Als Riley
zum letzten Mal in ihrer Heimatstadt gewesen war, hatte sie ihrer Mom ihren Wagen vorbeigebracht und war anschließend nach New York aufgebrochen. Das war erst wenige Monate her, aber als sie nun durch die verwinkelten Straßen der beschaulichen Stadt direkt am Pazifik lief, hatte sie das Gefühl, eine halbe Ewigkeit fort gewesen zu sein.
Nicht viel hatte sich verändert.
Der Parkplatz direkt am öffentlichen Strand, auf dem ein Turm der Rettungsschwimmer stand, war mal wieder brechend voll, Mike Olsen verlieh in seinem Spielzeuggeschäft Sonnenschirme sowie Strandliegen an Touristen, der Duft von Luigi’s Pizzeria strömte durch die gesamte Ocean Avenue und ungefähr jedes dritte Geschäft war ein niedlicher Antiquitätenladen.
Das Ladenlokal, das sie nach einem kurzen Zögern betrat, war jedoch kein Antiquitätengeschäft, sondern das Immobilienbüro ihrer Mom.
Kühle Luft empfing sie, die sich wohltuend auf ihrer Haut anfühlte, nachdem sie fast dreißig Minuten durch die Stadt gelaufen war, in der es während der Mittagszeit nur wenige schattige Stellen gab. Die kalifornische Sonne Ende September war nicht zu unterschätzen. Da sich die Stadt zudem an ein hügeliges Terrain schmiegte, hatte Riley einen anstrengenden Spaziergang hinter sich.
Über ihr war die wohlvertraute Klingel zu hören, als sie die Tür öffnete, und noch einmal, als sie diese wieder schloss.
Hier hatte sich in den letzten Monaten nichts verändert, wenn man von dem neuen Pappaufsteller einmal absah, den ihre Mom bei jeder Besichtigung vor das entsprechende Haus stellte. Dass ihre Mom auf dem Pappaufsteller zu sehen war, hatte Riley niemals für peinlich gehalten. Eigentlich hatte sie es immer sehr cool gefunden, dass ihre Mom im Gegensatz zu den meisten Müttern ihrer Freundinnen und Freunde einen Job hatte und nicht nur Hausfrau war. Außerdem war ihre Mom als Immobilienmaklerin so erfolgreich, dass sie die schönsten, größten und teuersten Häuser der ganzen Gegend verkaufte, was wiederum bedeutete, dass Riley als Teenager in unzähligen Pools geschwommen war.
„Einen Moment, bitte. Ich bin sofort bei Ihnen und … Riley? Schatz, was … was machst du denn hier?“ Ihre Mom kam um die Ecke und blieb stehen – verblüfft zwinkernd und ein Telefon in der Hand.
Riley lächelte zurückhaltend und hob zur Begrüßung eine Hand, während sie näher trat und ihren Rucksack vor sich hertrug. „Überraschung“, verkündete sie gespielt fröhlich und deutete auf das Telefon in der Hand ihrer Mom. „Ich kann später vorbeikommen, Mom, wenn du jetzt keine Zeit hast.“
Ihre Mom, die für eine Immobilienmaklerin eher unkonventionell gekleidet war, weil sie ein Paar sehr modischer und sehr löcheriger Bluejeans sowie sommerliche Sandalen und eine kurzärmelige Bluse trug, verzog abfällig den Mund. „Sei nicht albern, Baby.“ Sie hielt sich das Telefon wieder ans Ohr und erklärte resolut: „Mr. Murphy, ich rufe Sie später zurück. Dann sprechen wir über das Angebot der Interessenten. Ja, genau. So machen wir es. Bye.“
Sobald sie das Telefonat beendet hatte, kam sie auf Riley zu und nahm sie in den Arm – schweigend und liebevoll und wunderbar vertraut.
Riley sog den Duft ihrer Mom ein, schlang die Arme um sie und schmiegte sich an sie, als hätte sie sie seit Ewigkeiten nicht gesehen und in dieser Zeit schrecklich vermisst. Und das war auch irgendwie der Fall. Dass sie sich jetzt in diesem Moment wieder wie zu Hause fühlte, sagte ihr, wie dumm sie in den letzten Monaten gewesen war.
„Hey, Baby“, murmelte ihre Mom und strich ihr über das Haar. „Ich bin so froh, dass du hier bist.“
„Ich auch.“ Schniefend machte sie sich von ihr los und rieb sich kurz über die Augen. „Ich hoffe, es ist okay, dass ich einfach ins Haus gegangen bin, um meine Sachen dort abzustellen.“
„Was für eine Frage, Schatz.“ Sie streichelte ihr über die Stirn und sah sie mit diesem weichen Ausdruck in den Augen an, mit dem ihre Mom sie schon angeschaut hatte, als Rileys Hamster gestorben war, als sie zum ersten Mal Liebeskummer gehabt hatte, und auch, als sie nach New York gezogen war.
