Pfleger in Not
Lenny Brause war schon seit fünf Jahren Pfleger. Seit zwei Jahren arbeitete er im Luisenhaus. Aber so etwas hatte er noch nicht erlebt. Nur ein paar Minuten hatte er seine Lieblingspatientin Käthe Schneckenschuber alleine gelassen. Und Chaos war ausgebrochen!
Erst hatte ein erwachsener Mann mit verdächtigem Fleck auf der Hose und Baby im Arm auf dem Schoß der alten Frau gesessen. Obwohl Lenny sich nicht daran erinnern konnte, den Mann auf einer der Stationen des Luisenhauses gesehen zu haben, war eindeutig, dass er dort hingehörte.
Als Lenny dann mit einem Pfleger zur Verstärkung zurückgekommen war, waren Frau Schneckenschuber, der Fleckenmann und das Baby verschwunden. Dafür waren drei reichlich verwirrt und gehetzt wirkende Personen auf die Tür der Anstalt zugestürmt gekommen und hatten Fragen gestellt, die einem normalen Menschen nie in den Sinn gekommen wären.
Jetzt stand Lenny mit Oberschwester Ursel, Pfleger Chris und dem Reinigungsmann Jupp vor der Tür. Jupp war immer, wo was los war.
„So, und was, bitte schön, soll ich mir hier draußen ansehen?“ Oberschwester Ursel blickte sich umständlich um.
„Eben waren sie noch da“, sagte Lenny.
„So, so“, sagte Jupp.
„Wo ist denn die Patientin? Diese Frau Schnuppenhuber?“, fragte Oberschwester Ursel.
„Frau Schneckenschuber ist auch weg, das ist es ja!“ Lenny raufte sich die sonnengebleichten Haare.
„Caramba“, sagte Jupp.
„Sie ist abgehauen? Mit dem Rollstuhl? So etwas darf doch nicht passieren, Lenny!“, rief die Oberschwester.
„Nee, du.“ Jupp nickte.
„Wie ich Frau Schnupfenschuler kenne, ist sie direkt zur Bindau heruntergerollt, dort einem Matrosen auf einem Kahn in die Arme gesprungen und schippert jetzt schon kilometerlang Richtung Nordsee“, sagte Oberschwester Ursel. „Wir haben eine Aufsichtspflicht! Was sollen wir denn den Verwandten sagen?“
„Jo, nee“, sagte Jupp.
Lenny fummelte an seiner Hosennaht. „Ich finde sie wieder, machen Sie sich keine Sorgen. Vielleicht ist sie nur mal zur Tanke, Schokoriegel holen oder so.“
„Suchen Sie die alte Dame?“, fragte auf einmal eine Frau, die mit einem Mann und zwei Mädchen wie aus dem Nichts vom Flussufer her auftauchte.
Lenny nickte. „Im Rollstuhl. Graue Haare, sehr gepflegt. Blaues Kleid.“ Jetzt erkannte Lenny die Frau wieder. „Moment mal. Sie haben mich doch vorhin gefragt, ob ich einen Mann mit Baby auf einem Schleudersitz vorbeifliegen gesehen habe.“
Oberschwester Ursel sah Lenny an, als wollte sie ihm am liebsten ein Zäpfchen verpassen.
Jupp machte „Hä?“.
Im ersten Augenblick sagte niemand etwas. Dann begann Daka zu lachen. Silvania und Frau Zicklein stimmten ein, bis sich schließlich Dr. Mörsers dröhnendes Lachen daruntermischte. Selbst Baby Franz gluckste.
„Na, der Scherz scheint ja bestens gelungen“, stellte Oberschwester Ursel fest. „Haben wir den ersten April, oder was? Das geht alles von meiner Arbeitszeit ab. Da drinnen warten kranke Menschen auf mich. Was ist jetzt mit der Patientin? Haben Sie die auch im Scherz mal kurz um die Ecke gerollt?“
Dr. Mörser, dem es als Einzigem gelang, ernst zu werden, sagte: „Die Patientin ist wohlauf und in bester Verfassung. Sie hat lediglich einen kleinen Ausflug zum gegenüberliegenden Flussufer gemacht. Ich glaube, sie würde sich freuen, wenn Sie sie dort abholen.“
„Ja’n Ding!“, sagte Jupp.
„Aber wie ist sie denn da rübergekommen? Hier gibt es doch weit und breit keine Brücke“, sagte Lenny.
„Eben. Deswegen würde sie sich ja freuen, wenn Sie mal rüberschauen.“ Dr. Mörser klopfte Lenny auf die Schulter. Dann ging er mit Frau Zicklein Hand in Hand zum Wohnwagen, gefolgt von den Vampirschwestern samt Vampirbruder. Frau Zicklein stieg mit Silvania, Daka und Franz in den Kleinwagen.
Dr. Mörser setzte sich in den Wohnwagen. Er legte den Rückwärtsgang ein und der eben noch schiefe Laternenmast kippte wie in Zeitlupe ganz um, mitten auf ein sehr hübsches Blumenbeet. „Die Kosten für die Reparatur des Mastes übernehme ich natürlich“, rief Dr. Mörser den Angestellten des Luisenhauses zu. Dann legte er den Vorwärtsgang ein und folgte dem roten Kleinwagen.
Oberschwester Ursel schüttelte den Kopf. Je länger sie diesen Job machte und je länger sie auf dieser Erde war, desto sicherer wurde sie: Die wahrhaft kranken Menschen lebten nicht im Luisenhaus, sondern irgendwo da draußen.