superspreader unschädlich machen, jene Person, die die Krankheit des Rassenhasses in der Schweiz verbreitete. Noch hatte es niemand gewagt, gegen die NS-Diktatur bewaffneten Widerstand zu leisten; überall in Europa war die Hitlerregierung mehr oder minder akzeptiert und längst nicht als Kriegsgefahr eingestuft. Doch er würde dies ändern, ein Fanal schaffen: »Ich war entschlossen, eine unübersehbare Tat mit hinüber zu nehmen in die Welt der Wahrheit.« Er würde der Allererste sein, der die Weltöffentlichkeit aufmerksam machte und zeigte, dass sich die Juden die entwürdigende Behandlung nicht gefallen ließen. Für die Eidgenossenschaft sollte seine geplante Tat einen direkten Zweck erfüllen: »Ich wollte die freie Schweiz, die mir Gastrecht gewährt und in der ich wahrhaft demokratische Menschen kennengelernt hatte, vor dem Schicksal der Nazifizierung und endlichen Einverleibung ins Nazi-Höllen-Reich bewahren.«
In einer Gasse der Berner Altstadt sah David eines Nachmittags im Schaufenster der Schwarzschen Büchsenhandlung einen »Haufen billiger Revolver und dazugehöriger Munition ausgestellt«. Der Preis überraschte ihn: eine »Kleinigkeit von zehn Franken, nicht viel mehr als man zum Ankauf eines Hemdes benötigt«. Weder Ausweis noch Waffenschein musste er vorlegen, es war »wie eine Schachtel Zigaretten kaufen«. Die Verkäuferin erklärte ihm den Mechanismus der Pistole Kaliber 6.35 und packte Patronen dazu.
An einem Wintertag des Jahres 1936 besuchte er den Schießstand im benachbarten Ostermundigen. »Ein Bursche, der dort angestellt war und in eine Mulde steigend den Stock mit der Scheibe hielt, half mir gegen ein kleines Trinkgeld bei meiner einzigen Vorübung.« Die Hand des Medizinstudenten zitterte, als er den Revolver hob und vor sich die konzentrischen Kreise sah – und hinter diesen ein verhasstes Antlitz auftauchte, mit »kurzem schwarzem Schnurrbart und öliger Haarsträhne, die bis tief an das rechte Auge in die Stirn gekämmt war«. Sechs Mal drückte er ab, zwei Mal traf er ins Schwarze, zerfetzte den Schnurrbart. Keine schlechte Leistung, wenn man bedachte, dass er ein ungeübter Schütze war.
Am 31. Januar 1936 hinterließ er seiner Freundin einen Zettel: »Liebe Linny, ich bleibe abends fort. Näheres später. Herzliche Grüße, David.« Am gleichen Tag löste er am Schalter des Berner Hauptbahnhofs ein Billett, einfache Fahrt. Das war für seine Destination nichts Ungewöhnliches. Viele Patienten, die nicht wussten, ob sie je zurückkehrten, hielten es beim Ticketkauf nach Davos ebenso. Als Gepäck führte David Frankfurter nur eine Aktenmappe bei sich – und den Revolver. Am Zürich- und am Walensee entlang ging die Fahrt nach Landquart, wo er in die Rhätische Bahn umstieg. Es dämmerte, als er gegen 16 Uhr ankam. Über einen halben Meter hoch lag der Schnee. Im Hotel Metropol-Löwen nahm er ein Zimmer, »in nächster Nähe des Bahnhofes, Post und Telegraph – Altrenommiertes bürgerliches Haus – Große Säle für Vereine und Gesellschaften – Bäder im Hause – Anerkannt gute Küche – Reelle Weine – Mäßige Preise – Portier am Bahnhof – Telephon«, wie es in der Reklame hieß. Er ließ sich das Fernsprechbuch geben, wählte die Nummer von Wilhelm Gustloff. Dessen Gattin nahm ab und erklärte, dass ihr Mann zu einer Vortragsreise unterwegs sei: »Gestern hielt er eine Rede in Zürich und heute Abend in Bern.«
»In Bern?«
»Ja, wieso fragen Sie?«
»Ich bin selbst aus Bern«, antwortete David. »Und ich wollte ihn heute treffen. Deshalb bin ich extra hierhergereist.«