Wenn Riley darüber nachdachte, welchen Kummer sie ihrer Mom in den vergangenen Monaten bereitet hatte, hätte sie sich selbst ohrfeigen können, schließlich war ihre Mom immer diejenige gewesen, auf die sie sich rückhaltlos verlassen konnte. Sie war immer für sie da gewesen, hatte sich mit ihrem Mathelehrer in der Grundschule angelegt, als der sie unfair benotet hatte, weil Mädchen angeblich nicht logisch denken konnten, und war nicht von ihrer Seite gewichen, als sie mit dreizehn Jahren einen Blinddarmdurchbruch gehabt hatte. Als Riley damals mitten in der Nacht in einem Krankenhauszimmer aufgewacht war, hatte sie nur ihre Hand ausstrecken müssen, um zu wissen, dass ihre Mom dort war, weil die einen unbequemen Stuhl ans Bett gerückt und neben ihr geschlafen hatte.
Und als Riley herausgefunden hatte, dass sie adoptiert war, hatte ihre Mom sogar verständnisvoll auf die Vorwürfe und die Wut reagiert, die Riley an ihr ausgelassen hatte.
„Es tut mir leid“, flüsterte sie, weil sie von Gefühlen überwältigt wurde, die sie während der letzten Tage mühsam unterdrückt hatte.
„Was denn, Baby?“
„Einfach alles.“ Bebend holte sie Luft. „Mir tut einfach alles leid, Mom. Ich war so dumm.“
„Du bist vieles“, entgegnete ihre Mom belustigt. „Aber dumm bist du sicher nicht, schließlich bist du meine Tochter.“
Dankbar sah sie sie an, gab jedoch zu: „Momentan komme ich mir aber ziemlich dumm vor.“
„Das tun wir alle doch hin und wieder“, tröstete sie Riley und griff nach ihrer Hand. „Was hältst du davon, wenn wir hier abschließen und ein bisschen spazieren gehen? Ich habe mir sagen lassen, dass es bei Donatellos wieder deine Lieblingssorte Eis zu kaufen gibt.“
Ihre Mundwinkel zogen sich hoch. „Pink Grapefruit?“
„Genau die.“
Wenig später schlenderten sie mit ihren Eisbechern über die Strandpromenade, genossen das schöne Wetter und fanden sogar eine freie Parkbank mit Blick auf den Ozean. Riley erinnerte sich daran, wie oft sie beide früher hierher spaziert waren, um Eis zu essen und sich zu erzählen, wie der Tag gelaufen war. Rückblickend war das eines ihrer schönsten Rituale gewesen.
Und sie liebte es noch immer, neben ihrer Mom zu sitzen und den Tag zu genießen.
„Wie war es in New York, Baby?“ Obwohl die Stimme ihrer Mom gelassen klang, verstand Riley, was sie sie eigentlich fragen wollte. Schließlich wusste ihre Mom, weshalb es sie nach New York gezogen hatte, warum sie bei den Titans zu arbeiten begonnen hatte und wen sie dort hatte kennenlernen wollen.
Riley kratzte langsam das letzte bisschen Eis aus ihrem Becher, steckte sich den kleinen Plastiklöffel in den Mund und stellte anschließend den leeren Pappbecher samt Löffel auf den Boden, bevor sie sich zurücklehnte und geradeaus auf den Strand blickte. „Ich habe meinen Job gekündigt“, eröffnete sie ihrer Mom schlicht.
Die legte ihr eine Hand aufs Knie und schaute ebenfalls geradeaus. „Ich verstehe.“
„Ich konnte dort einfach nicht mehr arbeiten, Mom.“
„Also hast du mit deinem Vater geredet?“, fragte sie vorsichtig.
