Raster
»Gewöhnlich habe ich doch da immer jemand vor mir sitzen, da sehe ich bloß nach, dann weiß ich schon, was das ist. Aber, was tue ich mit Ihnen?« [1] Offenbar war ihr Name noch in keiner Gestapo-Kartei erfasst. Und selbst wenn sie dem jungen Kommissar auf die Sprünge hätte helfen wollen, ganz genau vermochte auch Hannah Arendt nicht einzuschätzen, weshalb sie und ihre Mutter an diesem Maimorgen während des Frühstücks in einem Café nahe dem Berliner Alexanderplatz in einen Wagen gezerrt und zum Verhör gebracht worden waren.
Gründe gäbe es genug. Den ganzen Frühling über hatte ihre Wohnung in der Opitzstraße als Versteck für politisch Verfolgte gedient. Und dann war da ja noch die Bitte ihres um eine Generation älteren Freundes Kurt Blumenfel d, für den nahenden Zionistenkongress in Prag »eine Sammlung aller antisemitischen Äußerungen auf unterer Ebene« anzulegen, die sie Tag für Tag in die Zeitungsarchive der Preußischen Staatsbibliothek führte. Auch derartige Materialien zu sammeln, war mittlerweile illegal.
Womöglich arbeitet man zur Abschreckung aber auch einfach nur Namenslisten ab – sowie Listen, die auf solchen Listen beruhten. Wie etwa dem Adressbuch Bertolt Brecht s. Bereits wenige Tage nach Hitler s Machtübernahme hatte es die Gestapo aus dessen Wohnung konfisziert. Ein Who’s who der kommunistisch gesinnten Intelligenzija Berlins, zu der auch Arendts Ehemann Günther Ster n gehörte.
Aus Furcht, der frisch gegründeten preußischen Hilfspolizei in die Hände zu fallen, war er bereits Anfang Februar aus Berlin nach Paris geflohen. Und tatsächlich, nur zwei Wochen später, als hätte der Reichstagsbrand in der Nacht vom 27. auf den 28. Februar 1933 das lang vereinbarte Startsignal gegeben, begannen die Wellen: willkürliche Verhaftungen, Verschleppungen in provisorische Konzentrationslager im Umland, selbst städtische Turnhallen wurden zu Folterkammern umfunktioniert. Allein in Berlin gab es mit diesem Sommer mehr als 200 solcher Orte. Der Naziterror hatte den Alltag erreicht. Die Zahl der Opfer ging bereits in die Tausenden.
Mehr als wahrscheinlich, dass eine Einheit der Gestapo just in diesem Moment ihre Wohnung durchsuchte. Aber was würden die Tölpel dort schon finden – außer Dutzende Notizbücher mit transkribierten griechischen Originalzitaten, die Gedichte Heine s und Hölderlin s sowie unzählige Werke zum Berliner Geistesleben des frühen 19. Jahrhunderts?
Soweit es die öffentlichen Register betraf, war sie eine unbescholtene Doktorin der Philosophie mit einem erst im Vorjahr ausgelaufenen Stipendium der Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft. Die klassische Berliner Existenz: Akademikerin ohne Einkünfte, Publizistin ohne Abnehmer. Natürlich verbringe sie jeden Tag in der Bibliothek. Was denn sonst? Schließlich ruhe die Forschung nie.
Selbst aus Arendts Mutter war, wie sich erweisen sollte, nichts Verwertbares herauszubekommen. Befragt auf die Aktivitäten ihrer Tochter, gab Martha Beerwal d (verwitwete Arendt) während ihres Verhörs vielmehr einen Elternsatz von schönster Solidarisierung zu Protokoll: »Nein, ich weiß nicht, was sie tut, aber was sie auch getan haben mag, es war richtig, und ich hätte es auch gemacht.« [2]
Noch am Tag der Festnahme [3] kommen beide wieder frei. Nicht einmal einen Anwalt hatten sie einschalten müssen. Glück gehabt. Für dieses Mal. Dennoch, auch Arendts Entschluss ist nun getroffen. Es gab in diesem Land keine Zukunft mehr. Jedenfalls nicht für Menschen wie sie.
Rahel s Fall
Dass es keineswegs nur an einem selbst lag zu entscheiden, wer und was man sei, wenige dürften in diesem ersten Sommer nach Adolf Hitler s Machtübernahme dafür ein klareres Bewusstsein besessen haben als Hannah Arendt. Am Beispiel der Berlinerin Rahe l Varnhagen ging sie seit drei Jahren den komplexen Identitätsdynamiken einer deutschen Jüdin und Intellektuellen zur Wende des 18. zum 19. Jahrhundert nach. Entstanden war so das Psychogramm einer Frau, in deren Existenz sich die spannungsreiche Geschichte des gebildeten deutschen Judentums beispielhaft verdichtete – vor allem in Bezug auf die Frage der Assimilation. In weiten Teilen collagenhaft als Zitatsammlung angelegt, zeichnet Arendt in diesem Buch den Bewusstseinsprozess einer Frau nach, der es durch die offensive Verneinung ihrer jüdischen Herkunft lange unmöglich bleibt, überhaupt ein stabiles Selbst- und Weltverhältnis aufzubauen. Als Mensch ihres Zeitraums, wie Arendt ja auch, in eine Situation dreifacher Marginalisierung geworfen – Frau, Jüdin, Intellektuelle –, führt Rahel s Weigerung, sich sozial als das anzuerkennen, was sie in den Augen der anderen unweigerlich ist und bleiben muss, zu einer Situation leidvoll erfahrener Selbstlosigkeit: »Rahel s Kampf gegen die Fakten, vor allem gegen das Faktum, als Jude geboren zu sein, wird sehr schnell zum Kampf gegen sich selbst. Sich selbst muß sie den Konsens verweigern, sich selbst, die Benachteiligte, verleugnen, verändern, umlügen, da sie ja nicht sich selbst einfach die Existenz bestreiten kann. … Es gibt – hat man erst einmal nein zu sich gesagt – keine Wahl. Es gibt nur eins: immer gerade und im Augenblick anders zu sein, als man ist.« [4]
Exemplarisch für ein gesamtes Zeitalter ist Rahel s Fall für Arendt auch insofern, als in ihrer Lebenssituation zwei Formen erforderten Mutes miteinander kollidieren: der aufklärerische Mut, sich des eigenen Verstands zu bedienen und sich in diesem Sinne als Vernunftwesen autonom zu bestimmen, sowie der Mut anzuerkennen, dass die Freiheit dieses Selbstentwurfs stets von geschichtlichen wie kulturellen Verhältnissen bedingt bleibt, von denen sich kein Individuum völlig distanzieren kann. In Rahel s eigenem Zeitraum drückt sich dies im Spannungsfeld zwischen aufklärerischen und romantischen Selbstwerdungsidealen aus: zwischen Vernunft und Geschichte, Stolz und Vorurteil, Denken und Gehorchen, zwischen dem Traum von der vollkommenen Selbstbestimmung des Ich und der letztlich unhintergehbaren Fremdbestimmung durch die anderen.
