Am 8. Februar 1865, beinahe auf den Tag genau 158 Jahre vor dem Beginn unseres Skiurlaubs, kamen die ersten beiden Wintergäste nach Davos. Geschwächt durch ihre Tuberkulose-Erkrankung, gab ihnen die beschwerliche Reise beinahe den Rest, sodass sie kaum noch am Leben waren, als sie das Landwassertal endlich erreichten. Vor allem das finale Stück, die schier endlose Strecke in einer zugigen Kutsche von Landquart hinauf ins Hochgebirge durch Massen von Schnee, hatte ihre Reserven aufgezehrt. Auch der Empfang der Schwerkranken, eines Buchhändlers und eines Arztes aus Deutschland, fiel frostig aus. Die Leute in dem ausgekühlten Dorf, in dem es keinerlei Heizung gab, nur je eine offene Feuerstelle pro Wohnhaus, reagierten misstrauisch: Was wollten diese beiden hier, noch dazu im Winter, wenn sonst jeder den Ort mied? Handelte es sich um Spione? Die nächstgelegene Polizeistation im sechzig Kilometer entfernten Chur schickte prompt einen Landjäger herauf, um zu prüfen, ob es sich bei den Unbekannten um Kriminelle handelte, die sich in der Gebirgswelt vor dem Gesetz verstecken wollten.
Doch Spengler kümmerte sich um sie, buchte sie zu anständigen Konditionen in einer Pension ein, wo ein zentraler Ofen die Stube warm hielt, sorgte dafür, dass sie Sonne und frische Luft tankten, viel lokales Fleisch aßen und noch mehr Veltlinerwein tranken, dem er eine stärkende Wirkung zuschrieb. Das Wunder geschah: Die Gäste erholten sich, genasen und erkoren Davos prompt zu ihrer neuen Heimat, aus Angst, dass im Tiefland ihre Krankheit wieder ausbrechen würde. Beide begannen, für den Ort zu werben – der Arzt unter seinen Kollegen überall in Europa, der Buchhändler als Verleger: Er gründete die heute noch existierende Davoser Zeitung sowie später die Davoser Blätter, ein wöchentlich auf Deutsch, Englisch, Französisch und Russisch erscheinendes Unterhaltungsblatt für Kurgäste.
Der Durchbruch kam dann in Gestalt eines niederländischen Bankiers aus London und seiner 20-jährigen, an Tuberkulose erkrankten Frau. Obgleich ihr nicht mehr geholfen werden konnte, da sie sich bei Ankunft bereits im Spätstadium befand, glaubte Willem Jan Holsboer an die Heilkraft des Bergdorfes. Nach dem Tod seiner Gattin blieb er vor Ort, vermählte sich mit einer Bauerntochter und investierte in Davos, errichtete eine professionelle Kuranstalt, in der Spengler selbst die ärztliche Leitung übernahm. Mit seinen guten Kontakten zur Basler Finanzwelt engagierte sich der umtriebige Holländer nun für die Erweiterung des Schienennetzes – Voraussetzung für eine steigende Gästeschar. Unter abenteuerlichen Bedingungen ließ er Gleise im Gebirge verlegen, Tunnels sprengen, märchenhafte Viadukte errichten. Heute gehört diese 1890 eröffnete Bahnstrecke zum Unesco-Weltkulturerbe – und bringt noch immer die Menschen in kaum mehr als zwei Stunden von Zürich an den abgelegenen Ort. Doch Holsboer setzte nicht nur auf Prestigeprojekte. Er kümmerte sich auch um weniger sichtbare Infrastruktur, ließ eine Kanalisation bauen, ein Stromnetz errichten, organisierte die Schneeräumung im Winter und »Staubfreimachung« der nun Promenade genannten Dorfstraße im Sommer.
Vor allem aber betrieben Holsboer und sein neuer Freund Spengler weiterhin kräftig Fiktionsbildung und schafften es über Annoncen und Artikel in Fachzeitschriften und tonangebenden Medien überall in Europa, dem verschlafenen Bergnest einen Namen zu verleihen, es zum Sehnsuchtsort zu stilisieren. Auch ein Buch veröffentlichte Spengler: »Die Landschaft Davos als Kurort gegen Lungenschwindsucht«. Darin beschrieb er forsch, wie schnell sich vor Ort bei entsprechender Ernährung Genesung einstellen konnte – vorausgesetzt, die Krankheit war noch nicht im hoffnungslosen Endstadium.
