Schnee

Der Thomas-Mann-Weg war leicht zu finden und führte in wenig herausfordernden Schleifen bergan. Nach einer guten halben Stunde Wanderung hörte ich Schüsse. Wie eine Maschinengewehrsalve kam es von oben, zerriss die Stille. Jäger? Doch das Trommelfeuer wurde immer lauter, nahm derart an Intensität zu, dass ich Menschen als Ursache ausschloss. Das war etwas anderes: Steinschlag! Ich hatte darüber gelesen, solche Rutsche häuf‌ten sich in letzter Zeit, angeblich hatte das auch mit der Klimaveränderung zu tun, wohl mit dem Abschmelzen der Gletscher, das dazu führte, dass das Wasser nicht mehr oben gehalten wurde, sondern unkontrolliert die Hänge hinabfloss, den Berg unsicher machte, ins Rollen und Abgleiten brachte. Jedenfalls hörte es sich an, als schösse der Berg, als ballere er in der Gegend herum, und ich beschloss, vorsichtig zu sein.

Nach einer Weile hatte ich den Abschnitt, in dem noch hässlich die Stahlstelzen des geschlossenen Skiliftes aus dem matschbraunen Boden ragten, hinter mir gelassen, und es ging recht steil nach oben. Gut so, dachte ich: So gewinne ich rasch an Höhe. Ich hatte mir einiges vorgenommen für den Gipfel: Ich würde mich von Emma lösen, ihr alles Gute wünschen, mich frei machen für die Zukunft, alleine schon aus Verantwortung für meine sensible Suki. Doch ich musste höher dafür, viel höher: Überblick gewinnen. Ich musste wirklich verstehen, was in meinem Leben los war.

Wenn nur der Weg dorthin nicht so anstrengend gewesen wäre! Es fühlte sich in etwa so an, als ob ich in Berlin in irgendeinem Mietshaus die Treppen bis nach oben stieg, aber nicht in den fünf‌ten, sondern in den fünfhundertsten Stock. Ich hatte die Aktion unterschätzt, nicht einmal die Thermowäsche angelegt, die ich beim Skifahren trug, sondern war, noch leicht verkatert, in meiner tarnfarbenen Jogginghose losgestiefelt, Baumwoll-T-Shirt, Pulli, Winterjacke. Auch keinen Schal oder Mütze, nur die Basecap, auf der ein Spruch von Herman Melville stand: »I would prefer not to«, aus seiner Novelle Bartleby. Das T-Shirt war bereits durchgeschwitzt und klebte mir klamm am Körper, das Herz hämmerte in meiner Brust, so heftig vielleicht wie das von Klabund, wenn er Liebe machte mit Carola Neher.

Ich schaute, während es immer steiler wurde, bevorzugt nach unten, auf meine Füße: wie sie meinem Willen gehorchten, immer weiterstapf‌ten, wodurch der ganze Körper kontinuierlich an Höhe gewann. Sobald ich die Augen von den Wanderstiefeln löste und nach vorne richtete, sank mir allerdings der Mut angesichts der Bergflächen, die sich vor mir erhoben, und es lag da immer mehr Schnee. Wenigstens schien noch die viel gerühmte Davoser Sonne und half mir, motiviert zu bleiben. Doch als ich den nächsten Grat erreichte, schlug mir ein Wind entgegen, der bis ins Mark fuhr. Hätte ich Tuberkulose gehabt, wäre ich wohl auf der Stelle dahingeschwunden; so in etwa müssen sich die beiden ersten Patienten gefühlt haben, als sie im Winter 1865 verfroren und verdattert das eisige Davos erreichten. Doch litt ich nicht an Schwindsucht, meine Konstitution war gut, also stellte ich mich den Böen und stieg weiter, während der Himmel sich allmählich zuzog. Grimmig geballt schwebten bald die Wolken dort droben, gleichsam fragil, als ob sie an einem seidenen Faden hingen, eine Last trügen, die sie nicht mehr lange halten konnten. Es würde doch nicht etwa schneien?

Mehrmals lief ich durch Mulden, in denen vor Kurzem wohl Tiere genächtigt hatten, Spuren ihres Fells noch im Schnee, die mich an die Fetzen des Harris-Tweeds der Knickerbocker von Conan Doyle denken ließen, die er bei seiner von Stürzen begleiteten Talfahrt von der Maienfelder Furgga nach Arosa verloren hatte, nur wenige Hundert Meter Luftlinie von hier entfernt. Ob sie wohl immer noch dort zu finden waren, diese Fäden und Spuren seines jüdischen Schneiders aus der Londoner Oxford Street?