»Nun, wenn Sie jetzt zurückfahren, erwischen Sie ihn auch nicht mehr, weil morgen ist er schon in Glarus. Er hat ja so viele Verpflichtungen als Landesvorsteher.«
»Wissen Sie, wann er wieder zu Hause ist?«
»Natürlich weiß ich das, am Montagabend.«
David legte auf und ging hoch auf sein Zimmer. Es war gerade einmal Freitag. Reichte solange sein Geld für die Übernachtung? Auch hatte er keinerlei Wechselwäsche mitgenommen. Würde er früher abreisen müssen, aus Kostengründen? War diese Aktion nicht ebenso zum Scheitern verurteilt wie sein Medizinstudium? Und dieser Selbstzweifel … war das nicht eine zutiefst jüdische Eigenschaft – oder saß er, wenn er so dachte, bereits den Vorurteilen der Nazis auf? Dafür hasste er sie am meisten: dass sie die Wahrheit so erfolgreich durch Lügen ersetzt hatten und so dreist diese Lügen zum Gesetz machten. Nervös lief er in die Schankstube hinunter, bestellte einen Kaffee aufs Zimmer. Er saß auf dem Bettrand, Stift in der Hand und eine Zigarettenschachtel, als der Hotelangestellte das Gewünschte brachte. David bedankte sich, gab ein Trinkgeld, wartete, bis der Junge verschwunden war. Er schüttete von der guten Davoser Milch in die Tasse. Die Zigarette dazu war köstlich. Mit Schwung setzte er den Stift an, um seinen Plan auf der Zigarettenschachtel festzuhalten.
Danach schaute er die Davoser Blätter durch. Was würde er unternehmen bis Montag? Vielleicht am Duplikat Bridge im Hotel Carlton teilnehmen? Oder beim Pingpong-Turnier im Hotel Derby? Alles Quatsch, er würde für sich bleiben an diesem merkwürdigen Ort, der in der Hochsaison vor Menschen nur so brummte. Bumsvoll, wie es hier hieß, waren die Sanatorien, die Hotels ebenso. Die Schatzalpbahn, deren Fahrtzeiten abgedruckt waren, verkehrte zu Stoßzeiten im 10-Minuten-Takt. Der Skisport hatte mächtig zugelegt, vor allem wegen der neuen Parsennbahn, die ihre Frequenz auf 235000 Personen pro Jahr steigerte. Der Ort boomte, die deutschen Touristen liebten ihn. Ja, Davos war in germanischer Hand. Das beabsichtigte David zu ändern.
Er beschloss, sich etwas umzuschauen, und lief die Promenade entlang, bis er einen quadratischen, an drei Seiten von Kolonnaden eingefassten Platz erreichte – jenen, an dem wir Dekaden später unsere Ramen-Suppen löffelten. Hier standen Liegen, und darauf lagen die Deutschen in der Sonne herum, päppelten sich auf für neue Untaten. Da es bald Abend war und nicht mehr lange dauern würde, bis die ersten drei Sterne sich zeigten und der Schabbat begann, fragte er sich zum Etania durch, dem einzigen jüdischen Sanatorium im Ort.
»Einen schönen guten Abend, gestatten, mein Name ist David Frankfurter.« Er zog den Hut und verbeugte sich.
»Ein neuer Patient?«, fragte die Krankenschwester, die ihm öffnete.
David zögerte. »Nein, ich bin Mediziner. Aus Bern. Dürfte ich mit dem Direktor sprechen? Vielleicht könnte ich im Frühjahr hier als Assistenzarzt tätig sein. Wären Sie so freundlich, mir einen Rundgang zu gestatten? Ich würde auch gerne ihre Synagoge besuchen.«
Er überlegte, während er betete, wieso er die Schwester angeschwindelt hatte, und kam nur wieder zu dem Schluss, dass es an seiner Unsicherheit liegen musste. »Gott, steh mir bei!«, stieß er aus. Aber wäre es nicht tatsächlich besser, am Etania als Assistenzarzt zu beginnen, statt ein Verbrechen zu begehen? Doch wenn die Nazis so weitermachten und sich ihnen niemand entgegenstellte, gab es vielleicht das Etania bald nicht mehr. Dann war alles Jüdische irgendwann verschwunden. Was, wenn die Infiltration durch Gustloff immer weiterging, bis auch die Schweiz zu einem judenfeindlichen Land verkommen war?