Der Gesundheitstourismus nahm an Fahrt auf. Verzweifelte, dem Tod ins Auge blickende Patienten strömten herbei, auch wenn wissenschaftliche Studien über eine heilende Wirkung des Höhenklimas fehlten. Nicht einmal eine Statistik existierte, alles blieb Behauptung. Dass es irgendwie gesund war, sich in den Bergen aufzuhalten, schien zwar glaubhaft, aber verschwand dadurch die Tuberkulose, diese furchtbare Krankheit, der schon Abermillionen zum Opfer gefallen waren? Als Spengler auf wachsenden Druck hin Zahlen veröffentlichte, waren diese wenig überzeugend: In den Jahren 1865 bis 1867 starb im Schnitt ein Siebtel aller Patienten in Davos, nur ein Fünftel wurde als geheilt entlassen. Der Rest blieb in Behandlung.
Die enttäuschenden Ergebnisse verwundern nicht, waren die Heilmethoden doch kaum mehr als Trial and Error. Kranke wurden sogar in Kuhställen aufgebettet, wo sie Ammoniak einatmeten, das durch die Exkremente der Tiere entstand und gesund sein sollte, weil es den Auswurf anregte. Später stellte sich dies als verhängnisvoller Irrtum heraus, da das ätzende Gas zu Ödemen in den Bronchien und der weiteren Zerstörung der Atemwege führt. Gesünder waren da schon »Butter, Käse, Fleisch, Speck« aus dem Dorf, die den Patienten im Überfluss bereitgestellt wurden, um die Körperkräfte zu stärken. Die Davoser Milch enthielt angeblich mehr Vitamine als Flachlandmilch, da hier bessere Futterkräuter zur Verfügung standen, weshalb jeder Kranke animiert wurde, täglich ein bis zwei Liter davon zu trinken. Rohen Kefir, Trendgetränk in Wellnesshotels noch heute, schluckten die Gäste ebenfalls nicht zu knapp. Auch der »edle Veltlinerwein« wurde in immer größeren Mengen als heilsam kredenzt und während des Winters über die tief verschneiten Pässe unter Lebensgefahr herbeigeschafft.
Der angeblich heilsame Hedonismus passte in die Zeit: Es war dies das Europa des Imperialismus, der Belle Époque mit ihrem wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und kulturellen Aufschwung, angeführt von einem selbstbewussten Bürgertum, einer Lebensweise, die auf Fortschrittsglauben basierte und auf den Boulevards der Metropolen ihren Ausdruck fand. Der frisch eingeweihte Eiffelturm setzte die Leute in Verzückung, die chemische und pharmazeutische Industrie expandierte, neue Fabriken entstanden, große Stahlwerke sorgten für den Wohlstand ganzer Landstriche. Die Lebenserwartung stieg: eine optimistische Zeit der wachsenden Städte, einer gesellschaftlichen Sorglosigkeit. Auch Kriege gab es nach der Auseinandersetzung zwischen Deutschland und Frankreich 1871 zunächst keine mehr, und in der langen Friedensperiode prosperierte Europa. Auch Vergnügungsreisen wurden immer attraktiver. Wenn nur die vermaledeite Tuberkulose nicht gewesen wäre, die einem so böse einen Strich durch die Rechnung machen konnte. Doch dafür gab es jetzt Davos. Dort öffneten schicke Boutiquen und boten Pariser Mode feil, luxuriöse Bälle luden zum Tanz, Galerien stellten aus, eine ständige Theatertruppe inszenierte Shakespeare und Goethe. Einmal pro Woche fand ein Sinfoniekonzert statt, mehrere Kurkapellen unterhielten die internationale Klientel. Leute aus allen Ländern Europas begegneten sich, schlossen Geschäfte ab, verliebten sich. Dutzende von Pensionen und Sanatorien wurden gebaut, Hunderte von Villen und Chalets, die Zahl der Übernachtungen stieg exponentiell an – Boomtown in den Alpen, kein Kindersklavenhändler mehr.
Das neue Mekka der Schwindsüchtigen lautete ab 1878 offiziell das Motto von Davos. Hatten bei der Ankunft Spenglers 25 Jahre zuvor kaum mehr als 1500 Menschen hier gehaust, wuselten mittlerweile 10000 Besucher und Patienten durch einen globalisierten Ort. Mehrere Konsulate öffneten, ein britisches Viertel mit Kirche, Art Club und English Library entstand. Holsboer schwamm im Geld und plante seinen Coup: die Schatzalp, das luxuriöseste Sanatorium aller Zeiten, ganz oben auf dem Berg.