Nach Arendt kann die aufklärerische Vernunft zwar »von den Vorurteilen der Vergangenheit befreien, und sie kann die Zukunft des Menschen leiten. Nur leider genügt das offensichtlich nicht: sie kann nur individuell befreien, und nur die Zukunft von Robinsonen liegt in ihrer Hand. Das solchermaßen befreite Individuum stößt doch immer wieder auf eine Welt, eine Gesellschaft, deren Vergangenheit in Gestalt von ›Vorurteilen‹ Macht hat, in der ihm bewiesen wird, daß gewesene Wirklichkeit auch Wirklichkeit ist. Als Jüdin geboren zu sein, das mag für Rahe l nur auf längst Vergangenes hindeuten, mag im Denken ganz und gar ausgelöscht sein; als Vorurteil in den Köpfen anderer wird es doch zur leidigsten Gegenwart.« [5]
Kein Mensch entkommt der Geworfenheit in diese Spannung – und sollte nicht einmal vernünftig wünschen, es zu können. Wäre der Preis dafür doch in Wahrheit kein geringerer als der Verlust dessen, was überhaupt Welt und Wirklichkeit genannt zu werden verdient.
Aufgeklärt
Das Risiko des Weltverlusts im Namen einer sich als allzu rational gebärdenden Selbstbestimmung, mit dieser Mahnung an Rahe l stellt sich Arendt ganz bewusst in die philosophische Spur ihrer beiden prägenden akademischen Lehrer: Martin Heidegge r und Karl Jasper s. Bereits als Studentin in Marburg wurde Arendt durch Heidegger, mit dem sie ab 1925 auch ein über mehrere Jahre andauerndes Liebesverhältnis verband, für die blinden Flecken des modernen Welt- und Menschenbilds sensibilisiert. Denn der Mensch, wie Heidegge r ihn in seinem epochalen Werk »Sein und Zeit« beschrieb, war mitnichten ein vorrangig vernunftbegabtes »Subjekt«, sondern vielmehr ein grundlos in die Welt geworfenes »Da-Sein«. Er lebte als denkendes und vor allem handelndes Wesen auch nicht in einer stummen »Realität«, die er erst mit Sinngehalt zu versehen hatte, sondern in einer »Umwelt«, die für ihn schon immer bedeutungsvoll war. Wie auch wahre menschliche Autonomie für Heidegger fast nichts mit rein rationalen Entscheidungen, Berechnungen oder auch nur Regelvorgaben zu tun hatte, sondern mit dem Mut, sich in existentiell ausgezeichneten Grenz- und Sondersituationen selbst zu ergreifen.
All diese Motive trieben in den zwanziger Jahren auch Heidegger s damals engsten Denkvertrauten Karl Jasper s um, als sich Arendt 1926 in Heidelberg bei diesem zur Promotion vorstellte. Im Gegensatz zu Heidegger allerdings betonte Jaspers’ »Existenzphilosophie« weniger die Macht dunkler und stark vereinzelnder Gestimmtheiten, wie der Angst oder Todesnähe, als vielmehr die Möglichkeiten des Menschen, gerade durch die Kommunikation und Zuwendung zu anderen den Weg in ein helleres, freieres Leben zu finden. Diese Zuwendung war im Idealfall immer als dialogische zu denken und betonte somit die Notwendigkeit eines tatsächlichen Gegenübers, womit sie zugleich dessen gesichtslose Adressierung im Sinne des anonymen »man«, »der Öffentlichkeit« oder gar »der Menschheit« ausschloss.
Vollgesogen mit diesen Impulsen, erschließt sich Arendt ab Ende der zwanziger Jahre ein eigenes Deutungsfundament der menschlichen Situation, das ihr in Form und Inhalt eine äußert eigenständige Annäherung an den Fall der Rahel Varnhagen ermöglicht: War Rahel s Situation nicht wie geschaffen, beispielhaft eben jene Druckverhältnisse freizulegen, die in Wahrheit jedes moderne Dasein bedingen?
Vielstimmig
Sich mit Rahe l als Mensch selbst zu erkennen – für Arendt als Philosophin bedeutet dies die Zurückweisung jeder weltlosen und damit auch ahistorischen Vernunftkonzeption. Es bedeutet die Anerkennung, dass wahre Selbstfindung nur im Zeichen anderer Menschen zu erreichen ist, bedeutete ebenfalls den Verzicht auf jede abstrakte Rede von einem »Menschen an sich«. Nur konsequent also, dass Arendt konkrete Fallstudien rein abstrakten Analysen und Abhandlungen vorzog: Existenzphilosophie als vielstimmige Daseinsreportage.
