7. KAPITEL

Grace lief noch eine Weile wütend durchs Haus, aber sie fand keine Beschäftigung. Dieser Haushalt war einfach zu perfekt organisiert; nichts, aber auch gar nichts blieb jemals liegen. Also verbrachte Grace einen weiteren Tag damit, aus dem Fenster zu starren und ein paar langweilige Bücher aus der Bibliothek zu überfliegen. Es gab nicht ein einziges literarisches Werk unter ihnen.

Am Nachmittag stellte Mr. Cox ihr zwei Mädchen aus dem Dorf vor, die als Kammerzofen in Frage kamen. Die beiden waren fröhlich und wollten ihr offensichtlich gerne gefallen. Grace war froh über die Gelegenheit, mit jemand anderem außer Mr. Cox zu sprechen und fragte sie nach ihren Familien und danach, was sie sonst so in Ashton Down trieben. Sie dehnte das Gespräch so lange aus, wie sie nur konnte, bis eine von ihnen unruhig auf ihrem Stuhl umherrutschte, weil sie ein menschliches Bedürfnis nicht länger unterdrücken konnte.

Nachdem die Mädchen ins Dorf zurückgeschickt worden waren, betrat Mr. Cox den grünen Salon und verbeugte sich. „Darf ich fragen, Madam, ob eins der beiden Mädchen in Frage kommt?“

Grace trommelte gedankenverloren mit den Fingern auf die Armlehne des Sessels, in dem sie saß, und erwiderte: „Es sind beides nette junge Mädchen, Mr. Cox, aber ich würde Hattie vorziehen.“

Der arme Mr. Cox war vollkommen durcheinander. „Nun ja, also ich … Soll ich das seiner Lordschaft mitteilen?“

„Bitte tun Sie das“, sagte sie mit einem strahlenden Lächeln.

Grace ließ sich Zeit mit dem Umziehen zum Abendessen. Es war im Grunde genommen gleichgültig, was sie trug, weil außer ihm niemand sie zu Gesicht bekommen würde. Dennoch hatte sie sich für eins ihrer Lieblingskleider entschieden. Es war aus hellgrüner Seide und mit kleinen rosafarbenen Vögeln bestickt. Sie steckte ihr Haar auf, so gut sie es ohne Hilfe konnte. Dazu verwendete sie Haarnadeln, die mit kleinen Perlen besetzt waren und zu der langen Perlenkette passten, die sie tragen wollte.

Sie war wieder als Erste im Speisezimmer und gab dem Lakaien mit einem Kopfnicken zu verstehen, dass er ihr schon Wein einschenken sollte. Ihr Mann hatte es richtig erkannt: Sie schätzte ihr Glas Wein.

Merryton erschien nur wenig später. Auch wenn sie noch immer wütend auf ihn war, kam sie doch nicht umhin zu bemerken, wie gut ihm seine formelle Abendgarderobe stand. Er sah im Frack und mit dem schneeweißen Hemdkragen sehr elegant aus. Von seinen durchdringenden grünen Augen abgesehen war er ein gut aussehender Mann. Zudem war er durchtrainiert mit breiten Schultern. Sie versuchte sich vorzustellen, wie er wohl aussah, wenn er lächelte, doch das gelang ihr nicht. Dazu wirkte er zu unnahbar und zu gleichgültig, sie war ziemlich sicher, dass er gar nicht lächeln konnte.

Mit einem schnellen Blick hatte er sie von oben bis unten gemustert.

„Guten Abend“, begrüßte sie ihn und machte dabei einen nachlässigen Knicks, ohne dazu das Weinglas abzustellen.

„Guten Abend.“ Er nickte Cox zu, um zu signalisieren, dass das Abendessen serviert werden konnte.

