Tanz auf dem Zauberberg

Das Tal hatte sich längst mit Schatten gefüllt, und obwohl es erst Nachmittag war, dunkelte es in dem weißen Zimmer. Die Schneefelder auf den Bergen gegenüber, die ihrem erdhaften Untergrund, der so ruhig und sicher steht, etwas Durchgeistigtes, Inneres, Zartes verliehen, glühten noch einmal auf, und dort drunten lag dieser merkwürdige Ort, in dem so unproportional viel gestorben und geweint, gedacht, gedealt und auch geliebt worden ist. Hier war Europa ganz bei sich: ein weißer Vogel, schwebend in der Luft, ein Platz gewesener Freuden und möglicherweise auch die Wiege neuer Hoffnungen.

Ich lag auf meiner Liege, schrieb und dachte an Emma, die vielleicht schon im Zug von Zürich hierher saß, im Restaurantwagen, den sie am liebsten nahm, wo sie einen Kaffee trank oder ein Glas Veltliner, falls es keine französischen Weine gab. War dies die Wende? Von Heirat hatte sie noch nie gesprochen, wenngleich häufiger versichert, dass sie sich von ihrem Mann trennen würde, um mit mir sein zu können. Ich spürte, dass es eine Chance gab, eine gute sogar, und hoffte es inständig, da ich ihr so viel mitzuteilen hatte … Bis ans Ende des Lebens gab es Dinge mit ihr zu besprechen, und war die Liebe nicht genau das: ein Dialog, der nie langweilig wurde, sondern sich ständig aus sich selbst heraus erneuerte? Immer wieder stellte ich sie mir vor, während ich dalag und in die Berge schaute. Ihre mitunter schlaffe, durchaus schlechte Haltung, die aber von einer innerlichen Gespanntheit und Aktivität begleitet wird – und tatsächlich an Clawdia Chauchat erinnert, von der ich gerade eine Passage gelesen hatte: ihr rotes Haar, die glänzenden, tief‌ liegenden Augen wehmütig umschattet, mit weiten Pupillen, der Körper dünn, durchscheinende Haut, zarte blaue Äderchen.

Wenn einst die Schwindsucht als elegante Krankheit gegolten hatte, da man sie von außen nicht sah, sie das Erscheinungsbild eines Menschen sogar verfeinerte, traf dies auf die Depression, unter der Emma litt, möglicherweise ebenfalls zu. Emma war elegant, und die fahle Blässe ihres schmalen Gesichtes, dessen Züge aufgrund leichter Abmagerung hervortraten und scharf geschnitten wirkten, wechselte häufig mit plötzlichem Erröten ihrer Wangen – einer sie überfallenden Überaktivität, dazu ihr perlendes, schwunghaftes Lachen, gepaart mit hingebungsvoller Resignation, vom herzförmigen Hintern ihrer knabenhaften Figur ganz zu schweigen. Wenn Tuberkulose euphorische Zustände auslösen konnte und sogar aphrodisierend gewirkt, außerordentliche Verführungskünste verliehen hatte, so erinnerte auch dies mich an das Subjekt meiner Begierde, ihre leichte Ansprechbarkeit, ihr bewegliches Gemüt. An ihre Vergeistigung, die zu sexueller Raffinesse führte – ihre stark ausgeprägte Gabe zu empfangen: Sie war dann ganz da. Aber ich wusste, dass auch bei ihr diese Lebhaftigkeit mit innerer Zerrüttung gekoppelt war und dass sie genauso gut auch ganz weg sein konnte. Gerade dies machte sie ja so reizvoll.

Bewusst heizte ich meine Sehnsucht nach Emma an und stellte mir vor, dass sie dies mitbekam – und im Gegenzug für mich brannte. So feinstofflich ist nämlich die Liebe. Diese Sehnsucht war allerdings auch eine Sucht, und ich hatte beschlossen, Letztere an diesem Wochenende zu besiegen, sie hinter mir zu lassen. Ich brauchte das nicht mehr. Entweder würde es zur Erfüllung kommen und einem neuen Abschnitt in meinem Leben, oder ich würde mit dem Emma-Kapitel abschließen, die Buchseiten dieser Liebesgeschichte zuklappen, um frei zu sein für etwas Neues.