Gleich mit den ersten Sätzen ihres Rahe l-Buches legt Arendt eindrücklich Beispiel von dieser Herangehensweise ab und begreift sich als Autorin des Jahres 1933 – exakt hundert Jahre nach Rahel s Ableben – an einem wiederum entscheidenden Wendepunkt der deutsch-jüdischen Geschichte.
Einem Quijote gleich, der, sein Leben lang in falschen Beschreibungen gefangen, auf der Suche nach sich selbst idealistisch durch die Welt irrte, kommt es auch bei der Romantikerin Rahe l Varnhagen auf dem Sterbebett zum Moment wahrer Erkenntnis und Selbstfindung: »›Welche Geschichte! – Eine aus Ägypten und Palästina Geflüchtete bin ich hier und finde Hilfe, Liebe und Pflege von Euch! … Mit erhabenem Entzücken denk’ ich an diesen meinen Ursprung und diesen ganzen Zusammenhang des Geschicks, durch welches die ältesten Erinnerungen des Menschengeschlechts mit der neuesten Lage der Dinge, die weitesten Zeit- und Raumfernen verbunden sind. Was so lange Zeit meines Lebens mir die größte Schmach, das herbste Leid und Unglück war, als eine Jüdin geboren zu sein, um keinen Preis möcht’ ich das jetzt missen‹.« [6]
Als Arendt diese Zeilen zu Papier bringt, steht auch sie vor einem tief greifenden Einschnitt ihres Lebens. Denn genau so, wie der wohlbehüteten Bürgerstochter Rahe l Varnhagen einst erst durch das Ereignis Napoleo n bewusst wurde, dass »auch ihre Existenz allgemeinen politischen Bedingungen unterstand« [7] , wurde Arendt als Denkerin durch das Ereignis Hitle r erst eigentlich für die Sphäre des Politischen sensibilisiert. Wie Varnhage n, die letztlich dazu fand, ihre Identität als Jüdin dankbar zu bejahen, wird auch Arendt im Verlauf ihrer Arbeit an diesem Buch immer wacher und hellhöriger für die spezifischen Ansprüche, Gefahren und auch parianahen Chancen, die sich aus ihrem lange eher unthematisch gebliebenen Jüdischsein ergeben.
Faktisch fielen die Prozesse ihrer Politisierung wie auch Sensibilisierung unter dem Druck des aufziehenden Naziregimes zusammen und führten nicht zuletzt auch zu ihrem von dem Zionisten Kurt Blumenfel d angeregten Engagement, als Rechercheurin Beispiele für die nunmehr alltäglich gewordenen antisemitischen Schmähungen in Deutschland zusammenzutragen.
Wer sie im eigentlichen Sinne war und zukünftig sein wollte, blieb indes noch immer offen. Nur so viel stand ihr klar vor Augen: dass diese Bestimmung nicht allein in ihren Händen lag; und dass die Erwartungen nach einer eindeutigen Antwort von allen Seiten stärker wurden. Als ob das polizeiliche Begehren nach absolut klarer Zuordenbarkeit über Nacht auf eine gesamte Gesellschaft übergegriffen hätte.
Deutsche Wesen
Exakt um diese Themen kreist zu Beginn des Jahres 1933 auch ein Briefaustausch mit ihrem Doktorvater Karl Jasper s. Wie Arendt war auch er vom Zeitgeist zur Ausarbeitung eines Psychogramms der besonderen Art inspiriert worden. Und auch bei Jaspers stand dabei die Identitätsfrage im Vordergrund. Schließlich fand er in der »nationalistischen Jugend soviel guten Willen und echten Schwung in verworrenem und verkehrtem Geschwätz«, dass er am Beispiel seines 1919 verstorbenen Heidelberger Professorenkollegen, des Soziologen Max Webe r, den Anspruch herausarbeiten wollte, »der darin liegt, ein Deutscher zu sein«.
Ganz bewusst in einem nationalistischen Verlag veröffentlicht, »um an die Leser zu kommen, die dieses erzieherlichen (!) Impulses bedürfen und sich danach sehnen« [8] , hatte ihr Jasper s seine Studie bereits im Herbst 1932 mit persönlicher Widmung zugeschickt. Ihr Titel: »Max Webe r – Deutsches Wesen im politischen Denken, im Forschen und Philosophieren« [9] . Arendt brütete monatelang über einer Antwort:
Berlin, den 1. Januar 1933
Sehr verehrter, lieber Herr Professor,
haben Sie meinen herzlichsten Dank für den Max Webe r, mit dem Sie mir eine große Freude bereitet haben. Daß ich Ihnen trotzdem erst heute für die Schrift danke, hat einen bestimmten Grund: Eine Stellungnahme ist mir von vorneherein durch Titel und Einleitung erschwert. Es handelt sich dabei nicht darum, daß Sie in Max Webe r den großen Deutschen, sondern daß Sie in ihm das »deutsche Wesen« darstellen und daß Sie dieses mit »Vernünftigkeit und Menschlichkeit aus dem Ursprung der Leidenschaft« identifizieren … Sie werden verstehen, daß ich als Jüdin dazu weder Ja noch Nein sagen kann und daß mein Einverständnis ebenso unpassend wäre wie eine Argumentation dagegen. … Für mich ist Deutschland die Muttersprache, die Philosophie und die Dichtung. Für all das kann und muß ich einstehen. Aber ich bin zu Distanz verpflichtet, ich kann weder dafür noch dagegen sein, wenn ich den großartigen Satz Max Weber s lese, zur Wiederaufrichtung Deutschlands würde er sich auch mit dem leibhaftigen Teufel verbinden. Und in diesem Satz scheint mir gerade das Entscheidende offenbar zu sein. … Trotz Haushalt komme ich gut zur Arbeit. Die Rahe l ist schon zu einem großen Teil fertig. [10]
Abgesehen davon, dass sich bereits mit dem Jahreswechsel 1932/1933 immer klarer abzeichnete, welche Form von Teufelspakt dieses Deutschland zu seiner »Wiederaufrichtung« einzugehen bereit stand, liegt das eigentlich Visionäre von Arendts Replik in der Verweigerung einer eindeutigen Positionierung. Zu einem Bekenntnis kommt es lediglich mit Blick auf das Faktum der Muttersprache sowie einer Tradition, die sie als denkendes Wesen überhaupt erst ins Leben gerufen hat. Nicht aber im Sinne von spezifischen Haltungen, Idealen oder gar Territorien. Menschen wie Arendt tragen ihre Heimat vielmehr in ihrem Herzen (und in Form von Büchern bald auch in Koffern) durch die Welt.