Jetzt stand ich vor einem der Schneefelder, vor denen der Fremdenführer mich gewarnt hatte, und da sich die Perspektiven in der hochalpinen Weite trügerisch verschieben, war ich unsicher, wie weit es sich in beide Richtungen erstreckte. Dahinter stieg eine Felswand steil an, und ebendort erblickte ich die nächste Markierung. Wie ich dahingelangen sollte, durch die gleißende Weiße, war mir schleierhaft: Ein falscher Schritt, und ich sackte womöglich metertief weg. Aus irgendwelchen Gründen kam mir bei dieser Weiße erneut Heidegger in den Sinn – so etwa, dachte ich, hat er sich vielleicht gefühlt, als er zum ersten Mal nachgedacht hatte. Oder der Maler Kirchner, vor einer großen, leeren Leinwand. Oder Thomas Mann, als er die erste Seite seines Zauberbergs schrieb.

Mir war klar, ich musste einen Umweg nehmen. Linker Hand, etwas oberhalb, sah ich Vegetation: krautige Pflanzen, geduckte Sträucher. Sie führten in einem weitschweifigen Bogen um das Schneefeld herum zur Felswand. Doch brachte dieser Umweg, der mich Zeit und Kraft kostete, weitere, ihm eigene Schwierigkeiten mit sich: neue Schneeabschnitte nämlich, die ich zunächst nicht hatte sehen können. Immer wieder stoppte ich, wenn ich einen Felsbrocken erreichte, der aus dem Weiß ragte, und schabte mit dem Zeigefinger die Eisbröckchen aus dem Innenschaft der Wanderstiefel. Meine Socken waren längst pitschnass. Seit ich mich nicht mehr auf dem ausgewiesenen Pfad befand, beschlich mich ein ungewohntes Gefühl: die Furcht, mich zu verlieren, denn den Wanderweg konnte ich nirgendwo mehr entdecken. Das Landwassertal lag unfassbar weit unter mir, und gerade kam, wie eine Modelleisenbahn, ein Zug der Rhätischen Bahn gefahren, geradeso, wie es Holsboer einst organisiert hatte.

Pfiffe hörte ich plötzlich, durchdringende. Zunächst glaubte ich, es handele sich um Vögel, doch gab es hier keine Vögel mehr. Machten Berg und Wind diese Laute? Da stand vor mir, aufrecht wie eine Eins, ein Murmeltier, nur wenige Meter entfernt. Unverwandt blickte es mich aus seinen schwarzen Augen an und zitterte, blieb aber standhaft und pfiff erneut mit einer gellenden Entschiedenheit, die komisch wirkte, an einen aufgebrachten Schiedsrichter beim Fußball oder Eishockey erinnerte, beim Spiel Davos gegen Zürich vielleicht, das David Frankfurter gesehen hatte. Obgleich das Murmeltier sicher Respekt vor mir hatte, sonst hätte es ja nicht gepfiffen, hielt es die Stellung, versteckte sich nicht, sondern riskierte sein Fell, um seine Gefährten zu warnen: Achtung, ein Mensch!

Oder lag die Sache vielleicht anders – wollte das Tier womöglich mich warnen? Waren diese energischen Laute vielleicht der Abpfiff, weil das Spiel für mich an dieser Stelle vorbei war? Ich bekam nämlich soeben die erste Flocke ab, und wenn es nicht erneut Steinschlag war, kam das Rumpeln, das ich ebenfalls vernahm, von einem sich nähernden Gewitter. Das Murmeltier pfiff noch immer, und jetzt gesellte sich seinen Äußerungen der Wind bei, der an der Felswand entlangstrich, Wirbel erzeugte: heulte, und da blies es mir die Baseballmütze so weit vom Kopf, dass an ein Hinterherklettern nicht zu denken war. Aufgeschreckt verschwand das Murmeltier, rasch zog ich die Kapuze meiner Jacke über, verschnürte sie unterm Kinn, doch schränkte dies mein Sichtfeld ein, was problematisch war, da ich bei jedem Tritt achtgeben musste, nicht umzuknicken. Anders als Thomas Mann, der seinen Hans Castorp ja nur erfunden hatte, begab sich die Hauptfigur meines Zauberbergs offenbar tatsächlich in Gefahr, denn ich war es ja selbst. Hatte ich komplett den Verstand verloren? Ich war Vater, mit Verantwortung im Tief‌land, und in mir disputierten jetzt leidenschaftlich Heidegger und Cassirer: Komm, noch weiter hoch! Die Existenz ist eine Herausforderung, der mit Mut begegnet werden muss, so rief der eine – während der andere zum Maß gemahnte und mit erhobenem Zeigefinger auf die dunklen Wolken wies.

Da sah ich ihn: den Gipfel. Doch der Schnee fiel immer dichter, und die rot-weißen Markierungen, recht weit voneinander auf den Fels gepinselt, zeichneten sich kaum noch ab gegen diese Decke des Weiß, diese Knochenfarbe, die der Hang annahm. Dass ich umdrehen musste, diesen Gipfel niemals erreichen würde, stand plötzlich außer Frage. Rückzug war angesagt, und ich versuchte, den Weg zu nehmen, den ich gekommen war, doch auf einen Schlag hatte ich in dem Gestöber die Orientierung verloren. Im Zickzack stapf‌te ich durch den tiefen Schnee, setzte einen Fuß vor den anderen und gewann an Tiefe. Die Flocken flogen mir massenweise ins Gesicht, schmolzen dort, brannten auf meiner Haut, und ich konzentrierte mich auf die simple Aufgabe: noch einen Schritt, noch einen – und noch einen. Die einzige Gewissheit, die es gab, war jene, dass ich nach unten wollte, zurück zu Suki.