In der Nacht schlief David kaum, obwohl er eine Veronal genommen hatte. Am nächsten Morgen blieb er stundenlang in seinem Hotelzimmer, stierte vor sich hin. Schrieb einen Brief an seinen Vater, der Rabbiner in Slawonien war: »Ich habe den Glauben an mich und die Menschheit verloren! Ich kann nicht mehr weiter! Mein letzter Wunsch ist, Du mögest wenigstens Kaddisch für mich sagen. (…) Lebe wohl.« Immer wieder schaute er das Foto von Wilhelm Gustloff an, um ja nicht den Falschen zu erwischen. Nicht auszudenken, er würde einen Unschuldigen treffen, einen unbescholtenen Schweizer Bürger zum Beispiel. Später ging er nach draußen zur Sportarena, wo Hochbetrieb herrschte: Die Weltmeisterschaften im Eisschnelllaufen fanden statt auf dieser größten künstlichen Eisbahn Europas. Doch David konnte das fröhliche Treiben nicht genießen. Obgleich er sich mitten darin befand, fühlte er sich schon weit entfernt. Er schaute sich das Eishockeyspiel Davos gegen Zürich an. Neben ihm stand ein Deutscher, der irgendwann zu seinem Filius sagte: »Ein schnelles, hartes Kampfspiel, mein Sohn!« Die Davoser gewannen fünf zu eins. Jedes Mal, wenn der Schiedsrichter laut in seine Trillerpfeife blies, schreckte David zusammen.
Endlich war Montag. Doch es fiel ihm ein, dass Dienstag ein Glückstag war, nach jüdischer Auffassung jedenfalls, und um die ging es hier ausnahmsweise einmal, und so zögerte er sein Vorhaben um weitere 24 Stunden hinaus.
Am Dienstag, dem 4. Februar 1936, einem eiskalten Tag mit Höchsttemperaturen von minus sechs Grad, fand das Schlittenrennen um den Preis von Davos statt. Am Abend, nach dem Essen, versank der Ort in Stille: Liegekur. Das war die Zeit der lokalen, Davos-spezifischen Andacht, und auch jene, die nicht daran teilnahmen, hielten Ruhe ein. Die Luft war glasklar, der beinahe volle Mond ging auf, eine riesenhafte Erscheinung in Rosagelbrot, wie auf einem Gemälde von Kirchner, die Berge fast erschrocken, strahlten in Silber, Grün und Blau. David betete: das Widduj, das Sündenbekenntnis, bei dem er vor Gott gestand, Verfehlungen begangen zu haben, das Schma Israel, das wichtigste Gebet des Judentums, das den Glauben an die Existenz des einen und einzigen Gottes bezeugt. Als Letztes das Kaddisch, das Trauergebet, wobei ihm nicht klar war, um wen er trauerte: seine zwei Jahre zuvor verstorbene Mutter oder bereits um sich selbst. Um Gustloff jedenfalls nicht. Gegen halb acht Uhr verließ er den Metropol-Löwen. Auf dem harten, unter seinen Füßen knirschenden Schnee der Promenade spiegelten sich das Rot und Blau der Kinoreklame: Fräulein Veronika, eine Schmonzette von Veit Harlan, der vier Jahre später in Goebbels’ Auftrag den perfiden antisemitischen Propagandastreifen Jud Süß filmen würde.
David lief in Richtung »Dorf«, als er unerwartet auf jüdische Bekannte stieß, eine Mutter mit ihrer Tochter. »Ja, was machen Sie so ganz allein hier, Herr Frankfurter?« Die Dame sah ihn an.
»Ach«, antwortete David, der sich darüber wunderte, dass es dies alles noch gab: wohlhabende jüdische Damen, die hier zur Kur weilten. Sorglose Menschen, deren Ferientag zwischen Promenade und Fünfuhrtee verlief. »Mich locken die schneebedeckten Berge. Ich mache jetzt noch einen Abendspaziergang.«
»Möchten Sie einmal Tee mit uns trinken?«
»Furchtbar gerne«, sagte David freundlich und sah zu der Tochter hin, die etwa vierzehn war. In was für einer Welt würde sie groß werden, einer faschistischen oder einer freien? Höflich empfahl er sich und ging weiter, etwa zwanzig Minuten lang, bis er zu einem Wegzeiger kam, den er schon kannte, noch ein kleines Stück an einer Holzvilla vorbei, der Praxis eines Zahnarztes, der längst Feierabend hatte – jenes Gebäude, in dem heute die Dokumentationsbibliothek untergebracht ist.