Gerade weil es ein so bestimmtes »Deutschland« aber in Prozessen der Lektüre und Reinterpretation immer wieder neu zu erschließen und zu verlebendigen gilt, lässt es sich nicht auf ein für alle Zeit fixiertes »Wesen« bestimmen. Seine »rettende Wiederaufrichtung« kann sich, wenn überhaupt, nur in Akten der verstehenden und damit wohlwollenden Aneignung vollziehen – und damit durch etwas, was jeden Pakt mit dem Teufel, sozusagen wesensgemäß, ausschließt.
In seiner unmittelbaren Antwort ermahnt Jasper s die ehemalige Schülerin, man könne als kulturelle Existenz ja »nicht allein aus der Negation, den Problematiken und Vieldeutigen leben« [11] . Doch will Arendt gerade zu Beginn des Jahres 1933 von einer geschichtlich-politischen Mission Deutschlands ebenso wenig raunen hören wie von einer einseitigen Vereinnahmung deutschsprachiger Juden in besagtes Traditionsgeschehen. Im Original an Jasper s vom 6. Januar 1933:
Ich bin natürlich dennoch Deutsche in dem Sinne, den ich schon schrieb. Nur kann ich das geschichtlich politische Schicksal nicht einfach hinzufügen. Ich weiß zu genau, wie spät und wie lückenhaft die Juden daran beteiligt worden sind, wie zufällig sie schließlich in die damals fremde Geschichte hineingekommen sind. … Deutschland im alten Glanze ist Ihre Vergangenheit, welches die meine ist, ist kaum mit einem Worte zu sagen; wie überhaupt jede Eindeutigkeit – sei es die der Zionisten, der Assimilanten oder die der Antisemiten – die wirkliche Problematik der Situation nur verdeckt. [12]
Wie aber wäre – gerade als deutsche Jüdin oder jüdische Deutsche – nun ein Leben vorstellbar, das sich nicht in die reaktive Falle begab, fortan »allein aus der Negation« zu leben, und sich gleichzeitig der zeitgeistprägenden Zumutung nach absoluter Eindeutigkeit entzog? Wie sähe ein Leben aus, das der Rahe l-Falle entging, ohne in die der vorbehaltlosen Bejahung und damit auch politischen Vereinnahmung zu tappen? Ein Leben mit Halt, aber ohne Geländer? Wo immer für Arendt die Antworten auf diese Fragen zu finden oder entwerfen waren – es würde nicht mehr in Deutschland sein können.
Hintertür
Gemeinsam mit ihrer Mutter wählt Arendt die klassische Route: vom Erzgebirge über die grüne Grenze in die Tschechoslowakei. Die politisch Verfolgten blieben meist in Prag, wo sich mit dem Frühling 1933 ein starkes Netzwerk des insbesondere sozialdemokratischen Widerstands gebildet hatte. Die Intellektuellen hingegen zogen in der Regel weiter über die Schweiz nach Frankreich. Mit dem Sommer des Jahres 1933 sind bereits um die 40 000 Menschen so geflohen, 20 000 davon nach Paris.
Wie um die neu gewonnene Position des »Dazwischen« am eigenen Leibe zu verkörpern, erfolgt der Grenzübergang über das Haus einer deutschen Sympathisantin, »dessen Eingang in Deutschland und dessen Hinterausgang in der Tschechoslowakei lag: sie empfing ihre ›Gäste‹ am Tage, gab ihnen zu essen und ließ sie dann im Schutze der Dunkelheit durch die Hintertüre hinaus« [13] . Hinaus aus Deutschland, in ein neues Dasein.
Rasend
Auch die Gymnasiallehrerin und Gewerkschaftsaktivistin Simone Weil hat sich im Sommer des Jahres 1933 endgültig von Deutschland verabschiedet. Dabei war sie nur ein Jahr zuvor kurz entschlossen von Paris nach Berlin gereist, um sich dort für einige Wochen ein eigenes Bild der Lage zu verschaffen. Schließlich müssten, wie sie ihre zehnteilige Reportage-Serie für eine Gewerkschaftszeitung einleitete, »alle, die ihre Hoffnungen auf einen Sieg der Arbeiterklasse gegründet haben, … ihren Blick derzeit nach Deutschland richten«. [14]
Was sie vor Ort in Berlin zu sehen bekommt, ist eine Nation am Boden. »In Deutschland verdienen ehemalige Ingenieure eine kalte Mahlzeit pro Tag durch Vermieten von Stühlen in öffentlichen Parks; Greise mit steifem Kragen und Melone betteln an den U-Bahn-Ausgängen oder singen mit gebrochener Stimme auf der Straße. Studenten verlassen die Universität, um Erdnüsse, Streichhölzer, Schuhriemen zu verkaufen … jeder erwartet, eines Tages in jenen erzwungenen Müßiggang geworfen zu werden, der das Schicksal von fast der Hälfte der deutschen Arbeiterklasse ist.« [15]
Mit anderen Worten ist die Stimmung in eben jenem Land, das über die bestorganisierte und zahlenmäßig stärkste Arbeiterbewegung Europas verfügt, klar revolutionär. Die dortige Linke zeigt sich indessen hoffnungslos gespalten und gelähmt. Anstatt sich den Nationalsozialisten geschlossen entgegenzustellen, führen KPD und Kommunistische Internationale, von Stali n und dem russischen Zentralkomitee gesteuert, lieber einen »sektiererischen Kampf gegen die Sozialdemokratie als ›Hauptfeind‹«. Die Folgen sind für Weil klar absehbar. »In Deutschland«, schreibt sie im Herbst 1932 einem befreundeten Gewerkschaftsfunktionär, »habe ich den letzten Respekt vor der Partei verloren … jede Duldsamkeit ihr gegenüber kommt einem Verbrechen gleich.« [16]
Nur ein Jahr danach ist es exakt so gekommen, wie von Weil in den Artikeln prognostiziert. Hitle r hat auf ganzer Linie gesiegt, die Säuberungswellen sind in vollem Gange. Nicht einmal flüchtenden Kameraden und Kameradinnen gewährt Stalin s Sowjetunion Asyl. Wer jetzt noch an die proletarische Revolution von Moskaus Gnaden glaubte, dem war nach Weils Sicht geistig nicht mehr zu helfen.