Plötzlich sah ich etwas, das sich vom Boden abhob, eine von Menschen errichtete Baulichkeit. Auch wenn ich mir nicht vorstellen konnte, dass sich dort jemand aufhielt, schien dieser Schuppen Zuflucht zu versprechen, und ich hielt darauf zu, gegen den Wind. Ein Heuschober mit steinbeschwertem Dach war es, die Tür verschlossen, ich warf mich dagegen: Krächzend sprang sie auf. Sofort schloss ich sie hinter mir, um den Schnee fernzuhalten, stützte meine Hände auf den Knien ab und verschnauf‌te. Es war etwas wärmer hier drin, wenn auch nicht viel, und ob ich die Nacht überstehen würde, wusste ich nicht. Immerhin gab es Heu, ein paar Holzscheite, eine Axt. Ich setzte mich auf einen Schemel. Da sah ich etwas: eine zerknitterte Packung Zigaretten, eine Streichholzschachtel. Ich rauche normalerweise keinen Tabak, doch plötzlich fiel mir ein, dass … Aufgeregt kramte ich in meinen Jogginghosentaschen und fand es: das letzte Restchen Haschisch des Fremdenführers mit dem Pilzohrring. Ich öffnete das Zigarettenpäckchen, das uralt war und mich an David Frankfurter denken ließ, doch befand sich kein Attentatsplan darauf, nur der Hinweis, dass Rauchen tödlich sei, nahm ein Exemplar der obersten Lage heraus, pulte etwas von dem vertrockneten, bröseligen Tabak weg, um Platz zu schaffen für einige Bröckchen Hasch, riss ein Zündholz an und setzte den improvisierten Joint mit einigen hingebungsvoll paffenden Zügen in Brand.

Da befand ich mich also, im Tempel der Initiation, wie Hans Castorp. Würde sich mein Leben verändern? Unter mir lag das Tal, die Fiktion Davos, die sich in so viel Realität verwandelt hatte. Dieser Schober, der mir Schutz bot, war mein Gipfel, und ich dachte nach, während der Joint mich entspannte: Wie also stand ich zu Emma?

Was sie war, in meinem Kopf zumindest: ebenfalls eine Fiktion. Eine Geschichte, die ich mir zurechtgebastelt hatte, doch Geschichten, also Beziehungen, funktionieren nur, wenn beide on the same page sind, wie es die englische Sprache so schön trifft. Doch mit Emma war das nicht so.

Ich musste erkennen: Es gab da die reale Emma, und die liebte offenbar ihren Mann und brachte es nicht übers Herz, sich von ihm zu trennen, die Kleinfamilie zu sprengen, stuf‌te diesen Teil ihres Lebens als wichtiger ein als das rauschhafte Abenteuer mit mir, das vielleicht lediglich die Funktion erfüllte, Dampf ablassen zu können. Und mein Ideal von der Liebe des Lebens, das ich in unserer Beziehung erkannt zu haben glaubte, hatte alles so schwer gemacht.

Hand aufs Herz: Emma war facettenreich, genau das liebte ich ja an ihr. Ich musste all ihre Seiten, auch solche, die mir weniger gefielen, nicht nur akzeptieren, sondern auch schön finden. Das war Liebe. Ich wünschte ihr alles Gute mit ihrem Ehemann, ihrem Kind, ihrer Familie, ließ sie frei – und ebenso mich selbst.

Ich würde als ein anderer ins Tal zurückkehren, zu Suki. Ich würde mich lösen von dieser Hyperromantik, die noch nie funktioniert hat. Um Ebenen ging es, um Flächen: Nicht mehr die vergeblichen Gipfel anstreben, der Zauberberg war vor allem an seiner weiten Basis interessant, an der das Leben und echte Liebe möglich waren. Wo sich Beziehungen bilden konnten, um mit Vorsicht und Rücksichtnahme das Dasein einfacher, schöner zu gestalten, sich gegenseitig zu unterstützen. Nicht die Vernunft, nur die Liebe ist stärker als der Tod, da hatte Thomas Mann schon recht gehabt, doch auch die Liebe ist Vernunft. Weniger von ihr zu verlangen bedeutete vielleicht, mehr zu erhalten.

Ich riss die Schobertür auf. Es hatte zu schneien aufgehört! Dies war also ein Zauberberg, und ich machte mich, während ich über ein geeignetes Schlusswort für meinen geplanten Bericht an das Kreuzberger Finanzamt nachdachte, an den Abstieg. Suki, die hatte jedenfalls recht gehabt.

 

 

Feierabend