World Economic Fiction

Die Aussage meiner Tochter, einfach nur reich werden zu wollen, wurmte mich. Von mir hatte sie ein solches Ideal nicht – und auch ihre Mutter lebte für andere Ziele. Hatte das Gespenst des Kapitalismus Suki und ihre Freundinnen heimgesucht? Ich hatte als Jugendlicher mein Leben als politisch aufgefasst, mich hier und dort engagiert, bei Greenpeace oder Amnesty International, ob dies nun sinnvoll war oder nicht. Aber so etwas interessierte Suki nicht die Bohne. Offenbar machte sie sich hinsichtlich eines sozialen, klimatischen oder generell politischen Engagements keine Illusionen. Hatte das damit zu tun, dass unser gegenwärtiges System konkurrenzlos schien? Waren Alternativansätze genauso vom Aussterben bedroht wie zahllose Tier- und Pflanzenarten?

Ich spazierte vor dem Dinner durch die Dämmerung vor dem Hotel und sah hinunter ins Tal. Dabei fiel mir eine ältere Dame mit bläulich gefärbtem Haar auf. Wie sich herausstellte, war sie eine echte Davoserin, und nachdem wir ins Gespräch gekommen waren, erzählte sie mir, sie sei nur ausnahmsweise mit der Standseilbahn zur Schatzalp hochgefahren, um mit ein paar angereisten Freunden zu Abend zu essen. Normalerweise wäre das nichts für sie, dieser Luxustrubel. Dann erzählte sie mir vom World Economic Forum, und ich horchte auf.

Was sie dabei immer wieder verwundere, meinte sie, während ihr Haar einen unwirklichen Schimmer in die Dunkelheit zauberte: Es handle sich bei dieser Veranstaltung nicht, wie man aufgrund des Namens vermuten könnte, um eine offizielle, von staatlicher Stelle getragene, sondern sie sei privat organisiert, und zwar von einem Deutschen, wie könnte es anders sein: Klaus Schwab hatte ebenso wie Suki als Jugendlicher das Skifahren in Davos gelernt und war dem Ort verbunden geblieben. Durch die Teilnahme zahlloser Staatschefs, Stars aus der Unterhaltungsindustrie sowie der reichsten Menschen des Planeten hatte sein WEF, wie die Abkürzung lautet, die die Dame mit dem blauen Haar wie ein Hundekläffen aussprach, mittlerweile den Nimbus des wichtigsten Treffens der Welt erlangt, das für fünf Tage im Jahr Davos zu deren Nabel macht.

Der Werbeslogan des neoliberalen Zusammenschlusses, dessen Träger etwa eintausend globale Unternehmen mit je milliardenschweren Umsätzen sind, lautet: »Committed to Improving the State of the World« – Verpflichtet, den Zustand der Welt zu verbessern. So stünde es dann auf allen Bannern, die von den Straßenlaternen zwischen Bahnhof und Belvédère hängen, von jeder Wand jedes Konferenzraums würde es verkündet, und auch auf der Schatzalp sei es zu lesen, sagte die Frau, und ich merkte, wie sie damit bei mir auf einen Nerv traf.

Dass die Welt Verbesserung dringend benötigt, weiß mittlerweile jedes Kind, von Teenagern ganz zu schweigen. Doch die Dame ließ sich in ihrer Tirade nicht bremsen und berichtete mir erbost, dass die Schüler des Ortes während des WEF nicht zum Unterricht dürf‌ten, aus Sicherheitsgründen. »Sie nehmen unsere ganze Stadt ein«, sagte sie und schaute mich mit ihren durchdringenden Vogelaugen an. »Wir können uns nicht mehr frei bewegen, und wer in der roten Zone wohnt, muss andauernd um Absperrungen herumturnen und sich ausweisen. Was für eine Gefahr soll es da die ganze Zeit geben? Am ehesten wohl, dass die Bauernfängerei auffliegt. Hauptsache, unsere Schweizer Luftwaffe darf sich einmal wichtig nehmen und zeigen, dass es sie überhaupt gibt!«