Revolutionär
Für die »Rote Simone«, wie sie bereits während ihres Philosophiestudiums gerufen wurde, ist dies indes nur ein Grund mehr, ihr politisches Engagement zu intensivieren: in der Flüchtlingshilfe, der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit, als Publizistin.
Nach Querelen an ihrem vormaligen Lycée in Auxerre – nur vier ihrer elf Schülerinnen bestehen dort die Abschlussprüfung in Philosophie – wird Weil als Lehrerin zum Herbst 1933 in das Städtchen Roanne (in der Nähe von Lyon) versetzt. Das Ministerium will die Aktivistin lieber in einer eher ruhigeren, bürgerlicheren Gegend wirken sehen. Ein schmales Deputat von zwölf Wochenstunden bei lediglich fünf Schülerinnen lässt auch dort ausreichend Zeit und Raum für das, was ihr eigentlich wichtig und dringlich erscheint. Wann immer möglich, nimmt sie den Zug in die Arbeitersiedlungen von Saint-Étienne, um für die dortigen Minenkumpel Abendkurse und Vorlesungsreihen zu halten. Basiswissen Geometrie, Einführung in die französische Literatur, »Grundlagen des wissenschaftlichen Sozialismus« – mit Blick auf die kommende Gesellschaft kann auf nichts davon verzichtet werden. Kaum 1,50 Meter groß, die Hände stets tief in den mit Tabak gefüllten Manteltaschen, eilt sie vom Bahnhof in die Gewerkschaftsräume; mehr als Notizen braucht sie zur Lehre nicht.
Nicht selten geht es mit den Kameraden auch noch in eine benachbarte Wohnung, wo Simone, als Zentrum eines Stuhlkreises, dann weiter frei über den potentiell alles entscheidenden Zusammenhang zwischen Produktionssteigerung und Produktionsmitteln referiert, die Versuchungen des cartesianischen Dämons veranschaulicht oder aus dem Gedächtnis Passagen von Home r und Aischylo s rezitiert. Hin und wieder stimmt sie auch in Arbeiterlieder schmutzigsten Inhalts mit ein. Allein mit dem Tanzen hat sie es nicht so. »Ich weiß doch nicht, wie das geht« [17] , sagt sie dann mehr zu sich selbst und schleicht schon bald aus dem Raum.
Kommt das Wochenende, marschiert sie, eingewickelt in eine rote Fahne, direkt mit an der Spitze der Protestzüge und stimmt aus vollem Halse die Internationale an. Nein, so leicht bringt »la Simone« niemand zum Schweigen. Nicht einmal die Störenfriede der stalinistischen Fraktion, die immer häufiger bei ihren Veranstaltungen auftauchen, um sie von der Bühne zu brüllen.
Selbst am Lycée de jeunes filles in Roanne geht der Kampf weiter. Als eine Kollegin ankündigt, für den Nachmittag einen Lesekreis anzubieten, in dem Materialen der Jugendorganisation Action Catholique studiert werden sollen, lässt sich Weil die Unterlagen eigens aus Paris zusenden und verkündet nach eingehendem Studium im Kollegium: »Wenn das hier durchgeht, biete ich morgen einen Lesekreis zum Rationalismus an.« Der Streit führt bis ins Direktorat. Das Ergebnis des Schlichtungsgesprächs ist nicht überliefert. [18]
Sorge
Doch gibt es da immer auch eine andere Simone. Und das nicht nur, wenn die Kopfschmerzen zurück sind. Mit geschlossenen Augen, die Hände an die Schläfen gepresst, sitzt sie nächtelang allein in ihrem Zimmer, schlaflos ob der hämmernden Kopfschmerzattacken, gefangen in Pein. Wie bei den vorigen Lehrerstationen in Le Puy und Auxerre begleiten die Eltern sie auch in Roanne die ersten Tage, helfen der 24-Jährigen bei der Suche nach einer neuen Bleibe, richten das Zimmer ein, sorgen für die Grundausstattung. Besser als jeder andere wissen Mutter »Mim e« und Vater »Bir i« um die wahre Zerbrechlichkeit ihrer Tochter, ihre geradezu selbstzerstörerische Alltagsferne und Askese.
In den fast täglichen Briefen finden sich immer wieder die gleichen elementaren Sorgen: Ist die Wohnung geheizt? Hast du gegessen? Dürfen wir dir Kleidung schicken? Fragen, auf die Simone allenfalls im Ton der aggressiven Abwehr reagiert: »Meine liebe Mim e, … ich verbiete dir hiermit ausdrücklich, mir ohne meine ausdrückliche Erlaubnis irgendetwas zu kaufen – es sei denn, ich hätte seit mehr als fünfzehn Tagen keine Nahrung zu mir genommen oder etwas in der Art.« [19] Zudem wissen die Eltern, wie Simone es seit Jahren mit ihrem Einkommen hält: Für sich selbst zweigt sie exakt die Summe ab, die arbeitslosen Fabrikarbeitern als staatliche Mindestunterstützung zusteht, den Rest verschenkt und spendet sie an bedürftige oder geflüchtete Kameraden.