Doch schien der Fortschritt, der die Expansion ermöglichte, sie bald auch infrage zu stellen. Als Robert Koch, Begründer der Mikrobiologie, 1882 das Rätsel um die Tuberkulose löste und herausfand, dass ein Bakterium sie verursacht, wandelte sich der Umgang mit der Krankheit. Zuvor wahlweise als schicksalhaftes Verhängnis, Erbkrankheit oder Ernährungsproblem betrachtet, ergab sich nun ein nüchterner, wissenschaftlicher Blick. Schwindsüchtige wurden nicht mehr romantisiert, sondern als Gefahr wahrgenommen und wie Aussätzige behandelt. Ein neues Gespenst ging um in Europa: der Bazillus. Gesunde brachen den Kontakt mit Patienten ab, Infizierte verloren ihren Job. Zwar dauerte es noch, bis das komplexe Wechselspiel zwischen Erreger, menschlichem Körper und Ausbruch verstanden war, doch eines schien klar: Es bestand Ansteckungsgefahr, der begegnet werden musste. Nun wurde sich mit Phänomenen herumgeschlagen, die heute »Durchseuchung« oder »Tröpfcheninfektion« heißen, und Theorien aufgestellt über mögliche Gefährdungen durch in Staub eingetrocknete Tuberkelbakterien. Eine kollektive Angst griff um sich. Manche Gemeinden in den Bergen, wie St. Moritz, fürchteten, dass auch sie von Bazillenschleudern angesteuert werden könnten, und schotteten sich ab: »Keine Kranken!«
Davos mit seinen vollen Bars und Kaffeehäusern wurde zum Hotspot; niemand hustete in die Armbeuge, alle gaben sich die Hand, viele küssten sich. Dass es sich keineswegs mehr um einen immunen Ort handelte, wurde augenscheinlich. Pensionsbesitzer steckten sich an ihren Gästen an, die Infektionsketten schlängelten sich die Promenade entlang. Nutzte das Höhenklima etwa doch nichts? In einem launigen Versuch infizierte ein Mitarbeiter von Robert Koch zwölf Meerschweinchen mit Tuberkulose, sechs davon kamen nach Davos, die anderen blieben in Berlin. Alle starben zur gleichen Zeit.
Statt zum Ort der Heilung wurde das Landwassertal für viele zum Schauplatz eines qualvollen Todes: Fortan ließ die Kommune den Abtransport der Leichen nachts durchführen, in geschlossenen Kutschen. 25 Prozent der Besucher verstarben mittlerweile, und bei den schwer krank Angereisten waren es sogar 80 Prozent. Der Friedhof musste erweitert und ein Krematorium errichtet werden, nach Zürich das zweite der Schweiz, da viele Angehörige ihre Toten eingeäschert in der Eisenbahn mit nach Hause nehmen wollten.
Auch die angeblichen Klimavorteile wurden angezweifelt: Ein Mediziner veröffentlichte 1886 in einem Schweizer Ärzteblatt, Davos sei wegen heftiger lokaler Winde und Schattenarmut als Aufenthaltsort für Kranke überhaupt nicht geeignet. Der Kurarzt eines auf ähnlicher Höhe gelegenen Nachbarortes blies ins gleiche Horn: »Tuberkuloseverdächtige bekommen hier bald unangenehme Rückfälle; sie begreifen nicht, dass sie die Luft nicht vertragen können und wollen’s daher noch eine Zeit lang probieren, anstatt sofort wieder abzureisen.« Ohnehin stand es um die Luft nicht mehr so gut: Der Rauch des Krematoriums und der Lokomotiven, der mit Kohle betriebenen Heizungen der vielen neuen Pensionen verpestete die Atmosphäre der windstillen Gegend, die der britische Historiker John Addington Symonds als »einen schlecht dränierten, überfüllten, mit Gas beleuchteten Sammelplatz einer kosmopolitischen Krankheit« beschrieb.
Doch die Davoser gaben nicht auf. In einer Welt, die sich in Arm oder Reich unterteilte, waren sie nach ihren Anfangserfolgen und den hohen Investitionen entschlossen, zu den Letzteren zu gehören. Der Verkehrsverein gründete ein später sogenanntes »Propagandabüro« mit einem simplen Ziel: »Klare und ausgesprochene Propagierung des Hochgebirges (Kurortes Davos) als heute immer noch sicherstes und am schnellsten wirkendes Mittel gegen alle Formen der Tuberkulose«. Unterstützt wurden die Anstrengungen von den lokalen Medien, die das Infektionsrisiko als fake news darstellten und von einer »eingebildeten Gefahr« titelten.
