Meine Vermutung bestätigte sich: Vor gar nicht allzu langer Zeit hatte es in diesem Tal vollkommen anders ausgesehen, und der Umschwung war zeitlich genau zu bestimmen, ebenso die Person, die dafür verantwortlich war. Als im Jahr 1853 der abgebrannte, wegen seiner Beteiligung an der gescheiterten Märzrevolution in Deutschland gesuchte und in Abwesenheit sogar zum Tode verurteilte 23-jährige Medizinstudent Alexander Spengler, ein gebürtiger Mannheimer, in das schwer zugängliche Davos flüchtete – davo ist Rätoromanisch und bedeutet dahinter –, war dieser abgeschiedene Ort vollkommen unbekannt, ein Kaff wie viele andere und von bitterer Armut geplagt. Fünf Jahre zuvor hatten die Erzgruben im nahe gelegenen Silberberg schließen müssen; seitdem war der wirtschaftliche Tiefpunkt erreicht. Vom Strom, dieser revolutionären Technik, hatten die Leute hier noch nicht gehört, das Wasser wurde aus Brunnen geschöpft, die Frauen kochten in verrußten Töpfen über der offenen Feuerstelle, spannen Wolle, nähten die Kleidung selbst, die Männer spalteten Holz für den Ofen in der Wohnstube, geschlafen wurde auf Strohlagern. Die Fugen der Wände waren mit Moos zugestopft, damit es nicht so zog, Plumpsklos klebten an den Rückseiten der Scheunen.
Damals tagte kein Weltwirtschaftsforum, stattdessen kam jedes Jahr vor Ostern, wie auch in anderen Alpendörfern, ein waschechter Sklavenhändler vorbei, »schritt von Hütte zu Hütte und pochte an die kleinen Fenster. (…) Bei seinem Anblick weinten viele Kinder und nahmen Abschied von den jammernden Müttern und Geschwistern und von den Vätern, von denen mancher auch mitweinte. Ach, war das ein Händeringen, als der bärtige Mann an die Fenster klopfte! Und hinter den Fenstern, wie sah es da so armselig aus! Die Kartoffeln mit ein wenig Salz auf dem blanken Tisch, das war das Abschiedsmahl.«
Ob der Asylant Spengler mit eigenen Augen gesehen hat, wie die elenden Würmchen mit ihrer notdürftigen Kleidung und den Lappen um die Füße über verschneite Gebirgspässe gen Norden ins reichere Deutschland geführt wurden, auf den Kindersklavenmarkt von Ravensburg, ist nicht überliefert. Dass dem »eingefleischten Hochroten«, der für das Kommunistische Manifest brannte, den damaligen Sachbuchbestseller, die Armut der ihm Schutz gewährenden Menschen zu Herzen ging, steht jedoch fest: Trotz mieser Bezahlung von nur 50 Franken monatlich trat er eine Stellung als Landarzt an, wobei er pro Krankenbesuch, den er im Winter mit Schneeschuhen, im Sommer zu Pferd absolvierte, 85 Rappen extra erhielt. Immer wieder überlegte er, wie er seinen Patienten, die noch weniger besaßen als er, helfen konnte, diesen »kräftigen strammen Gestalten« mit »zäher Ausdauer und überraschenden Körperkräften«, wie er sie beschrieb.