Der Lakai kam zu Grace hinüber, um ihren Stuhl zurechtzurücken. Sie setzte sich mit einem Seufzer. Dann stellte sie das Weinglas ab; blitzschnell trat Cox an den Tisch und rückte ihr Glas so zurecht, dass es sich in einer Linie mit den Gläsern an Merrytons Platz befand. Diese an sich bedeutungslose Geste wurmte Grace. Es war schrecklich ermüdend, dass aber auch wirklich jeder verfluchte Gegenstand in diesem Haus immer an seinem Platz sein musste. Unwillkürlich streckte sie die Hand nach dem Weinglas aus, um es ein Stück zu verrücken, doch in ihrer Hast, sich ein wenig nicht perfekten Raum zu verschaffen, verschüttete sie den letzten Schluck Wein auf dem weißen Tischtuch.

Merryton fixierte sie mit finsterem Blick. Grace reagierte darauf mit ihrem schönsten Lächeln. „Ich bitte vielmals um Verzeihung, das war meine Schuld.“

Er sah in die andere Richtung, wo Mr. Cox angelaufen kam, um die Flecken mit dem Tuch aufzutupfen, das er zum Servieren benutzte. Als er damit fertig war, lächelte Grace ihm zu und hielt ihm ihr Glas hin, damit er es erneut füllen möge. Sie konnte die Welle von Ablehnung, die von ihrem Mann ausging, beinahe körperlich fühlen. Doch als sie ihn über die Schulter hinweg herausfordernd ansah, sagte er kein Wort.

Sie verbrachte also ein weiteres Abendessen damit, ihm dabei zuzusehen, wie er ohne große Begeisterung aß und dabei gedankenverloren mit den Fingern auf dem Tisch trommelte. Klopf, klopf, klopf, klopf – Pause. Klopf, klopf, klopf, klopf – Pause.

Als das Geschirr des ersten Gangs abgeräumt war, sagte Merryton: „Mr. Cox hat mich davon in Kenntnis gesetzt, dass Sie nicht zufrieden mit den Mädchen aus dem Dorf waren, die er ausgesucht hatte.“

Also gut, zumindest sprach der Mann. „Nein, ich mochte sie nicht wirklich, ich ziehe Hattie vor. Sie gefällt mir sehr gut.“

Merryton sah sie unverwandt an. „Ich habe es bereits gesagt, und ich sage es noch einmal: Sie können einstellen, wen immer Sie möchten, aber Hattie bekommen Sie nicht.“

„Dann kann ich eben nicht haben, wen ich möchte, nicht wahr?“

Er verzog keine Miene, aber er beugte sich drohend vor und stützte die Arme auf die Tischkante. „Sie haben eine Neigung zum Starrsinn. Ich dachte, ich hätte mich klar ausgedrückt – Hattie wird nicht Ihre Zofe werden. Suchen Sie sich jemand anderen aus oder verzichten Sie von mir aus auch ganz auf eine Zofe, mir das ist vollkommen gleichgültig.“

Grace verachtete ihn. Es war ihr mittlerweile egal, dass sie selbst für diese Ehe verantwortlich war – sie konnte ihn nicht ausstehen. Sie zuckte scheinbar unbekümmert mit den Schultern. „Sie wiederum haben eine Neigung zur Unbeweglichkeit.“

Er atmete tief ein. „Mein Gott, was sind Sie unverschämt!“

Grace lachte. „Vielen Dank.“

„Das ist ganz und gar kein Kompliment.“

„Das ist mir durchaus bewusst“, antwortete sie und strahlte dennoch vor Vergnügen. „Aber da wir gerade davon sprechen: Sie haben heute zu mir gesagt, ich solle den Schaden wiedergutmachen, den ich angerichtet habe, indem ich mich wohltätigen Zwecken zuwende. Mir ist nicht ganz klar, wie ich das machen soll, wenn ich Blackwood Hall nicht verlassen kann.“

Eine seiner Hände lag auf dem Tisch und er sah sie mit einem durchdringenden Blick an wie ein Raubvogel, der kurz davor ist, sich auf seine Beute zu stürzen. „Sie dürfen sich gern an den Vikar wenden, Lady Merryton. Er wird mehr als erfreut sein, wenn er Ihnen bei der Sühne für Ihre Sünden behilflich sein kann.“

Oh nein! Es war zum Verrücktwerden, wirklich zum Verrücktwerden! Sie nahm ihre Gabel auf, aber sie konnte kaum weiteressen, so wütend war sie. Sie beendeten also ihr Essen wie an allen anderen Abenden, seitdem sie in Blackwood Hall angekommen waren – Merryton wartete voller Ungeduld darauf, dass sie endlich fertig war, damit er sich entschuldigen konnte.

