Vampire

Tinkturos Traum

Tinkturo Isaac Mörser wurde 1565 in einer kleinen Stadt an der Donau geboren. Er war das dritte von sechs Kindern. Er war das einzige Kind, das älter als zehn Jahre wurde. Es waren harte Zeiten. Tinkturos Mutter starb kurz nach der Geburt des sechsten Kindes. Tinkturos Vater war Barbier. Er rasierte reichen Herren das Gesicht. Tinkturo aber interessierte sich nicht für die Bärte anderer Leute. Sein Herz schlug, soweit er zurückdenken konnte, für die Wissenschaft.

Zuerst waren es die Tiere, die ihn faszinierten. Er beobachtete sie, fing sie ein und züchtete sie. Dann galt sein Interesse eine Zeit lang den Pflanzen. Er streifte durch Wälder, über Wiesen und wanderte in die Berge. Jeder noch so kleine Halm wurde genau gemustert. In einer wolkenlosen Sommernacht wurde sodann seine Begeisterung für die Sterne und das Weltall geweckt.

Je älter er wurde, desto größer wurde sein Wissensdurst. Chemie, Physik, Mathematik, Astronomie, Biologie und Medizin – nahezu alles interessierte ihn brennend. Und je mehr er erfuhr, desto tiefer wünschte er sich in die Wissenschaft einzudringen. Immer mehr wollte Tinkturo Isaac Mörser erfahren, verstehen und erleben. Befriedigte ihn eine Antwort, so nur für kurze Zeit. Meist warf die Antwort sofort wieder neue Fragen auf, die beantwortet werden mussten.

Bald beschlich Tinkturo eine böse Vorahnung: Er wollte so viel wissen und die Welt mit all ihren Wundern verstehen – niemals würde ein einziges Menschenleben dazu ausreichen. Er brauchte Zeit. Viel mehr Zeit, als ihm noch blieb. In diesem Moment fasste Tinkturo einen Beschluss: Er wollte ewig leben. Nur so konnte er alles bis aufs Mark erforschen. Nur so konnte er an den Fortschritten der Wissenschaft teilhaben. Er wollte Zeuge sein, wenn Menschen fliegen lernten, Krankheiten ausgerottet wurden oder der Ursprung allen Daseins gefunden wurde.

So kam es, dass sich Tinkturo Isaac Mörser auf die Jagd nach dem Schlüssel zum ewigen Leben machte. Er versuchte es mit Mixturen aus alten Überlieferungen, mit Rezepten von berühmten Hexen und mit Zeremonien uralter Naturvölker. Es war nicht verwunderlich, dass auch bald sein Interesse an Vampiren, den ewig Untoten, geweckt wurde.

Dr. Tinkturo Mörser hatte schon allerhand über Vampire gelesen und noch mehr über sie gehört. Er hatte großen Respekt und reichlich Angst vor diesen bissigen Nachtwesen. Niemals hätte er es gewagt, sich einem Vampir in feindlicher Absicht zu nähern. Doch wie sollte er diese mächtigen Blutsauger erforschen, wie sollte er mehr über ihre Unsterblichkeit erfahren, wenn er sie nie zu Gesicht bekam? Die einzigen Menschen, die damals freiwillig die Nähe von Vampiren suchten, waren Vampirjäger. Und eben einem solchen schloss sich Dr. Mörser 1615 an, ausgelöst durch seine Gier nach Wissen.

Dieser Vampirjäger war ein Draufgänger und Haudegen, wie ihn Dr. Mörser noch nie erlebt hatte. Völlig unerschrocken zog er durch die finsteren transsilvanischen Wälder. Es gelang ihm, eine ganze Vampirfamilie in eine Falle zu locken. Der Vampirjäger kannte keine Skrupel und keine Gnade. Er vernichtete die gesamte Vampirfamilie.

Dr. Mörser war so benommen und geschockt vom eiskalten Vorgehen des Vampirjägers, dass auch er es zunächst übersah: das Vampirbaby. Es hing kopfüber in einer Tanne, eingehüllt in ein schwarzes Tuch, und schlief friedlich. Es wusste noch nichts davon, dass seine gesamte Familie gerade mit einem Schlag ausgelöscht worden war. Mitleid überkam Tinkturo Mörser, er rettete das Baby und brachte es in Sicherheit, bevor der Vampirjäger es entdecken konnte.

