Der Zettel
Obwohl sie eine Klobrille unter dem Arm hatte, in der anderen Hand eine Einkaufstüte und im Mund den Autoschlüssel, gelang es Frau Tepes, die Haustür selber zu öffnen. Mihai hatte auf ihr Klingeln nicht reagiert. Entweder, das war ein gutes Zeichen und er schlief seit Langem mal wieder tief und fest. Oder aber es war ein schlechtes Zeichen und ihr Mann war gar nicht zu Hause und flatterte am helllichten Tag durch die Gegend. Das wäre nicht nur ein schlechtes Zeichen, sondern eine ganz schlechte Idee.
Immerhin hatte Elvira dieses Mal nicht auch noch den zappelnden Franz zu bändigen. Der wurde gerade von seinen beiden großen Schwestern durchs Wohnviertel geschoben. Hoffentlich hob er nicht samt Kinderwagen ab. Franz entwickelte sich wirklich wie im Flug.
Silvania und Daka liebten ihren kleinen Bruder über alles. Elvira war froh, dass die Zwillinge nicht eifersüchtig waren und Franz im Sarg einsperrten oder als Päckchen verschnürt nach Transsilvanien schickten. Oder ihm einen Feuerwerkskörper auf den Rücken banden, um zu sehen, wie weit er fliegen würde, wie sie es mit ihrem Cousin Woiwo getan hatten. Darauf war Tante Karpa noch heute nicht gut zu sprechen.
Nein, die großen Schwestern würden ihren kleinen Bruder niemals in Gefahr bringen, da war sich Frau Tepes sicher. Im Gegenteil, sie würden alles tun, damit Franz sicher und glücklich war. Die Idee mit dem Helm kam sogar von ihnen. Und deswegen waren Silvania und Daka die besten Babysitter, die eine Mutter sich wünschen konnte.
Mit diesem Gedanken schlüpfte Elvira ins Haus. Die Tür fiel hinter ihr ins Schloss, als sie die Klobrille und die Einkaufstüte im Gang abstellte. Jetzt würde sie sich erst mal einen Kaffee machen, Musik anstellen und zumindest zehn Minuten lang die Beine hochlegen und einfach nur an die Decke starren und mit den Zehen wackeln. Herrlich!
Elvira Tepes wollte gerade ihre Schuhe ausziehen, da sah sie ihn: den Zettel. Er lag am Fuße der Garderobe, direkt unter den Jacken. Ein Einkaufszettel? Ein Notizzettel? Oder vielleicht etwas Spannendes – Silvanias erster Liebesbrief! Elvira zögerte. Doch die Neugierde war größer als das schlechte Gewissen. Sie würde nur ganz kurz nachsehen, dass auch alles seine Richtigkeit hatte.
Sie bückte sich, hob den Zettel auf und faltete ihn auseinander. Es war kein Liebesbrief. Es war auch kein Einkaufszettel. Noch nicht einmal ein alter Parkschein. Sie las den Zettel einmal, las ihn zweimal, dann wurde ihr schwarz vor Augen. Elvira Tepes spürte ihre Beine nicht mehr und sackte in sich zusammen.
Mihai war zur Stelle, kam gerade noch rechtzeitig die Treppe hoch. Zur Beruhigung seiner blank liegenden Nerven hatte er im Keller mit Kopfhörern transsilvanische Heimatlieder gehört. Obwohl ihn Heimatlieder normalerweise in jeder Darbietungsform und Tonart friedlich und besinnlich stimmten, hatte es dieses Mal nicht funktioniert. Zum Glück für seine Frau.
Mihai hechtete in den Flur und fing Elvira auf, kurz bevor sie der Länge nach auf den Flurboden krachen konnte. Dann hob er sie hoch, flog mit ihr ins Wohnzimmer und legte sie auf die Couch. „Moi Miloba! Was hast du?!“
Mihai stupste seine Nase an Elviras Nase. Der Lakritzschneckenschnauzer kitzelte an ihrer Wange. Sie kräuselte die Nase. Die Augenbrauen zuckten. Schließlich öffnete sie die Augen.
„MIHAI!“ Als sie ihren Mann sah, war sie sofort wieder hellwach. Sie rappelte sich auf, hielt den Zettel in die Höhe und schnappte nach Luft. „WAS – ist – DAS?!“
„Ein Stück Papier. Meist wird es aus Holz gefertigt. Die pflanzlichen Fasern werden auf einem Sieb entwässert, es wird verdichtet, getrocknet und zum Schreiben, Bedrucken oder auch Falten benu–“
„Ich weiß, was Papier ist!“
Elvira Tepes hielt ihrem Mann den Zettel noch dichter vor die Nase. Erst jetzt bemerkte Mihai, was seine Frau da gefunden hatte. „Fumpfs!“ Der Zettel mit der furchtbaren Botschaft musste ihm irgendwann im Verlauf des Tages aus der Manteltasche gefallen sein. Offenbar war er so übermüdet und in Gedanken gewesen, dass er es nicht bemerkt hatte.
„Du sagst es! FUMPFS, Fumpfs, Fumpfs!“ Elvira fuchtelte mit dem Zettel herum, als wollte sie Ohrfeigen verteilen. „Was um alles in der Welt hat das zu bedeuten? Das ist ein Scherz, oder? Das kann nur ein Scherz sein!“
Mihai nahm Elvira den Zettel aus der Hand, blickte einen Moment auf den Text, schließlich hob er den Kopf. „Das ist kein Scherz. Leider. Es ist die bittere, grausame, erschütternde Wahrheit.“
Elvira starrte ihren Mann ungläubig an.