Irgendwann bemerkte Spengler, dass keiner von ihnen an Tuberkulose litt. Die auch »Schwindsucht« genannte Krankheit war das drängendste medizinische Problem seiner Zeit und hielt diese Welt buchstäblich in Atem. Noch heute führt diese Seuche die internationale Statistik der tödlichen Infektionskrankheiten an, doch Mitte des 19. Jahrhunderts war die meist die Lunge befallende »weiße Pest« zum Beispiel in England für über ein Viertel aller Sterbefälle verantwortlich, und in Deutschland verursachte sie bei jüngeren Leuten jeden zweiten Todesfall. Seit Menschengedenken stellte die unheilbare Krankheit die Ärzte vor Rätsel: So gut wie jeder infizierte sich damit, doch nur bei manchen brach sie aus, und nicht immer verlief sie letal, aber oft. Verzweifelte Patienten probierten alles Mögliche, der Dichter Friedrich Schiller bewahrte auf seinem Schreibtisch schimmlige Äpfel auf, da er hoffte, deren Ausdünstungen hielten das Lungenleiden in Schach – womöglich zu Recht, wie sich Mitte des 20. Jahrhunderts herausstellte, als bekannt wurde, dass ein Schimmelpilz, das Penicillin, antibiotisch wirkte. Zu Spenglers Zeiten kostete das Übel alljährlich Zigmillionen Menschen das Leben, und ein Ende der Pandemie war nicht in Sicht. In ländlichen Gebieten galt die Tuberkulose als häufigste Todesursache. Nur in Davos kam sie wunderbarerweise nicht vor. Auch hatte Spengler beobachtet, wie Einheimische, wenn sie das Hochtal verließen, im flachen Land prompt an der Schwindsucht erkrankten, aber wieder gesundeten, nachdem sie zurückkehrten.
Als er erfuhr, dass in Schlesien ein Arzt eine Lungenheilanstalt betrieb und trotz vergleichsweise bescheidenen 600 Höhenmetern den klimatischen Verhältnissen einen heilsamen Effekt zuschrieb, unternahm Spengler meteorologische Beobachtungen: »Die Richtung des Hochtales von Nordost nach Südwest, seine trichterförmige Ausbreitung nach oben, gestatten den Strahlen der Sonne den Zutritt von morgens früh bis abends spät. Seine hohe Lage bedingt ziemlich nebelfreie und jedenfalls mehr helle, sonnige Tage, als sie im Flachlande vorkommen, besonders im Verlaufe des Winters, wo wir uns sehr oft des schönsten Wetters und erwärmenden Sonnenscheins erfreuen dürfen, während über den tieferen Gegenden beständiger Nebel, ein bleierner Winterhimmel hängt.« Mehr Sonne, weniger Regen, saubere Luft: War dies der Grund dafür, dass im Landwassertal niemand an Tuberkulose erkrankte? Spengler fand Aussagen, die seine These stützten: Alexander von Humboldt hatte bei seinen Reisen nach Südamerika festgestellt, dass in hoch gelegenen Gebieten Schwindsucht nicht vorkam. Bedingte die Sauerstoffarmut der Höhenluft ein tieferes Einatmen und dadurch bessere Ventilation und Heilung der Lunge?
Spengler beschloss, es darauf ankommen zu lassen: Er würde Patienten aus ganz Europa einladen, um sie vor Ort den Elementen auszusetzen, dadurch zu heilen. Das Unterfangen war verrückt, doch nicht aussichtslos, da Kranke nach jedem Strohhalm greifen, um einem sicheren Tod zu entkommen. So begann er, Artikel in medizinischen Fachzeitschriften zu veröffentlichen und für Davos als magischen Platz der Heilung zu werben.
Seine Idee, die letztlich nichts als eine Fiktion war, eine gute Geschichte, passte perfekt in die Zeit. Der Brite Thomas Cook hatte just 1861 die erste Pauschalreise veranstaltet, seitdem nahm der Tourismus zu – beliebtes Ziel: die Alpen. Abenteuerlustige Engländerinnen und Engländer wagten immer häufiger den Weg in abgelegene Bergregionen; die ersten Reisereportagen erschienen. Auch wenn darin von einer desperaten Landbevölkerung die Rede war, die Nepp-Preise für Kirschen und Souvenirs verlangte, bettelnde Kinder und das Fehlen von Toiletten in Gasthäusern moniert wurden, gab es auch viel Lob für die ursprüngliche Natur, die gesunde Luft. Ein Hype um die exotische Schweiz entstand, und Spengler konnte sich Hoffnung machen, dass auch sein Lockruf nicht ungehört verhallen würde. Nur in Davos selbst, wenn er Nachbarn und Freunden von seinem aberwitzigen Plan erzählte, das abgelegene Nest in einen Weltkurort zu verwandeln, schüttelten alle verständnislos den Kopf.