Nachdem wir uns verabschiedet hatten, beschloss ich, mich etwas einzulesen über jene Veranstaltung, und stieß dabei schnell auf die widersprüchlichsten Artikel, doch ein paar rote Fäden schienen sich durchzuziehen. Kontrovers diskutiert wird beispielsweise die ökologische Bilanz des Treffs, bei dem unzählige Helikopter im Einsatz sind und Tausende von Limousinen tage- und nächtelang mit laufenden Standheizungen die hässliche Durchgangsstraße verstopfen, zu der die ehemalige Promenade herabgesunken ist. Der Vorwurf der WEF-Opponenten zielt aber vor allem darauf ab, dass die einflussreichen Akteure bei ihrem Stelldichein die globale Misere nicht etwa verbesserten, sondern das Gegenteil täten, weil nämlich dies ihren finanziellen Interessen entspräche. Mitunter tauchen sogar Verschwörungstheorien auf, die von geheimen Weltbeherrschungsplänen schwadronieren, die hinter verschlossenen Türen der Schatzalp und anderer Kongressorte ausgeheckt würden, um nach Ende der Coronapandemie oder ähnlichen Katastrophen eine neue Ordnung zu installieren, die die Menschen entrechtet und für lückenlose Überwachung und Ausbeutung sorgt. Für solche radikalen WEF-Kritiker ist Klaus Schwab das personifizierte Böse. Doch die Wirklichkeit scheint weniger okkultistisch: Hier treffen sich keine Geheimbünde, sondern Führungskräfte, CEOs, Unternehmensberater, Risikokapitalgeber, Hedgefonds-Manager, deren monetäre Bedürfnisse sich alle überschneiden – und die deshalb inmitten der globalen Verwirrung und schwachen bis korrupten Regierungen untereinander ausbaldowern, wie sie Einfluss auf die Gesetzgebung ausüben können, um ihren Reichtum weiterhin zu vermehren, die Bilanzen zu bessern, ihre Aktionäre zufriedenzustellen: kein Hokuspokus, sondern business as usual. Wer fünf Tage lang auf einem Rockerfestival ist, läuft am Ende wie ein Rocker durch die Gegend – der Weltelite, die knapp 30000 Dollar pro Eintrittsticket bezahlt, geht es ähnlich. Sie stecken sich mit ihren Ideen zur Geldvermehrung alle gegenseitig an.

Am gleichen Ort, wo einst der radikale Pazifist Albert Einstein seinen Eröffnungsvortrag der Davoser Hochschulkurse hielt, greift während des WEF Pop-Bozo Bono zum Mikro, bezeichnet den Kapitalismus zwar als »wilde Bestie«, die gezähmt werden müsse, verleiht aber der Ansammlung von Milliardären durch seinen Aktivisten- und Promistatus Glaubwürdigkeit, lässt sich zu seinem aufrechten, kritischen Talk gratulieren sowie dazu, es »geschafft« zu haben – und gesellt sich an die Champagner- und Hummerbar, über der »Growth Forever« geschrieben steht, um ein Canapé mit Michelin-Stern zu mampfen. Geld essen Seele auf.

Was mir dabei immer klarer schien: Der Zauber des WEF lässt sich auf einen so simplen wie effektiven Trick zurückführen. Da die mächtigsten Menschen der Erde der Einladung von Klaus Schwab folgen, empfinden auch andere wichtige Leute den Impuls zu erscheinen, ob Finanzhaie, sogenannte Künstler oder Aktivisten, spielt dabei keine Rolle, gesehen werden ist alles. Selbst jene mit den vollsten Terminkalendern schaufeln sich die paar Januartage frei, um sich aufzuladen in der Elektrizität der Fiktionsmetropole Davos – und um zu verkünden, dass im Kapitalismus mit menschlichem Antlitz das Heil zu finden sei. Das Wort »Nachhaltigkeit« auf den Lippen, entsteigen (meist) Männer ihren Dienstwagen und erinnern geisterhaft an die kommunistischen Bonzen des Ostblocks der späten Achtzigerjahre, die besoffen etwas von Weltfrieden und Gleichheit aller Menschen faselten. Dabei ging es auch denen stets um Macht und die Ausübung von Gewalt. Thomas Mann würde über so viel Geschmack- und Stillosigkeit wohl die Hände über dem Kopf zusammenschlagen. Ernst Cassirer müsste vielleicht einsehen, dass sein humanistischer Optimismus wirklich fehl am Platze war und der antizivilisatorische Heidegger mit seinem todessehnsüchtigen Kampf aller gegen alle womöglich tatsächlich der zeitgemäßere Denker war.