In dieser prekären Periode reiste 1888 ein 33-jähriger Arzt aus Karlsruhe mit dem klingenden Namen Dr. Karl Turban an. Ebenfalls an Tuberkulose erkrankt, schockierten ihn die Zustände vor Ort: »Fiebernde und Blutspuckende wurden auf Bergspaziergänge geschickt. Bei den regelmäßigen Bierkonzerten im Kurhause sangen die Kehlkopfkranken die Kommerslieder nach Kräften mit; bei Festlichkeiten in den Hotels tanzten schwerkranke Herren und Damen in betrunkenem Zustande die damals üblichen bewegten Tänze – und Ärzte schauten zu.« Die Verordnung, jeden Tag mindestens einen halben Liter Veltliner zu trinken, hatte eine Art internationale Säufergemeinschaft und Partyszene kreiert, die sich um Infektionsrisiken wenig scherte, dafür aber bis zum Abwinken feierte. Auch »Cognac in hohen Dosen« wurde konsumiert, das vorgeschriebene Alkoholpensum bereits zum Frühstück verköstigt, im Laufe des Tages fröhlich nachbestellt. Der Promenadenweg hieß inoffiziell Promilleweg.
Diesem bunten Treiben der »Lustbarkeiten in den Kurhotels« machte Turban mit seinem Konzept des »geschlossenen Sanatoriums« ein Ende, indem er Abstandsregeln und strikte Hygienevorschriften einführte: Kranke mussten in Quarantäne, und in seinem neu errichteten »Sanatorium Dr. Turban« in »sonnigster, windgeschützter Lage« wurde die sogenannte »Liegekur« Pflicht: Um das Wachstum der Tuberkel zu mindern, sie einzuschläfern, ihren Tanz zu stoppen, hatten seine Patienten zweieinhalb Stunden nach dem Frühstück, zweieinhalb Stunden nach dem Mittagessen und anderthalb Stunden nach dem Abendessen im Freien auf Liegestühlen zu verbringen, egal bei welchem Wetter. Eine Glocke gab den Rhythmus vor, und während des Liegens galt alles Ablenkende als tabu, inklusive Lesen, Schreiben oder gar Plaudern. Nur mit ihrer Krankheit sollten die Patienten sich beschäftigen, eisern Innenschau treiben. Der lungenversehrte Schriftsteller Heinrich Schaumberger, der zu den ersten Turban-Schützlingen gehörte, beschrieb die Effekte dieser alpinen Form der Meditation so: »Das schwere körperliche Leiden, gegen das man so heldenhaft ankämpft, im Verein mit der aufgezwungenen Zurückgezogenheit, die zur Selbstbetrachtung und Selbstzucht drängt, [vertieft] das Seelenleben in nie geahnter Weise.«
Turban überwachte das Einhalten der »Stillen Liege« persönlich, war in der eigens dafür errichteten, zum Tal hin offenen Liegehalle stets anwesend. Wer einen Mucks tat, wurde verwarnt und bei der zweiten Verwarnung entlassen, ohne Chance, von einer anderen Heilstätte aufgenommen zu werden. »Wo sanfte Gewöhnung nicht hilft, muß der Zwang, der rückhaltlose Tadel, der Ausschluß von der weiteren Behandlung eintreten«, hieß es in Turbans Anweisungen. Auch dem unkontrollierten Ausspucken – einem fürchterlichen Drang der Kranken, um zerstörtes Lungengewebe loszuwerden – schob Turban den Riegel vor und stattete alle Patienten mit seiner »wichtigen Erfindung des Taschenspucknapfes« aus, führte eine »strenge Spuckdisziplin und Spucknapfdesinfektion« ein, um die »Quellen, aus denen der Infektionsstoff fließt«, zu verschließen. Täglich wurden die in allen Räumen entweder auf dem Fußboden aufgestellten oder auf Brusthöhe an den Wänden angebrachten Spucknäpfe aus Porzellan, Glas oder emailliertem Eisen mit einer ätzenden, aus Steinkohleteer gewonnenen Karbollösung gereinigt, deren durchdringender, unangenehmer Geruch die Heilanstalt durchzog.