David bog nach rechts unten ab und erreichte einen halbkreisförmig geschwungenen Granitbrunnen. Dort hielt er inne, trank einen Schluck von dem kalten, klaren Wasser und las die Notizen auf seiner Zigarettenschachtel, wo noch das ursprüngliche Attentatsdatum vermerkt stand: »Montag 3.II.36 1/210 muss die Verurteilung ausgeführt werden. Vorher anrufen und fragen, ob er zuhause ist. (…) Revolver in der rechten Tasche des Rockes, nicht im Überzieher, bereit zum Schießen. Sobald ich im Zimmer bin, plötzlich herausziehen und schießen, in den Kopf, oder in die Brust. 3 Schüsse.«
An schneebehangenen Fichten vorbei blickte er auf das hellblau getünchte Gebäude mit dem flachen Dach unterhalb der Straße: Am Kurpark 3. Ein Mehrfamilienhaus, worin die Gustloffs die Wohnung im zweiten Stock gemietet hatten, rechte Seite. Auch hier kein Giebel, der die Sonneneinstrahlung behindert hätte, große Fenster, Balkon. Es war kurz nach 20 Uhr, schon spät, um bei Fremden an einem Winterabend vorstellig zu werden. David Frankfurter zog »die Feder des Revolvers auf und hatte scharf geladen«. Dann stand er auf, lief die paar Schritte zum nicht abgeschlossenen Eingang. Daneben war ein Schild angebracht: »Gustloff NSDAP«. Er läutete und trat ein.
Eine Frau beugte sich über das Geländer des zweiten Stockes und fragte nach seinem Begehr.
»Ist Herr Gustloff zu Hause, und kann ich ihn sprechen?«, hörte David seine eigene Stimme wie die eines Fremden in dem Treppenhaus widerhallen.
»Ja«, antwortete Frau Gustloff zögerlich. Sie hatte sich schon auf den gemeinsamen freien Abend mit ihrem Mann gefreut, der gestern spät zurückgekehrt und nicht mehr dazu gekommen war, ihr von seiner Vortragsreise zu erzählen. Doch für Besucher war er immer zu sprechen. Es konnte ja ein Volksgenosse in Not sein.
David stieg die Treppen nach oben.
Frau Gustloff, eine kurvige Mittdreißigerin, »nicht hübsch, aber durchaus nicht abstoßend«, wie er sie später beschrieb, ließ ihn herein. Sie würde zu Protokoll geben, dass er gut gekleidet gewesen sei; nur den Hut habe er zu tief im Gesicht getragen.
»Bitte warten Sie im Büro meines Mannes. Er telefoniert noch mit dem Stützpunkt Thun.«
»Vielen Dank, gnädige Frau«, sagte David und trat in den langen Flur. Da sah er Wilhelm Gustloff. Der stand mit dem Rücken zu ihm, eine riesenhafte Gestalt, und sprach in die Muschel.
Linker Hand ging David ins Arbeitszimmer, Gustloffs Gattin schloss die Tür hinter ihm. Der Raum, mit breiten Fenstern zum Kurpark, besaß eine weitere Tür, die ihn mit dem Esszimmer verband. Sie war nur angelehnt, weshalb David das Telefongespräch zwar nicht direkt mithören konnte, doch immer wieder drangen Wortfetzen zu ihm.
Er setzte sich auf einen Stuhl, seine Hand um die Waffe gekrampft. Sein Blick fiel auf ein gerahmtes Hitlerbild, unter dem eine persönliche Widmung stand: »Meinem lieben Gustloff. Adolf Hitler«. Unter diesem Porträt hing der »Ehrendolch« Gustloffs, mit dem eingravierten Schriftzug »Blut und Ehre«.
Zierpflanzen wuchsen in Töpfen: auf der Anrichte, auf einem Tisch. Auf dem Schreibtisch zudem eine Vase mit Blumen. Ein großer Teppich auf dem Parkett, ein kleinerer vor dem Schreibtisch. Schick eingerichtet, modern.