Tatsächlich wirkt die lockende Exklusivität des WEFs wie ein Spiegelbild unserer Gesellschaft: So wie sich der privilegierte Norden vor den von Kapitalismus und Klimawandel gebeutelten Massen des globalen Südens mit Nato-Draht abschottet, wird dies beim WEF en miniature zelebriert – um Zeichen zu setzen für die Welt von morgen, mit der Angst vor Ausgrenzung zu spielen, gekoppelt mit dem Payback, sich an einem Ort wiederzufinden, der die eigene Existenz mit Bedeutung auf‌lädt, ihr einen Platz in der globalen Geschichte zuweist.

Davos, dieser Schauplatz für Geschäftsabschlüsse und strategisches Networking, fungiert dabei als Ort, an dem sich die Angreifer in Stellung bringen, um weiteres Territorium zu erschließen, sich Reichtümer anzueignen – und diese auf Insta fröhlich mit allen zu teilen, nicht aber in der wirklichen Welt. Werte werden gesetzt und über die Medien transportiert – mit einer solchen Reichweite, dass es auch bei Suki, Lana und Lone ankommt. Es ist die vielleicht größte Lobbyaktion der Erde, das effektivste aller Propagandabüros, bei der die ultimativen Gewinner hinter verschlossenen Türen die Regeln für ihr weiteres Wohlbefinden vereinbaren. Es passiert dabei nichts Ungesetzliches, da sie die Gesetze und globalen Regularien mit den gleichfalls angereisten Entscheidungsträgern ebendort gleich gestalten.

Doch was sind die konkreten Ziele der jährlichen Selbstfeier – worum geht es im mit Maschinengewehr gesicherten Kongresszentrum sowie am Ende der Nacht in den Champagner-reihernden VIP-Bereichen? Weniger Steuern, lautet die ernüchternd einfache Antwort. Anstatt entsprechende Anteile an die öffentliche Hand weiterzureichen, die durch die Bereitstellung der Infrastruktur – Transportsysteme, Bildungseinrichtungen, Gesundheitsversorgung und vieles mehr – solche Gewinne erst ermöglicht, gelingt es den Top-Unternehmen, ihre Zuflüsse global zu verschieben, sodass am Ende nur wenig in die gemeinschaftlichen Kassen zurücktröpfelt. Dieses Geld fehlt an allen Ecken und Enden, ob es Ausgaben für die Armen sind, Investitionen in Schulen oder der Schutz der Natur, der Zugang zu sauberem Wasser. Prekäre soziale Situationen entstehen und begünstigen den Aufstieg der populistischen Rechten. Der ungeheure Gewinnzuwachs kommt am Ende nur jenem »Davos Man« zugute, wie der Wirtschaftskorrespondent der New York Times, Peter S. Goodman, die neue Spezies der Superreichen nennt, nicht der Masse an Arbeitnehmerinnen, die anstelle ökonomischer Absicherung mit steigender Inflation und einem härter werdenden Verdrängungswettbewerb zu kämpfen haben. Fakt ist: Die Rassen- wie Klassenunterschiede verstärken sich weltweit, und im Jahr 2030 wird die Zahl der Menschen, die täglich Hunger leiden, die Milliardengrenze überschreiten. Dies führt zu neuen Flüchtlingswellen, und diese schüren die Angst bis hin zum Hass, der sich gegen alles Mögliche richtet, ob es Neuankömmlinge sind oder andere Randgruppen wie die Juden – bislang aber nicht gegen die Superreichen selbst, für die das WEF ein Heimspiel darstellt, die Möglichkeit bietet, den Status quo beizubehalten, auszubauen.

Von meinen Recherchen erschöpft, bequemte ich mich auf den Liegestuhl auf der Loggia und blickte ins Tal. Der Zustand der Welt schien wirklich besorgniserregend, nur eines war klar: Schriftsteller, die über Davos schreiben, sind bei Weitem nicht die Einzigen, für die sich ein Aufenthalt hier in steuerlicher Hinsicht rentiert.