Der Betrug
Dr. Mörser saß in seinem alten Samtsessel und wartete. Er wartete auf die faszinierende Reaktion seines Körpers, die er bisher schon zweimal erlebt hatte. Er schloss die Augen und konzentrierte sich.
Das Baby hing kopfüber am Schraubstock. Es regte sich nicht.
Tinkturo Mörser konnte das elektrische Kribbeln kaum erwarten, das bei den Fingerspitzen anfing, sich wie eine Flutwelle über den ganzen Körper ausbreitete, bis er das Gefühl hatte, komplett unter Strom zu stehen. Wie sehnte er sich nach diesem Gefühl!
Doch nichts kribbelte. Noch nicht einmal die Härchen in seiner Nase.
Wieso dauerte das denn dieses Mal so lange? Normalerweise setzte die Reaktion sofort nach Spritzen des Gegengifts ein. Irgendetwas stimmte nicht! Etwas war anders als sonst. Dr. Mörser überlegte. Schritt für Schritt ging er die „Impfung“, wie er die Prozedur nannte, noch einmal in Gedanken durch.
Obwohl die letzte Impfung schon zweihundert Jahre her war, kannte er den Ablauf genau. Er hatte nichts verändert, nicht die kleinste Kleinigkeit. Lag es vielleicht am Gegengift? Doch bei der Herstellung war er genau nach Geheimrezept vorgegangen. Keinen Tropfen zu viel oder zu wenig hatte er gemischt.
Dennoch, irgendwo war dem Doktor ein Fehler unterlaufen. Nur wo? Wenn es nicht am Gegengift lag, er auch beim Ablauf nichts falsch gemacht hatte, dann konnte es nur …
Suchend glitt sein Blick durch die Werkstatt und blieb am Baby hängen.
Dr. Mörser stand auf, kniete sich vor Franz und musterte ihn. „Du bist schuld! Was hat dein Vater mit dir gemacht, dass es nicht funktioniert?“
Baby Franz gluckste.
„Was auch immer er getan hat, er hat mich betrogen!“ Dr. Mörser erhob sich. „Er hat sich nicht an die Abmachung gehalten.“ Dr. Mörser ließ sich nicht so einfach betrügen. Nicht, nachdem er jahrzehntelang auf die Einlösung des Versprechens gewartet hatte. Nicht, wenn sein Leben auf dem Spiel stand. Ohne die richtige Reaktion, ohne das elektrische Kribbeln, musste Dr. Mörser sterben. Sicher nicht heute oder morgen, aber irgendwann, wie alle Menschen. Das war schlimm genug. Denn er war nicht wie alle Menschen.
„Mihai Sanguro Furio Tepes, mit dir habe ich ein Fledermäuschen zu rupfen!“ Dr. Mörser ging schon auf die Wohnwagentür zu, als Franz ein paar ziemlich laute und ziemlich übel riechende Pupse abdrückte.
„Dich hätte ich fast vergessen.“ Einen Moment überlegte Dr. Mörser. Er konnte das Baby auf keinen Fall alleine im Wohnwagen lassen. Dazu war es noch viel zu klein und hilflos. Außerdem konnte Franz wer weiß was in seiner Werkstatt und seinem Labor anstellen. Womöglich klemmte er sich die Finger im Schraubstock, futterte eine Handvoll Muttern und spülte sie mit Putzmittel runter.
Das Baby mitzunehmen, erschien ihm allerdings auch nicht klug. Besser, Mihai wusste gar nicht, wo sein Sohn gerade steckte, und Dr. Mörser hatte ihn somit voll in der Hand.
Wohin dann aber mit Baby Franz? Sollte Dr. Mörser die nette Simona Zicklein fragen? Da erst warf er einen Blick auf den Bildschirm über der Tür. Dr. Mörser hatte außen am Wohnwagen mehrere Kameras angebracht. Die Rede vom sichersten Ort der Welt war kein Scherz gewesen.
Auf dem Bildschirm war eine Person zu sehen, die direkt vor der Wohnwagentür hockte, an einem Schnuller nuckelte, das Gesicht verzog und den Schnuller in einer Tasche verschwinden ließ.
„Das Parkverbot“, erinnerte sich Dr. Mörser. Ja, das war der freundliche Herr, vor dessen Haus er zu Beginn geparkt hatte. Warum auch immer er jetzt vor dem Wohnwagen hockte – Dr. Mörser war jede Hilfe und jeder Babysitter recht. Wenn der gute Mann sogar schon einen Schnuller dabeihatte, perfekt!
Dr. Mörser schnappte sich Baby Franz, riss die Wohnwagentür auf und sagte: „Pünktliche Babysitter! Die habe ich am liebsten. Hier, bitte sehr, da ist der kleine Racker.“
„Äh …“, machte Dirk van Kombast.
Dr. Mörser drückte ihm das Baby in den Arm, schob den frisch ernannten Babysitter in den Wohnwagen, rief „Bin gleich wieder da!“ und schloss die Tür hinter sich.