David fingerte an seiner Waffe herum. Fünf ewige Minuten vergingen. Er wurde nervös, suchte nach einer Ausrede, um sich aus dem Staub zu machen. Da hörte er aus dem Flur Gustloff am Telefon sagen: »Mit diesen werden wir noch fertigwerden, mit diesen Schweinehunden und den Kommunisten.« Möglicherweise sagte Gustloff aber auch: »Diesen Schweinejuden und Kommunisten werden wir’s schon zeigen.« Vielleicht sogar beides; David konnte sich später nicht genau erinnern. Eine rasende Wut stieg in ihm hoch. Gustloff legte den Hörer auf die Gabel, fragte seine Frau nach dem Besucher, drückte die hintere Tür in sein Arbeitszimmer auf. Zunächst warf sich sein Schatten herein, dann füllte er den Türrahmen vollständig aus, riesengroß, breitschultrig, und kam mit überraschend elastischem Schritt herein. »Da bin ich!«, rief er zur Begrüßung. Kein Wort fiel sonst zwischen den beiden, doch das reichte. Es war alles gesagt. David holte die Waffe aus der Tasche, richtete sie auf den Hünen und drückte ab. Doch der Mechanismus knackte und versagte, eine Patrone fiel zu Boden. Gustloff stürzte auf ihn zu. David wich einen Schritt zurück, um den Tisch mit den Blumen herum, und drückte nochmals ab. Jetzt krachte es im Zimmer. Und als er sah, dass er getroffen hatte, schoss er noch mal. Und noch mal. Und ein viertes Mal. Gustloff brach zusammen, fiel nach vorne. Wie viele Steine hatte David gegen Goliath geschleudert, fünf? Ein fünfter Schuss ging in die Wand, traf aber nicht das Hitlerbild. David rannte in den Flur und hörte, wie Frau Gustloff schreiend durch die andere Tür in das Arbeitszimmer stürzte.
Den rauchenden Revolver in der Hand, eilte David zur Wohnungstür hinaus und die Treppen hinunter. Menschen, aufgeschreckt von den Schüssen und Hilferufen, kamen aus den Nachbarwohnungen. »Platz, oder ich schieße!«, rief David und bedrohte alle, die sich ihm in den Weg stellen wollten.
Die Kühle der Nacht umfing ihn. Wenige Meter hinter dem Haus stapfte er im Zickzack durch ein Schneefeld. Es war jetzt still, nur in seinen Ohren brauste es, und das Herz hämmerte ihm in der Brust. Der Schnee lag hoch, und er warf sich nieder, presste sein Gesicht hinein wie in ein Kissen. Er stand auf, bahnte sich einen Weg zur Rückseite des Grundstücks, wo der Kurpark begann. Über ihm flimmerten die Sterne. Kalt war es. Vor ihm ragte das Denkmal für Alexander Spengler auf, den Davos-Erfinder: Der Atmende, eine nackte Bronzefigur mit stolzgeschwellter Brust, die Hände links und rechts auf den Rippen liegend, den Kopf leicht im Nacken. Atmen, einfach nur atmen – David war jetzt auch nichts anderes als ein Atmender. Alle Anspannung der letzten Jahre hatte sich in diesen Kugeln verdichtet und war nach vorne geschnellt und in dem Körper von Gustloff zur Ruhe gekommen. Jetzt blieb nur noch, dass er sich selbst richtete. Sein Lebenswerk war vollbracht. Wie es vom Publikum aufgenommen würde, lag nicht mehr an ihm. Die Geschichtsschreiber würden das finale Urteil über ihn fällen. Ob sie ihm eines Tages ein Denkmal errichteten wie Spengler? Wieder legte er sich in den Schnee, fiebernd, setzte die Waffe am Herzen an. Doch er schaffte es nicht. Er positionierte den Revolver an der Schläfe und schloss die Augen. Aber auch das ging nicht. Er rappelte sich wieder auf. Der feuchte Schnee klebte an seinen Kleidern. Er steckte die Waffe ein, ging fröstelnd ein paar Schritte vor und zurück, in dieser gespenstisch klaren Nacht, in der er ein Gespenst erlegt hatte.
Eine Weile lang schaute er sich Spenglers Bronzepenis an, aber war es überhaupt Spenglers Penis? Auch auf den Hoden lagen kleine Häufchen von Schnee. Er hatte Chuzpe gezeigt, heute Abend, der junge Herr Frankfurter. Er hatte einem gottverdammten Obernazi das gegeben, was dieser verdiente: die Kugel. Noch immer stand er vor dem hohen, pyramidal sich verjüngenden Betonsockel und sah zu dem Atmenden empor. Gustloff atmete jetzt nicht mehr. Dessen Gesundheit war der Aufenthalt in Davos letztlich abträglich gewesen. David, in dem das Blut trotz der Kälte heiß kochte, wandte sich um und ging auf die hellblauen Häuser zu. Wenn er es nicht schaffte, sich selbst zu richten, sollte die Schweizer Justiz für seine Strafe zuständig sein. Im Nachbarhaus, links von der Gustloff’schen Wohnung, sah er Licht. Er klingelte. Ein uraltes Männlein machte auf, seine nicht minder greisenhafte Gattin kam vorsichtig hinter ihm hergetrippelt. David wollte die beiden nicht aufregen, fragte mit erzwungener Gleichgültigkeit, ob er telefonieren könne. Er wurde zum Apparat geführt, schlug die Nummer des Polizeireviers nach und wählte.