Dr. Tinkturo Mörser nahm das Vampirbaby bei sich auf. Nie hätte er gedacht, dass ihm ein Kind so viel Freude bereiten würde. Er hatte keine eigenen Kinder, geschweige denn eine Frau. Durch den frühen Tod seiner Mutter und seiner Geschwister wusste er, wie weh es tat, einen geliebten Menschen zu verlieren. Vielleicht war das der Grund, warum er bisher gar nicht erst geliebte Menschen in sein Leben ließ. Beim Vampirbaby aber konnte er gar nicht anders. Er herzte und pflegte es, als wäre es sein eigenes Kind. Doch das Vampirbaby wurde immer wilder. Als es mit ungefähr acht Monaten seine ersten Eckzähnchen bekam, geschah, was geschehen musste: Das Baby biss Dr. Mörser.

Doch natürlich hatte der Doktor damit gerechnet. Er war vorbereitet. Zwar wollte Tinkturo Mörser ewig leben, aber auf keinen Fall als Vampir. Er wollte nicht von anderen Menschen gefürchtet und gehetzt werden, weil er sie biss und ihr Blut zum ewigen Leben brauchte. Als Vampir ewig leben – das konnte ja jeder! Nein, Dr. Mörser wollte als Mensch ewig leben.

Kaum hatte das Baby ihn gebissen, spritzte er sich ein Gegengift. Er hatte es selbst nach seinen neusten Erkenntnissen zusammengemixt. Allerdings war es noch in der Entwicklungsphase. Dr. Mörser hatte noch keinen einzigen Test durchgeführt. Doch was blieb ihm anderes übrig, wenn er nicht als Vampir enden wollte?

Er spürte die Wirkung des Gifts sofort: Ein Kribbeln breitete sich über seinen ganzen Körper aus, als würde ein Hagelschauer über ihm niedergehen. Das Gefühl war beängstigend und überwältigend zugleich. Es dauerte mehrere Minuten an. Dann verebbte es langsam.

Zunächst dachte Tinkturo Mörser, es wäre nichts weiter geschehen, das berauschende Kribbeln wäre die einzige Wirkung des Gegengifts. Erst als das Vampirbaby ihn seltsam ansah, trat er an einen Spiegel. Fassungslos starrte er sein Ebenbild an. Er war mindestens dreißig Jahre jünger geworden! Seine lichten grauen Haare waren wieder glänzend schwarz und dicht. Seine Haut nahezu faltenfrei. Sogar die Narbe auf der Stirn, die er sich bei einem chemischen Experiment vor fünf Jahren zugezogen hatte, war verschwunden!

Dr. Mörser brauchte eine ganze Weile, bis er vollends verstand, was geschehen war. Er führte monatelang Untersuchungen durch. An sich selbst und an Tieren, die das Vampirbaby gebissen hatte und denen er ebenso das Gegengift spritzte.

Schließlich ergaben seine Forschungen Folgendes: Er konnte sein Leben durch den Biss eines Vampirbabys und anschließendes Spritzen des Gegengifts um circa zweihundert Jahre verlängern. Ein Biss eines ausgewachsenen Vampirs hatte eine zu starke Wirkung. Es funktionierte nur mit Vampir-Milchzähnen.

Mit den Vampirbaby-Bissen verhielt es sich ähnlich wie mit Impfungen: Dr. Mörser musste sich zweimal im Abstand von sechs Monaten beißen lassen und dann sofort das Gegengift spritzen. Den Schlüssel zum ewigen Leben hatte der Doktor damit allerdings nur bedingt gefunden. Die Vampirbaby-Bisse verlangsamten den Alterungsprozess nur. Nach ungefähr zweihundert Jahren ließ die Wirkung allmählich nach. Dann brauchte Dr. Mörser eine neue „Impfung“. Dann brauchte er ein neues Vampirbaby.