Mit den Entwicklungen des Jahres 1933 gerät Weils Mutte r mehr und mehr in die Rolle der Privatsekretärin von Simones Solo-Flüchtlingshilfswerk. Neben ihrer Familienwohnung besitzen die Weils im siebten Stock des Gebäudes in der Rue Auguste Comte, nahe dem Jardin du Luxembourg, ein weiteres leer stehendes Apartment, das für die Flüchtlinge nun als Aufnahmezentrum dient.
Woche um Woche kündigt Weil ihrer Mutte r während dieses Herbstes brieflich die baldige Ankunft deutscher Flüchtlinge an, die ohne weitere Fragen aufzunehmen und finanziell zu unterstützen sind. Die Elter n tun stets, wie ihnen befohlen. Schon lange haben sie vor Simones Willen kapituliert und sehen ihre Rolle – Vater »Bir i« ist ein angesehener Arzt – vorrangig darin, das sonderbare Leben ihrer sonderbaren Tochter nach Kräften zu unterstützen und bis zu dem absehbaren Zeitpunkt eines abermaligen physischen Zusammenbruchs so reibungslos wie möglich zu gestalten.
Mit besonderer Hellhörigkeit – wie auch Sorge – werden sie die letzten Sätze eben jenes Essays ihrer Tochter gelesen haben, das im Herbst des Jahres 1933 wie ein Meteor in der Denklandschaft der französischen Linken einschlägt: »Nichts auf der Welt«, heißt es dort, »kann uns verbieten, klar zu sein. Kein Widerspruch ist vorhanden zwischen dieser theoretischen Aufklärungsaufgabe und den praktischen Kampfaufgaben; im Gegenteil, es gibt eine Wechselbeziehung, weil man nicht handeln kann, ohne zu wissen, was man will, und ohne die Hindernisse zu kennen, die zu besiegen sind. Da jedoch die uns zur Verfügung stehende Zeit auf jeden Fall begrenzt ist, muß man sie einteilen zwischen Reflexion und Aktion, oder bescheidener: Vorbereitung der Aktion … Wie dem auch sei, das größte Unglück für uns wäre unterzugehen, ohne erfolgreich zu sein und ohne verstehen zu können.« [20]
Dritte Wege
Der Affront, den Weils unter dem Titel »Perspektiven – Gehen wir einer proletarischen Revolution entgegen?« am 25. August 1933 erstmals in einer Gewerkschaftszeitschrift [21] veröffentliche Analyse bedeutet, ist massiver nicht zu denken. Ganz explizit nämlich hält sie darin die strukturelle Gleichartigkeit zwischen dem faschistisch gewordenen Deutschland sowie Stalin s Sowjetunion fest. In nur wenigen Monaten habe Hitle r in Deutschland …
ein politisches Regime errichtet, dessen Struktur ungefähr der des russischen Regimes entspricht, so wie es Tomsk i definiert: »Eine Partei an der Macht und alle anderen im Gefängnis.« Fügen wir hinzu, dass die mechanische Unterordnung der Partei unter den Führer in beiden Fällen die gleiche ist und jeweils von der Polizei gesichert wird. Aber die politische Souveränität ist nichts ohne die ökonomische Souveränität; daher zeigt der Faschismus die Tendenz, sich auch im ökonomischen Bereich, mit Hilfe der Konzentration jeder ökonomischen und politischen Macht in den Händen des Staatschefs, dem russischen Regime anzugleichen. [22]
Überdies beruhe die nach Weil historisch erstmalige Staatsform eines totalen Führerstaats auf einer neuen, technologisch gestützten Form der Unterdrückung, die sich dem ungeheuren Machtzuwachs einer neuen Klasse von überwachenden Funktionären verdanke. Und zwar Funktionären, die ihre Macht nicht etwa »um des Glücks der Unterworfenen willen ausüben, sondern zur Vermehrung eben dieser Macht« [23] . Damit aber fände sich der Rahmen des marxistischen Bildes vom Klassenkampf endgültig gesprengt.
In den neuen totalen Systemen à la Hitle r und Stali n, die der äußeren Wirtschafsform nach zum Staatskapitalismus, dem inneren Aufbau nach aber zum repressiven Überwachungsstaat tendieren, werde mithilfe der sich vorrangig selbst dienenden Funktionärsklasse sowie immer avancierterer Überwachungstechnologien eine, wie Weil es nennt, »bürokratische Diktatur« installiert, für die Stalins Sowjetunion das bislang eindrücklichste wie auch verheerendste Beispiel darstelle.
Kein Zustand könne deshalb weiter von einer wahren Arbeiterdemokratie entfernt sein. Schließlich sei völlig belanglos, wem die Produktionsmittel nun nominell gehörten (Arbeitern, Großkapitalisten, dem Staat), sofern sich an den faktischen Unterdrückungsverhältnissen nichts ändere. Wenn überhaupt, sei die Brutalisierung des Arbeitsalltags unter Stali n nur weiter vorangeschritten, begleitet von neuen katastrophalen Versorgungsengpässen.