»Sie wissen sicher schon, was im Kurpark Nr. 3 vorgefallen ist. Hier können genaue Angaben gemacht werden, schicken Sie sofort jemanden hierher.« Er legte auf und verließ die Wohnung, um vor dem Eingang auf die Polizei zu warten. Doch die Ungeduld trieb ihn weiter. Er zündete sich eine Zigarette an und lief zwanzig Minuten lang wie in Trance über die Promenade zurück bis zur Polizeiwache im Rathaus, wo er am Fenster läutete. Ein junger Wachtmeister sah zum Schalter heraus und fragte nach seinem Begehr.
»Sie werden wohl gehört haben, was vorgefallen ist im Haus am Park Nummer 3«, stieß David erneut hervor, kalten Schweiß auf der Stirn: »Ich bin selbst der Täter.« In hastigen Zügen rauchte er zu Ende. Es fühlte sich so an, als wollten seine Füße, die ihn bis hierhin getragen hatten, jetzt versagen. Irgendwo sich ruhig niederlassen, verschnaufen nach den furchtbaren Erregungen der letzten Stunde, das war der einzige Wunsch, der ihn erfüllte. Aber an Ruhe war nicht zu denken. Noch glaubte ihm der junge Polizist nicht, forderte ihn auf zu beweisen, dass er Gustloff erschossen hatte. David griff in seine Manteltasche und holte den Revolver hervor. Jetzt begriff der Beamte, und er fragte erstaunt: »Sind Sie sich der Tragweite Ihrer Tat bewusst?«
»Ja, vollkommen. Und ich bereue auf keinen Fall, was ich getan habe. Ich hasse die Nazis inbrünstig, weil ich ein Jude bin.«
Der Polizist brachte David in den großen Sitzungssaal im Rathaus und informierte den Direktor des Deutschen Kriegerkurhauses, damit »ein kompetenter deutscher Zeuge« anwesend sein würde.
Irgendwann später wurde die Leiche gebracht, der Tod durch Schussverletzung der Halsschlagader und Bluteinbruch in die Hirnkammern festgestellt. Frau Gustloff traf ebenfalls ein. Sie wirkte gefasst, doch war an ihren roten Augen zu erkennen, dass sie geweint hatte. Als sie David sah, identifizierte sie ihn sofort: »Das ist der Täter!« In einer überraschenden Geste legte sie ihm die Hand auf den Kopf und sagte, noch unter Schock: »Sie sehen ja so gut aus. Sie haben so gute Augen! Warum haben Sie das getan? Haben Sie ihn denn persönlich gekannt? Wenn Sie ihn gekannt hätten, hätten Sie es nicht getan. Warum haben Sie es gemacht?! War es aus persönlichen Gründen?«
»Nein.«
»Aber warum denn dann?«, fragte sie mit wachsender Erregung.
»Weil ich ein Jude bin«, antwortete David ruhig. »Das sollte genügen.« Und sich an die Polizisten wendend: »Ich habe den Nazi-Agenten ermordet, weil er hier die Luft verpestet hat.« Da verlor die Witwe die Beherrschung. Dass es ausgerechnet ein Jude war, der ihren Mann umgebracht hatte, konnte sie nicht ertragen: »Der Jud, der Jud, der Jud«, schrie sie empört, konnte sich gar nicht mehr beruhigen und musste hinausgeführt werden.