Mihai ertrug es nicht länger und wich ihrem Blick aus.
„Da steht … ich meine … du hast jemandem unseren Sohn versprochen?!“
Mihai zuckte hilflos mit den Schultern. „Wir hätten niemals einen Sohn bekommen dürfen.“
„Wie bitte? Willst du damit sagen, es ist unsere Schuld?“
„Nein! Allerdings … na ja, es hätte einfach nie passieren dürfen. Ich verstehe das noch immer nicht. Franz müsste eine Tochter sein.“
„Ist er aber nicht.“ Elvira zog plötzlich eine Augenbraue nach oben. „Ach, deswegen die rosa Strampler und der Quatsch mit Olga-Polka-holterdiepolter!“
„Na ja, ich dachte …“
„Wenn du nur lange und ernsthaft genug so tust, als wäre Franz eine Olga, dann würde sich dein Sohn in eine Tochter verwandeln?“
„Das natürlich nicht. Aber ich hatte gehofft, ich könnte ihn täuschen.“
„Wen?“
Mihai presste die Lippen aufeinander und schüttelte den Kopf.
„MIHAI! Du musst mit mir reden! Es geht um unseren Sohn.“ Elvira rutschte näher zu ihrem Mann und nahm seine Hand. „Wir schaffen das. Wir haben bis jetzt immer alles gemeinsam geschafft. Franz ist unser Sohn. Niemand wird ihn uns wegnehmen. Was auch immer du wem auch immer aus welchem Grund auch immer versprochen hast – du musst es mir erzählen! Nur dann kann ich helfen.“
„Ob du es weißt oder nicht, du kannst bei der Sache nicht helfen, glaub mir.“
„Franz ist nicht nur dein Sohn, sondern auch mein Sohn! Und ob ich helfen kann oder nicht, das möchte ich schon gerne selber entscheiden.“ Elvira nickte energisch.
„Ich weiß, dass du alles für deinen Sohn tun würdest, moi Miloba. Aber du verstehst nicht …. Er hat mich in der Hand. Es gibt keinen Ausweg. Ich habe eine Dummheit begangen, eine große Dummheit. Zwar ist das schon über hundert Jahre her, aber das macht die Dummheit nicht kleiner. Ich will nicht, dass du oder die Kinder davon erfahren. Ich könnte euch nicht mehr in die Augen sehen, ihr wäret enttäuscht.“
„Mihai, ich bin nur enttäuscht, wenn du mir nicht SOFORT alles erzählst! Enttäuscht und STINKWÜTEND!“ Elviras Kopf war mittlerweile knallrot und es fehlte nur noch, dass Dampf aus ihren Ohren schoss.
Mihai holte tief Luft. „Du willst es also wirklich wissen. Auch wenn du mich danach dahin schickst, wo der Knoblauch wächst?“
„Da schicke ich dich so oder so hin, wenn du nicht endlich mal mit der Sprache rausrückst!“
Mihai nahm die Hände seiner Frau zwischen seine. Er sah ihr fest in die Augen. „Gut. Ich erzähle es dir. Alles, von Anfang an. Die ganze, furchtbare Geschichte. Wahrscheinlich hast du recht, moi Miloba. Es ist an der Zeit, dass du von meiner dunklen Vergangenheit erfährst. Auch wenn ich es nicht will, so ist sie doch ein Teil von mir. Versprich mir nur eins: Die Kinder dürfen nie etwas davon erfahren.“
„Keine Angst, Silvania und Daka schieben Franz gerade durchs Wohngebiet. Wir sind allein zu Hause, völlig ungestört. Und von mir werden sie nichts erfahren.“
Mihai stand auf, holte für Elvira einen Kaffee mit einem Schwapp Milch und für sich einen Kaffee mit einem Schuss Blut. Dann stellte er sich an die Terrassentür, sah nach draußen und begann zu erzählen. Er würde seiner Frau vom furchtbarsten Fehler seines langen Vampirlebens berichten. Aber ihr dabei auch noch in die Augen sehen – das brachte er nicht übers Herz.
Elvira saß auf der Couch und vergaß den Kaffee in ihrer Hand, als sie Mihais Erzählung aufmerksam folgte. Mihai war in den Bildern seiner dunklen Vergangenheit versunken. Elvira lauschte ihm gebannt. Keiner der beiden ahnte, dass in diesem Moment noch jemand die Ohren spitzte.
Frau Tepes war nicht die einzige Zuhörerin. Unbemerkt von ihren Eltern waren Silvania und Daka vor ein paar Minuten nach Hause gekommen. Franz war vom Geruckel im Kinderwagen müde geworden und mit seiner Quietsch-Fledermaus im Arm eingeschlafen. Die Vampirschwestern hatten den Kinderwagen vor der Haustür abgestellt, das Sonnensegel über das Dach gespannt und waren leise ins Haus gegangen. Jetzt saßen sie auf der Treppe, die hoch zu ihrem Zimmer führte, und lauschten. Sie sollten die unglaublichste Geschichte ihres Lebens hören.