An diesem Abend, nachdem er voller Erleichterung das Speisezimmer verlassen hatte, nahm Grace einen Leuchter und streifte ziellos durch das Haus. Auf ihrem Weg kam sie auch an seinem Arbeitszimmer vorbei. Sie blieb vor der geschlossenen Tür stehen, dann blickte sie sich auf dem Korridor um, um sicherzugehen, dass ihr niemand gefolgt war, und öffnete die Tür. Im Zimmer war es dunkel und kalt. Grace betrat den Raum und sah neben sich die vier Schreibfedern, die auf dem Pult sauber aufgereiht waren. Sie strich mit der Hand über sie, sodass sie in alle Richtungen rollten, und lächelte in sich hinein, während sie den Raum verließ und die Tür hinter sich zuzog.

Anschließend ging sie ins Musikzimmer hinüber. Sie hatte es erst heute entdeckt, weil es auf der Rückseite des Hauses lag, neben den großen Türen, die zum Garten hinausführten.

Der Raum war gemütlich eingerichtet und neben zwei Notenständern standen dort auch ein Klavier und eine Harfe.

Grace setzte sich auf den Klavierhocker und schlug ein paar Tasten an. Prudence war die musikalische Begabung in der Familie. Wenn sie spielte, tanzten Grace, Mercy und Honor dazu und übten ihre Tanzschritte zu Reels und Menuetten. Natürlich hatte Grace, wie alle Töchter aus gutem Hause, auch selbst Musikunterricht erhalten. Aber sie war bei Weitem nicht so begabt wie Prudence. Sie legte die Hand auf die Tasten und spielte einen Akkord. Sie lächelte über den fröhlichen Klang der Töne. Hier hatte sie zumindest ein wenig Ablenkung, und wenn sie ihre einsamen Nachmittage zum Üben nutzte, würde sie vielleicht irgendwann sogar ganz gut spielen können.

Ihr fiel ein Stück ein, das sie von früher kannte, „Herbstmelodie“ hieß es. Sie begann zu spielen. Der erste Versuch war voller schiefer Töne, die sie sofort zu korrigieren versuchte. Es klang schrill in ihren eigenen Ohren, aber falls sich in diesem Haus irgendjemand an ihrem zugegebenermaßen fürchterlichen Spiel störte, ließ er sie das nicht wissen.

Schließlich zog sie sich erschöpft von dem Versuch, ihre musikalischen Fähigkeiten zu neuem Leben zu erwecken, in ihr Schlafgemach zurück. Jemand hatte ein behagliches Feuer im Kamin angezündet und ihr Bett aufgeschlagen. Sie schnitt beim Anblick des Betts eine Grimasse und ging in ihr Ankleidezimmer hinüber, um sich für die Nacht fertigzumachen. Sie flocht ihr Haar zu Zöpfen, machte sich frisch und legte sich ins Bett.

Sie richtete sich mit dem Kopfkissen im Rücken auf und wartete auf ihren Ehemann.

Er ließ sich nicht blicken.

Wie lange war es wohl üblich, zu warten? Besprachen Eheleute das normalerweise und einigten sich auf eine Zeit und einen Ort? Oder gehörte es zu den Pflichten der Ehefrau, im Bett zu sitzen und zu warten?