Tief durchatmend legte sie ihre Hand auf die ihrer Mom. „Er ist nicht mein Vater – jedenfalls nicht der Vater, den ich mir vorgestellt habe. Mir ist klar geworden, dass er schon eine Familie hat und deshalb nicht daran interessiert war, mich kennenzulernen, nachdem ich ihm gesagt hatte, wer ich bin.“ Sie schluckte schwer. „Bei Alice war es genauso. Sie hatte mit mir abgeschlossen und war deshalb nicht daran interessiert, mit mir etwas zu tun zu haben. Das Treffen mit ihr hätte mir eine Lehre sein sollen. Dann wäre ich nicht nach New York gegangen und hätte mir einigen Kummer erspart.“
Ihre Mom schwieg einige Augenblicke, bevor sie fragte: „Willst du wissen, was ich denke, Schatz?“
„Ja“, murmelte Riley und schaute zu ihrer Mom. „Ja, das will ich, Mom.“
„Ich denke, dass es richtig war, sowohl deine Mutter als auch deinen Vater zu treffen. Mir tut es in der Seele weh, dich verletzt und traurig zu erleben, und ich hätte mir gewünscht, dass die Begegnung mit deinen leiblichen Eltern anders ausgegangen wäre. Aber ich kenne dich, Riley, und deshalb weiß ich, dass es dir keine Ruhe gelassen hätte, wenn du es nicht getan hättest.“ Sie verknotete ihre Finger mit Riley und fuhr sanft fort: „Es ist kein wirklicher Trost, mein Liebling, aber Ungewissheit ist nicht immer ein Segen.“
Riley betrachtete ihre ineinander verschlungenen Finger. „Weißt du, Mom, ich … ich bin einer Idealvorstellung hinterhergelaufen und hatte mich in die Idee verrannt, nicht mehr zu wissen, wer ich bin, als ich erfuhr, dass ich adoptiert war. Mich ließ die Frage einfach nicht los, ob ich eigentlich jemand anderes geworden wäre, wenn … wenn ich mit meiner biologischen Mutter und meinem biologischen Vater aufgewachsen wäre. Dass ich nicht die geworden wäre, die ich heute bin, hat mich völlig verrückt gemacht. Irgendwie glaubte ich, meine leiblichen Eltern kennen zu müssen, um auch mich zu kennen. Das klingt merkwürdig, ich weiß.“
„Nein, das tut es nicht.“
„Dass ich alles infrage gestellt habe, was mich ausmacht, tut mir leid“, flüsterte sie mit einem Kloß im Hals. „Damit habe ich vor allem dich infrage gestellt.“
„Ach, Baby.“
Zittrig schöpfte sie Atem. „Es war dumm, mich nach völlig fremden Menschen zu sehnen und mir vorzustellen, wie es wäre, wenn sie meine Familie wären. Ich habe bereits eine Familie, Mom, nämlich dich. Und alles, was mich ausmacht, habe ich dir zu verdanken. Von wem ich meine Augenfarbe oder das Grübchen im Kinn geerbt habe, ist egal. Du … du hast mein ganzes Wesen geprägt, meinen Charakter und mich dabei unterstützt, mich auf jede erdenkliche Art und Weise entfalten zu können. Das … das hatte ich völlig vergessen. Verzeih mir.“
Ihre Mom legte ihren freien Arm um sie. „Es gibt nichts zu verzeihen, Riley.“
„Aber ich habe dich angebrüllt“, widersprach sie schniefend. „Ich habe dir Dinge an den Kopf geworfen, die gemein und falsch waren und die dich verletzen sollten, weil … weil ich mich zu Unrecht von dir hintergangen gefühlt habe. Wenn du jetzt …“ Sie stockte und befürchtete, gleich zu ersticken, weil die beißenden Tränen mit aller Macht aus ihr herausbrechen wollten.
„Wenn ich was, Baby?“
„Wenn du mich jetzt nicht mehr liebst, dann …“
„Riley“, unterbrach ihre Mom sie fest. „Ich werde niemals aufhören, dich zu lieben. Es gibt nichts, was mich dazu bringen könnte, dich nicht mehr zu lieben.“
„Was ich zu dir gesagt habe, habe ich nicht so gemeint, Mom.“
„Das weiß ich doch, Liebling.“ Auch die Stimme ihrer Mom klang erstickt. „Du warst durcheinander und verletzt und du hattest Angst. Daran war ich schuld, weil ich dir nie gesagt hatte, dass du adoptiert warst.“
Riley legte den Kopf zurück und schaute ihre Mom fragend an. „Warum hast du es mir denn nie gesagt?“
„Weil es für mich nie wichtig war, Riley“, flüsterte ihre Mom sanft. „Deshalb bin ich fälschlicherweise davon ausgegangen, dass es auch nicht für dich wichtig sein könnte. Du warst von Anfang an mein Baby, mein geliebtes Kind. Ich hätte dich nicht mehr lieben können, wenn ich dich zur Welt gebracht hätte. Du warst nie meine Adoptivtochter, sondern meine Tochter. Und daran wird sich niemals etwas ändern.“
Leise schluchzte Riley auf und vergrub das Gesicht in der Halsbeuge ihrer Mom, während Erleichterung und Kummer zugleich in ihr aufstiegen.
Erleichterung darüber, sich mit ihrer Mom versöhnt zu haben. Und Kummer, weil die letzte Zeit verdammt schmerzhaft gewesen war und weil Riley wusste, dass dieser Schmerz auch noch sehr lange anhalten würde. Schließlich gab es eine Person in New York, die sie schrecklich vermisste.
„Du, Mom?“ Riley schluckte ihre Tränen hinunter und atmete tief durch. „Könnten wir heute Abend einen Mädelsabend machen? So wie früher, wenn ich Liebeskummer hatte und wir tonnenweise Pizza gegessen haben, während wir über Jungs gelästert haben, damit ich mich besser fühlte?“
„Natürlich können wir das.“ Ihrer Mom schien nichts zu entgehen, weil sie den Kopf schief legte. „Gibt es denn dafür einen Grund?“
„Sozusagen“, murmelte sie.