Über Briefe und persönliche Gespräche mit russischen Geflüchteten ist Weil in diesem Herbst des Jahres 1933 über die Zustände in Stalin s Reich partiell im Bilde. In einem Brief an Mutter »Mim e« fasst sie ihren Informationsstand folgendermaßen zusammen: »Man sieht in Städten wie Magnitogorsk – einer Stadt ohne Arbeitslosigkeit –, wie Menschen mit bloßen Händen verfaulte Kartoffeln ausgraben und roh essen, wie die Arbeiter dort, bei Temperaturen von –40 Grad, in unbeheizten Baracken schlafen, dass in der Ukraine ganze Dörfer durch den Hungertod ausgelöscht sind, dass man dort eigens ein Gesetz erlassen musste, das die Verzehrung von Leichnamen mit der Todesstrafe belegt … und dass aus Angst vor dem Terror der Geheimpolizei (GPU ) keiner keinem mehr über den Weg traut, es wird von Schlangen berichtet, in denen Menschen von 8 Uhr morgens bis 2 Uhr mittags bei –35 Grad für eine Ration Kartoffeln anstehen.« [24]
Von dem epischen Grauen des sogenannten Holodomor – der Tötung durch Hunger – der Jahre 1932 und 1933 ist Weil nur ansatzweise unterrichtet. Dabei erlitten vermutlich um die vier Millionen Ukrainer einen qualvollen Hungertod, den Stalin s Administration gezielt herbeigeführt hatte. [25] Dennoch, ihre Briefe beweisen es: Wer im Frankreich des Jahres 1933 wirklich wissen will, was in der Sowjetunion vor sich geht, kann es wissen. Ein stilles, unheimliches Wissen, das Weils Analysen und Bewertungen beeinflusst.
Perspektivisch, schließt Weil den Text, ergebe sich für diese neue Staatsform mit ihren »monströsen Apparaturen« die Notwendigkeit, die Unterdrückung der Bevölkerung immer weiter zu verschärfen, und zwar am propagandistisch effektivsten im Namen des eigenen Volkes, das seine gesamte Arbeitsproduktion einem unnachgiebigen Überlebenskampf mit einem äußeren Feind unterordnen müsse. Dann erst schließt sich der Kreis der Unterdrückung des Individuums unter ein vollends anonymes Kollektiv, dessen einziges sichtbares Antlitz fortan das des Führers bildet.
Weil sieht keinen Weg und legt in ihrem Essay auch keinen frei, wie dieser Dynamik fortan Einhalt zu gebieten wäre. Als gute Sozialistin begnügt sie sich zum Abschluss damit, die eigentliche Mission des Sozialismus in Erinnerung zu rufen: »Daß wir dem Individuum, nicht dem Kollektiv den höchsten Wert zumessen. Wir wollen vollständige Menschen schaffen durch die Beseitigung der Spezialisierung, die uns alle verstümmelt. … Das Individuum sieht sich brutal der Kampf- und Arbeitsmittel beraubt; weder der Krieg noch die Produktion sind heute möglich ohne eine totale Unterwerfung des Individuums unter das kollektive Machtpotential … Die Unterordnung der Gesellschaft unter das Individuum, das ist die Definition der wirklichen Demokratie, folglich auch des Sozialismus.« [26]
Heilsarmee
Exzessive Bürokratisierung, Entfremdung des Parteiapparats von der Basis, blinde Einstimmigkeit … mit solchen Kritikpunkten am Verlauf der Russischen Revolution stand Simone Weil im Lager der damaligen Linken an sich nicht allein da. Genau genommen handelte es sich exakt um die Punkte, die auch Leo Trotzk i seit dem Ende der zwanziger Jahre gegen seinen ehemaligen Kampfgenossen Josef Stali n vorbringt. In der Sowjetunion bald als »jüdischer Verschwörer« und »Lakai des Faschismus« gebrandmarkt, wird er zunächst nach Kasachstan verbannt und muss 1929 in die Türkei flüchten. Im Juli 1933 schließlich hatte ihn sein Weg, begleitet von seiner Frau Natalia Sedow a und deren ältestem Sohn Lew Sedo w, ins Exil nach Barbizon geführt, eine Kleinstadt südlich von Paris. In ständiger Geldnot und per Erlass aus Moskau mittlerweile seiner Staatsbürgerschaft beraubt, lebt er – unter strengen Auflagen und ständiger Angst vor den Häschern des sowjetischen Geheimdiensts – als freier Publizist. Und strickt im Geheimen weiter an dem Aufbau einer Vierten Internationale, deren erklärtes Ziel die kommunistische Weltrevolution bleibt.
Eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten Frankreichs ist ihm dabei von der Regierung Daladie r ebenso streng untersagt wie Aufenthalte in Paris. Die Sache war also riskant, bedurfte ausgiebiger Planung sowie höchster Geheimhaltung. Nicht zuletzt »Bir i« sträubt sich lange, knickt nach Simones wiederholtem Insistieren aber erwartungsgemäß ein.
Zum Jahreswechsel ist es schließlich so weit. Mit neuer Frisur, geschorenem Bart und bis weit ins Gesicht hochgeschlagenem Kragen bezieht Leo Trotzk i – begleitet von zwei Leibwächtern sowie Sohn und Gattin – im besagten siebten Stock der Rue Auguste Comte Quartier. Nach kurzer Besichtigung ist klar: Die Wohnung der Weils taugt. Lediglich um einen zusätzlichen Sessel wird gebeten, als weitere Sitzmöglichkeit für die Leibwächter, die mit entsichertem Revolver im Schichtwechsel das Schlafzimmer des Ehepaars Trotzki bewachen.