Grace wartete so lange, bis sie schließlich einfach einschlief. Sie wurde vom Knarren der Tür geweckt und fuhr vor Schreck hoch. Die Kerze auf ihrem Nachttisch war zu einem Stummel heruntergebrannt.

Sie konnte Merryton im Türrahmen stehen sehen. Eine Hand hatte er auf die Klinke gelegt, die andere gegen den Rahmen gestützt, so als sei er sich nicht ganz sicher, ob er hereinkommen sollte. Er war im gleichen Aufzug wie am Abend zuvor, das Hemd hing ihm über seinen Hosenbund. Als er sah, dass sie wach war, kam er herein und schloss die Tür hinter sich.

Während er sich dem Bett näherte, sah Grace, wie sich das schwache Licht des Raumes in seinen Augen spiegelte. Der Anblick erinnerte sie an die Dämonen, von denen Mercy bei jeder passenden Gelegenheit erzählte. Als er schließlich an ihrem Bett stand, bemerkte Grace, dass sich der Ausdruck in seinen Augen verändert hatte. Sie war verwirrt – zeigte sich dort etwa ein Hauch von Zärtlichkeit? Dann berührte er wie beiläufig mit dem Handrücken ihre Wange.

Grace war so überrascht, dass sie dieser Geste mit Misstrauen begegnete und zurückschrak. Es passte so wenig zu ihm, dass sie nicht verstehen konnte, was er damit bezweckte oder was sie als Nächstes tun sollte. Er streichelte ihre Wange und sah ihr in die Augen, ehe er sich über sie beugte und sich mit den Händen links und rechts neben ihr auf dem Bett aufstützte. Sein Blick wanderte zu ihrem Mund hinunter, und er senkte den Kopf, um sie zu küssen.

Sein Kuss war sanft und seine Lippen samtweich. Eine köstliche und trügerische Hitze durchströmte Grace und wurde immer wärmer. Sein Mund war feucht und mit der Zunge strich er ihr fast unmerklich über die Lippen. Er drehte sich zur Seite und schob ihr seine große Hand unter das Kinn, um sie auf den Mundwinkel zu küssen.

Tausende von kleinen Wirbeln der Lust tanzten in ihr und kribbelten auf ihrer Haut. Grace schloss die Augen; sie legte den Kopf ein wenig zur Seite, sodass er ihren Hals küssen konnte. Er bewegte sich weiter nach unten zu ihrer Brust und hinterließ eine Spur warmer, sanfter Küsse auf ihrer Haut. Das Verlangen, das sie jetzt verspürte, machte sie schwerelos. Es war herausfordernd, wie er mit den Händen und Lippen ihren Körper berührte. Damit weckte er eine Glut tief in ihr, die sich bis in ihre Haut ausbreitete. Durch den Stoff ihres Nachthemds hindurch nahm er ihre harte Brustspitze in den Mund. Sie seufzte leise und, ohne darüber nachzudenken, streckte sie sich seinem Mund entgegen. Er neckte sie mit der Zunge, während er seine Hand zu ihrem Unterleib und dann ihre Schenkel hinabgleiten ließ. Seine Hand fühlte sich warm an auf ihrer nackten Haut, als er ihren Schenkel wieder hinauf und zwischen ihre Beine glitt.

Das Gefühl seiner Finger an der intimsten Stelle ihres Körpers entfachte eine Flamme in ihr, die ihren ganzen Körper glühen ließ. Grace konnte fühlen, wie sie feucht wurde, Lust erklang in ihr und stieg in ihr auf wie Champagnerperlen.

Merryton atmete tief. Seine Berührungen schienen jetzt drängend zu werden, er wandte sich wieder ihren Brüsten zu und riss an ihrem Nachthemd, von dem ein Knopf absprang. Mit einem Stöhnen nahm er ihre nackte Brustspitze in den Mund, knabberte und saugte daran. Sie vergrub die Finger in seinen Haaren und drückte ihn an sich, während sie sich ungeniert in die Lust hineinfallen ließ. Sein Mund und seine Hände erregten sie, es war köstlich und weckte Gefühle in ihr, die sie noch nie zuvor verspürt hatte. Genau so war es an dem Abend in dem Teehaus gewesen.