Unwillkürlich musste ich an Heidegger denken, diesen schrecklichen Philosophen, den ich noch nie hatte lesen wollen, weil mir seine Sprache unanständig kompliziert erschien – und vor allem, weil mich sein Engagement für die Nazis abstieß. Doch gab es etwas, das tiefer in Heidegger lag, und dies schien mir das Interessante, auch für meine aktuelle Situation. Diese melancholische, angedunkelte Stimmung, die er ausstrahlte, kam nicht von ungefähr, sondern korrespondierte mit jener kaum lösbaren Herausforderung der menschlichen Existenz: äußerlich begrenzt zu sein, zum Scheitern, zum Sterben verurteilt, innerlich jedoch unendlich. Hineingeworfen in die Welt – so hatte er es wohl formuliert.

Fiebrig fühlte ich mich, ich musste aufhören, so viel zu denken, mich beruhigen. Wieder blickte ich auf mein Telefon. Um sicherzugehen, wie viele Minuten blieben, bis das Abendessen begann, das wir gemeinsam einnehmen wollten – ganz so wie Thomas mit Katia an seinem ersten Tag in Davos –, ging ich auf den Flur, wo mittig von der Decke die alte runde Siemens-Uhr hing, genau wie vor 125 Jahren. Noch immer funktionierte sie und zeigte an, dass es bald Zeit war, den Speisesaal aufzusuchen. Tatsächlich war ich nicht der Einzige auf dem langen Gang; es herrschte reges Treiben: Damen und Herren unterschiedlichen Alters kamen aus ihren Zimmern, strebten zum Aufzug oder zu den Treppen. Ich ging in mein Zimmer zurück, in dem ich diese schönen Tage mit Suki verbracht hatte, dachte an sie und vermisste sie sehr. Dann legte ich im Bad Abendtoilette an, wie es im Zauberberg heißt.

Wenige Minuten später lief ich in meinem maßgeschneiderten Anzug nach unten und betrat den Speisesaal, da ich hoffte, dass Emma mich vielleicht überraschen wollte – dass sie einfach dasaß, lächelte und auf mich wartete. Doch es dauerte nicht lange, bis ich realisierte, dass genau das eintrat, was ich befürchtet hatte: Emma war nirgendwo zu sehen. Ich holte mein Handy aus der Tasche meines Jackets, und tatsächlich: Da war eine Nachricht von ihr. Und jetzt wurde ich depressiv.

Noch vor dem Essen verließ ich den Speisesaal, mit schlenkernden Armen, um irgendwie Energie rauszulassen, mich abzureagieren. Ich ging in das ehemalige Röntgenkabinett, die Bar, die um diese Uhrzeit leer war, da alle speisten. Zu meiner Verwunderung stand der Fremdenführer mit dem Pilzohrring hinter dem Tresen, und ich setzte mich auf einen Barhocker vor ihn hin.

»Meine Güte, für ein gutes Getränk würde ich jetzt alles geben.« Ich rieb mir mit den Händen durchs Gesicht.

»Sehr gerne. Bierchen? Geht aufs Haus.«

»Vielen Dank. Nein, ich brauche etwas Stärkeres. Wie wär’s mit einem Bourbon auf Eis?!«

Er drehte sich zu den sauber aufgereihten Flaschen um. »Kein Problem.«

»Ich habe hier jemanden erwartet«, sagte ich. »Doch sie ist nicht gekommen. Deshalb war es vollkommen absurd, dass ich geblieben bin. Ich hab’ meine Tochter mit Freunden alleine nach Hause fahren lassen deswegen.«

»Tut mir leid, das zu hören«, sagte der Fremdenführer und stellte den Drink vor mich.

Ich setzte das Glas an und trank es in einem Zug leer. »Ich hab’ mir mal vorgenommen, falls es aus ist, mit der, die jetzt nicht gekommen ist, geh’ ich auf den Berg, auf irgendeinen Gipfel, um die Geschichte dort oben hinter mir zu lassen. Es sollte zwar der Himalaya sein, das hatte ich mir so vorgestellt, aber … wie heißt der Gipfel hier oben?«

»Strela«, antwortete der Fremdenführer. »Knapp zweisieben. Schaffst du in zwei Stunden.«

»Schwieriger Aufstieg?«

»Wenn du auf Schneefelder triffst, geh’ drum rum. Einfach hinter dem Hotel dem Thomas-Mann-Weg folgen, dann immer weiter hoch.«

»Dem Thomas-Mann-Weg?«

»Ja, nicht zu verfehlen. Soll aber schlechtes Wetter geben morgen«, sagte er. »Musst du ein bisschen aufpassen.«

»Schlechtes Wetter? In Davos?« Heiser lachte ich. »Komm, gieß noch einen ein!«