Mit seiner rigiden Vorgehensweise setzte Turban den Trend weit über Davos und auch weit über den medizinischen Bereich hinaus. Seine Idee des Sanatoriums, die dem Gedanken der Pandemiebekämpfung unterstand, geriet zum Impulsgeber für modernes Bauen und Wohnen überhaupt. Um eine möglichst lange Sonneneinstrahlung zu gewährleisten, wurden beispielsweise vorstehende Giebel durch das moderne Flachdach ersetzt, das bald das Erscheinungsbild nicht nur dieser Kommune prägte. Die romantische Idee vom Haus mit Spitzdach verlor gegen eine Ästhetik, die an Fabriken erinnerte und die Unterbringung von Menschen formal löste. Auch die Innengestaltung folgte hygienischen Kriterien, war funktional orientiert: schmucklose Möbel, glatte Oberflächen bei Wänden, Decken, Türen und Fenstern, keine Teppiche, keine Vorhänge, nur abnehmbare Polster und alles abwaschbar. Jeglicher Schnörkel, worin sich tuberkelbelasteter Staub absetzen könnte, war tabu. Eine Zeitenwende vollzog sich, und das 19. Jahrhundert wurde auch optisch abgelöst. Die Moderne erhielt entscheidende Impulse ausgerechnet aus dem vormals unscheinbaren Bergkaff, das in der Pandemiebekämpfung eine Vorreiterrolle einnahm.
Immer mehr Heilstätten folgten Turbans Beispiel, verwandelten sich zu geschlossenen Sanatorien, lösten die alteingesessenen, von Einzelpersonen oder Familien geführten Pensionen und Villen ab, die den »offenen Kurort« geprägt hatten. In diesen sich breitmachenden, aufwendigen Etablissements wohnten Patienten nicht nur, sondern wurden komplett verpflegt und medizinisch betreut. Die Vollpension, Spenglers alte Idee, wurde noch üppiger, um der durch die Schwindsucht ausgelösten Appetitlosigkeit entgegenzuwirken, dem buchstäblichen Entschwinden des Kranken. Statt abzumagern, sollte, wie es im Zauberberg heißt, »Eiweiß angesetzt« werden, auch wenn Gäste sich beschwerten, wie der Dichter Christian Morgenstern, der von »unerwünschten Mahlzeiten« sprach. Bald wurden die Gäste regelrecht gemästet, dem »Stopfen von Gänsen« vergleichbar. Die kostspielige Rundumversorgung wurde Programm und diente als Vorbild für spätere Tourismuskonzepte.
Indem die architektonisch so neuartigen Gesundheitsburgen an allen Fronten abschöpften, entwickelten sie sich zu ausgemachten Geldmaschinen, hinter denen bald Aktiengesellschaften standen. Mediziner wie Turban mutierten zu Geschäftsleuten – die Zeiten, in denen ein Landarzt Spengler 50 Franken pro Monat erhalten hatte, waren Geschichte. Immer mehr galten die Herren Doktoren als die uneingeschränkten Herrscher des Ortes, ihre Porträtfotografien gab es an jeder Ecke für drei Franken das Stück. Während der obligatorischen Liegezeiten glitten die Chefärzte in schlanken Schlitten über die schneebedeckte Promenade, sorgfältig in Heidschnuckenpelze gehüllt, Schals vor dem Mund, prüften, ob die Wege vorschriftsgemäß leer waren, und wer dennoch flanierte, verschwand schnell in Läden oder Konfiserien, um sich zu verstecken. Mit diesen Koryphäen war nicht zu spaßen, sie nahmen ihre Aufgaben ernst, schließlich waren sie dafür verantwortlich, den Patientennachschub zu sichern, um die Investoren zufriedenzustellen.
Von großem Vorteil war, dass die Schwindsucht so überaus langsam heilte – wenn überhaupt. Wer einmal in der Mausefalle dieser Gesundheitsversorgung saß, kam so leicht nicht wieder heraus. Betraf dies zunächst nur den Winter, wurde die Saison, um die hohen laufenden Kosten zu decken, bald auf das ganze Jahr gestreckt: »Früher hätten im Sommer nur die Treusten der Treuen in diesem Tale ausgeharrt«, heißt es im Zauberberg, in dem der Chefarzt eine Lösung für diesen »unerfreulichen Missstand« präsentiert und die Lehre aufstellt, »dass die sommerliche Kur nicht nur nicht weniger empfehlenswert, sondern sogar besonders wirksam und geradezu unentbehrlich sei. Und er habe dies Theorem unter die Leute zu bringen gewusst, habe populäre Artikel darüber verfasst und sie in der Presse lanciert. Seitdem gehe das Geschäft im Sommer so flott wie im Winter.«
Die Verlängerung der Kurzeiten machte endlose Aufenthalte möglich und erhöhte die Auslastung der Privatsanatorien so, dass sie rentabel wurden. Turban, der von sich behauptete, der Einzige zu sein, der die Pandemie in den Griff bekam, behandelte nur jene, die seine erheblichen Raten von bis zu 20 Franken pro Tag bezahlen konnten, ein Wert von etwa 250 Franken heute. Bald galt er im Ort als Halbgott in Weiß, der über Leben oder Tod entschied: der unangefochtene, allwissende »Tuberkulosepapst«.