Er zog seine Hose aus und drängte sich zwischen ihre Beine. Er umfasste ihre Taille mit den Händen und zog sie zu sich heran, sodass sie ganz auf dem Rücken lag. Dann rieb er sein Geschlecht an ihrem.

Grace hielt ihn fest umschlungen. Sie zog ein Bein an. Sie war bereit für ihn, wollte ihn.

Merryton aber schob plötzlich einen Arm unter ihren Rücken und drehte sie grob um. Er zog sie ungestüm zu sich heran, schob ihre Knie auseinander und drang wortlos von hinten in sie ein. Es kam ihr so vor, als ob er nicht wollte, dass sie ihn dabei ansah. Er bewegte sich in ihr, dabei hielt er sie mit einem Arm an der Taille fest und zog sie an sich, während er in sie hineinstieß und sich dabei mit der anderen Hand auf dem Bett abstützte. Er machte es kurz und wurde in einem wilden Rhythmus schneller und schneller.

Es war alles schrecklich verwirrend. Es kam Grace so vor, als würde sie körperlich auf ihn reagieren, aber nicht mit ihrem Geist. Sie versuchte, sich umzudrehen und sich aufzusetzen, aber er hielt sie fest.

Er stieß einen animalischen Laut aus, als er sich schließlich warm und heftig in ihr ergoss. Er beugte sich vor, küsste sie in den Nacken und zog sich dann zurück.

Grace war wie betäubt. Sie ließ sich auf die Seite fallen und zog ihr Nachthemd nach unten. Sie lag mit dem Rücken zu ihm. Er sagte nichts, aber er streichelte ihr über das Haar. Sie schloss die Augen und versuchte ihn wortlos zum Gehen zu bewegen.

„Ist alles in Ordnung?“, fragte er mit rauer Stimme.

„Natürlich“, murmelte sie.

„Habe ich … Tut dir etwas weh?“

Sie hatte Schmerzen, aber nicht solche, die er meinte. „Nein“, sagte sie mit fester Stimme.

Sie spürte, wie er aufstand, und hörte, dass er sich wieder anzog. Er blieb einen Augenblick stehen, wahrscheinlich wartete er darauf, dass sie sich umdrehte und ihn ansah. Als sie das nicht tat, streichelte er noch einmal über ihr Haar und sagte: „Gute Nacht, Grace.“

Grace! Also ihren Namen konnte er immerhin mittlerweile aussprechen.

Dieses Mal musste Grace nicht weinen. Als er weg war, drehte sie sich auf den Rücken, streckte die Arme weit von sich und starrte den bestickten Betthimmel an.

Sie hegte Mordgedanken. Mercy hatte eine Vorliebe für grausame Geschichten, und sie überlegte, was sich ihre jüngste Schwester wohl für das Ableben dieses Mannes ausdenken würde. Grace gefiel vor allem die Vorstellung, dass er von seinem Pferd fallen und eine Schlucht hinunterstürzen könnte. Oder vielleicht ein tragischer Unfall auf der großen Freitreppe, sodass er Hals über Kopf die marmornen Stufen hinunterrollte.

Oder noch besser: Ein Ziegenbock konnte ihm einen gezielten Tritt genau zwischen die Augen verpassen.

Doch dann musste Grace an ihre Mutter denken. Sie konnte sich noch gut erinnern, wie sie gewesen war, bevor sie den Unfall mit der Kutsche gehabt hatte und dem Wahnsinn verfallen war – sie war eine elegante und schöne Frau gewesen, bevor sie begonnen hatte, die Ärmel an ihren Kleidern aufzuknibbeln und Grace mit dem Namen ihrer verstorbenen Schwester anzusprechen oder ständig die Jahre zu verwechseln, in denen sie lebte.