Einer der Beamten brachte David in den Rathausturm, wo unterm Dach eine eiskalte, winzige Zelle wartete: »Eine Pritsche mit einem Strohsack, ein halb zerbrochener Wasserkrug und eine verbeulte Emailschüssel war die ganze Einrichtung. Durch ein kleines vergittertes Fensterchen blickten die Sterne herein.«
Die Davoser Blätter, die drei Tage nach dem Mord erschienen, berichteten in ihrem Leitartikel über das Parsenn Ski Derby, erwähnten die Bluttat jedoch mit keinem Wort, vielleicht weil sie sich auf Unterhaltungsthemen konzentrierten, ganz sicher aber auch, weil es nicht gut fürs Geschäft war. Das würde ja den Anschein erwecken, als sei man als Nazi in Davos nicht mehr sicher. Dafür hatte die Schweizerische Kreditanstalt, heute Credit Suisse, eine Annonce geschaltet, ebenso das deutsche Gymnasium Fridericianum: »Ideale Stätte zur Kräftigung der Jugend, Erreichung der gesundheitlichen und Schulziele ohne Zeitverlust. – Moderne, mustergültige, hygienische Einrichtungen. – Kranke ausgeschlossen.«
Die Schweiz verhielt sich gespalten. In Zürich wurde die Nachricht auf einer Massenveranstaltung frenetisch begrüßt, doch die meisten Eidgenossen schienen bekümmert: Würde es jetzt Ärger geben mit den Deutschen? In Davos machte man sich Sorgen um den Fremdenverkehr. Kein Schweizer könne der Mittäterschaft bezichtigt werden, da Frankfurter »als Jude und Slawe eine ganz andere Mentalität als die Schweizer« habe, versicherte Bundesrat Motta: »Wir sind aufs schwerste betroffen darüber, dass auf Schweizerboden eine Tat begangen wurde, deren Ruchlosigkeit eine Beleidigung der Traditionen unseres Landes bedeutet.« Der Davoser Bürgermeister, Landammann Erhard Branger, versandte ein Beileidsschreiben an das deutsche Konsulat in Bern: »Unheilvoller Fanatismus allein konnte den Täter zu seiner verabscheuungswürdigen Tat treiben, die unsere gastliche Erde befleckt hat. (…) Ich gebe dem Wunsche Ausdruck, dass das blinde Walten des Schicksals die gegenseitigen freundschaftlichen Gefühle von Land zu Land und Staat zu Staat nicht zu trüben vermöge.«
Die Nazispitze in Deutschland reagierte mit reger Anteilnahme auf das Attentat. Die braune Bewegung basierte auf dem Tod, benötigte ihn, denn aus vergossenem Blut wuchs der Hass, die verzweifelte Sumpfblüte des Nationalsozialismus. Hitler, Hess, Goebbels, Ribbentrop sendeten je ein Blumengebinde, und nachdem der Leichnam feierlich überführt worden war, fand ein Staatsbegräbnis statt, erst das zweite des »Dritten Reichs«, das erste hatte Präsident Hindenburg erhalten. Für die Veranstaltung unterbrach Hitler sogar seinen Besuch bei den geliebten Olympischen Winterspielen in Garmisch-Partenkirchen und reiste ins verregnete Schwerin, die Heimat des frischgebackenen »ersten Märtyrers der Bewegung im Ausland«, hielt bei der pompösen Trauerfeier eine Rede, die Thomas Mann in seinem Tagebuch als »wahren Schreikrampf von Unsinn und Lüge« bezeichnete. Ein riesiges Kreuzfahrtschiff der NS-Ferienorganisation Kraft durch Freude, das kurz darauf vom Stapel lief, deutlich größer noch als die Titanic, und das ursprünglich Adolf Hitler hätte heißen sollen, wurde in dessen Anwesenheit Wilhelm Gustloff getauft.
Gleichzeitig geschah etwas Ungewöhnliches. Die Schweiz wachte aus ihrem Dauerdämmer auf, besprach, was vorgefallen war, und zog Konsequenzen. Zwei Wochen nach dem Mord wurden Landesleitung und Kreisleitungen der NSDAP sowie alle Zellen verboten, sämtliche NS-Funktionäre des Landes verwiesen. Einen »Gauleiter Schweiz«, wie Gustloff ihn repräsentiert hatte, würde es nie wieder geben. Dieses Ziel hatte David Frankfurter erreicht, der von einem Gericht in Chur 18 Jahre Haft bekam, aber 1945 begnadigt wurde – und nach Israel zog.
Ein Denkmal wurde dem jungen Widerstandskämpfer bis heute nicht errichtet. Als sich 2021 in Davos eine Initiative für eine Gedenktafel bildete, wurde der Vorschlag vom Kleinen Landrat abgelehnt. Das Attentat sei »zu komplex, um auf einer Infotafel zusammengefasst zu werden«.