Joan Cabot war der Mittelpunkt der vornehmen Londoner Gesellschaft gewesen, eine kluge und geistreiche Frau, die als eine der größten Schönheiten ihrer Zeit gegolten hatte. Kaum ein Jahr nach dem Tod von Graces Vater, einem Bischof, hatte ihre Mutter einen Heiratsantrag von dem wesentlich älteren Earl of Beckington erhalten.

Grace hatte ihre Mutter einmal gefragt, wie sie Beckington lieben konnte, nachdem sie Graces Vater geliebt hatte. Damals war sie gerade zehn Jahre alt gewesen, und Beckington war ihr uralt vorgekommen. Doch ihre Mutter hatte fröhlich gelacht und sie in den Arm genommen. „Ach, Liebes! Es gibt noch viele Dinge im Leben, die du erst noch lernen wirst!“

„Aber du liebst ihn doch, oder nicht?“, hatte Grace gefragt. Sie konnte sich nichts Schlimmeres vorstellen, als mit einem Mann verheiratet zu sein, den sie nicht liebte. Sie konnte sich nicht einmal vorstellen, dass man nach Papa noch einen anderen Ehemann haben wollte.

„Oh, das tue ich, Liebes. Aber es hat etwas gedauert. Und außerdem musste ich ihn doch zuerst davon überzeugen, dass er mich liebt“, war sie fortgefahren und hatte ausgelassen gelacht, sogar Hannah, die Kammerzofe, die schon seit vielen Jahren bei ihr war, hatte gekichert.

Grace hatte es kaum fassen können – sie hatte immer geglaubt, dass jeder, der ihre Mutter kennenlernte, sich sofort in sie verlieben musste. „Er hat dich nicht gleich geliebt?“, hatte sie ungläubig gefragt.

Ihre Mutter hatte gelächelt und mit den Fingern sanft über ihre Wange gestreichelt. „Nein, Liebes, er kannte mich doch kaum. Aber ich habe ihn überzeugt, dass ich die Begehrenswerteste von allen bin. Willst du wissen, wie ich das gemacht habe?“

Grace hatte genickt.

„Indem ich mich begehrenswert gemacht habe, genauso wie er gerne begehrt werden wollte.“

„Aus Ihrem Mund hört sich das so einfach an, Mylady“, hatte Hannah gesagt.

Für Grace hatte es sich alles andere als einfach angehört; es ergab überhaupt keinen Sinn. Sie erinnerte sich noch gut daran, wie ihre Mutter gelacht hatte, als sie ihr verwirrtes Gesicht gesehen hatte. „Eines Tages wirst du mich schon verstehen.“

Grace war sich nicht einmal sicher, dass sie es jetzt verstand, aber vielleicht hatte sie die Sache von der falschen Seite her betrachtet. Vielleicht war dies der Schlüssel, diese widerwärtige Ehe in eine zu verwandeln, mit der sie beide leben konnten, indem sie herausfand, wie Merryton selbst gern gesehen werden wollte.

„Das ist ja überhaupt nicht verwirrend“, murmelte sie voller Sarkasmus. Sie konnte förmlich hören, wie Honor rief, dass Grace eine Person mit eigenen Rechten war und verlangen konnte, dass man sie als solche auch behandelte. Und selbst wenn Grace ihrer Schwester sicherlich recht gegeben hätte, wenn sie hier gewesen wäre, so wusste sie doch auch, dass sie mit der Angelegenheit alleine zurechtkommen musste, so gut sie eben konnte.

Zum hundertsten Mal im vergangenen Jahr wünschte sich Grace ihre Mutter zurück. Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als sie zu fragen, wie sie wohl mit diesem seltsamen Mann umgehen sollte. Doch die Mutter, die ihr Leben lang für sie gesorgt hatte, gab es nicht mehr. An ihre Stelle war eine Frau getreten, deren Wahnsinn alles verdunkelte, was sie je gewusst hatte.

Grace war ganz auf sich allein gestellt.