Es waren Simones Rolle als Flüchtlingshelferin und ihr früher Kontakt zu Trotzki s Sohn Lew (von allen nur der »Kronprinz« genannt), die dazu führen, dass es nun ausgerechnet im Wohnhaus der Weils zu einem ersten Treffen eines neuen Führungsstabs der nahenden Weltrevolution kommen soll. Bereits seit Juli stehen Weil und Lew in Briefkontakt, was Vater Le o (in Weils Kreisen »Papa« genannt) indes nicht davon abgehalten hatte, höchstpersönlich auf die von Weil publizierten Thesen zu der sogenannt »proletarischen Revolution« zu reagieren. Am 13. Oktober 1933 publiziert er in der Zeitschrift »La Verité« unter dem Titel »Die Vierte Internationale und die UDSSR « einen Beitrag, in dem er die Analysen und Schlussfolgerungen, die Simone Weil vorgebracht hatte, scharf und entschieden zurückweist: »Aus Enttäuschung über einige missliche Erfahrungen in Zusammenhang mit der Diktatur des Proletariats«, heißt es dort, »hat Simone Weil nun Trost in einer neuen Mission gefunden: die eigene Persönlichkeit gegen die Gesellschaft zu verteidigen. Eine Formel des alten Liberalismus, aufgefrischt in Form eines übersteigerten Anarchismus, wie er derzeit wohl offenbar Mode ist. Fehlt nur noch auf den Hochmut hinzuweisen, mit dem Simone Weil dabei von unseren ›Illusionen‹ spricht! Für sie und die Ihren braucht es noch zahlreiche Jahre, bis sie sich von den reaktionärsten kleinbürgerlichen Vorurteilen befreit haben werden.« [27]
»Papa« war also alles andere als amüsiert. Weshalb es auch nicht schwerfällt, sich den inneren Widerwillen vorzustellen, mit dem er auf das Wohnungsangebot eingegangen sein wird. Doch auch in Weil brodelt es gehörig. Mochte dieser mutige Mann auch einst eine revolutionäre Millionenarmee befehligt haben, ein gutes Argument ersetzt das keineswegs!
Trotzki s Stimme ist bis in die unteren Etagen zu hören. [28] Und allemal erregt genug, dass auch Natalia Sedow a, die bei »Mim e« und »Bir i« derweil zum Tee sitzt, nur mit dem Kopf schütteln kann: »Dieses Kind wagt es tatsächlich, Trotzki die Stirn zu bieten …«
Simone Weils Notizen, die sie unmittelbar nach diesem Zwiegespräch mit Leo Trotzk i am 31. Dezember 1933 niedergeschrieben hat, konzentrieren sich tatsächlich auf sämtliche Streitpunkte, die den linken Diskurs auf Jahre und Jahrzehnte hinaus prägen sollten: Welche Mittel waren zum Erreichen des revolutionären Endzwecks gestattet – oder gar erfordert? Insbesondere in Bezug auf die Frage nach dem unbedingten Wert jedes einzelnen menschlichen Lebens: Wie viele Eier durften oder mussten zerschlagen werden, um das revolutionäre Omelett zuzubereiten? Oder war bereits mit solch entmenschlichenden Redewendungen der entscheidende Tabubruch begangen, das Tor in den millionenfachen Terror aufgestoßen?
Simone Weil war davon zutiefst überzeugt. Trotzk i, er hatte es mehrfach selbst bewiesen und wohl auch beweisen müssen, zeigte sich diesbezüglich durchaus flexibel gestimmt. Was Weil ihm anhand des »Kronstädter Matrosenaufstands« von 1921 – in dessen Folge Trotzk i persönlich Anweisung gegeben hatte, 1500 der aufständischen »Konterrevolutionäre« sofort zu exekutieren – zu Beginn ihres Gesprächs auch direkt vorhielt. »Na, wenn Sie so denken, warum gewähren Sie mir hier überhaupt Unterkunft. Sind Sie etwa von der Heilsarmee?« [29]
Eine in der Nachbetrachtung geradezu prophetische Frage, die allerdings nur den Auftakt einer Auseinandersetzung bildete, in der sich Trotzk i zunehmend in die leicht paradoxe Rolle gedrängt sah, im Namen der Revolution gerade jene Personen zu verteidigen, die ihm nun direkt nach dem Leben trachteten: »Ich habe Stali n nichts vorzuwerfen (abgesehen von Fehlern im Rahmen seiner eigenen Politik) … Es ist viel erreicht worden: für die Arbeiter (die Frauen, Kinder) … der russische Arbeiter kontrolliert die Regierung in dem Maße, in dem er sie toleriert, denn er zieht diese Regierung einer Rückkehr der Kapitalisten vor. Das ist das Siegel seiner Herrschaft!«
Ach so, hakt Weil nach, ob man daraus auch schließen dürfe, dass die Arbeiter anderswo ihre Regierung ebenfalls im Modus des Tolerierens kontrollieren, zum Beispiel in Frankreich oder Deutschland … »Sie Idealistin, Sie nennen also die herrschende Klasse eine versklavte Klasse … Warum eigentlich müssen Sie an allem zweifeln?«
Jedenfalls Trotzk i gibt sich selbst am Ende dieses Gesprächs einmal mehr todsicher: »Ich glaube nicht nur daran, dass die neue linke Opposition die Revolution erreichen wird, ich bin dessen sicher!« Und genau diese Botschaft gibt er auch den Eltern Weils nach erfolgtem konspirativen Treffen mit seinen Mitstreitern aus ganz Europa zum Abschied mit auf den Weg: »In Ihrer Wohnung hat die Vierte Internationale ihren Anfang genommen!« [30]
Testament
Mit dem Jahresbeginn 1934 hat Simone Weil für sich ebenfalls zu neuer Gewissheit gefunden. Allerdings mit entschieden anderer Ausrichtung. Am 6. Februar 1934 kommt es in Paris zu schweren Krawallen und Straßenschlachten mit zahlreichen Todesopfern und mehreren Tausend Verletzten. Mitten in der tiefsten Wirtschaftskrise war ein umfangreicher Bank- und Börsenbetrug aufgeflogen. In Form eines Schneeballsystems hatte ein gewisser Alexandre Stavisk y mehrere Hundert Millionen Francs öffentlicher Gelder veruntreut und war dabei anscheinend auch von Lokal- und Regierungspolitikern der Linken gedeckt worden. Ein gefundenes Fressen für die rechte Kampfpresse, die es sich nicht nehmen lässt, neben dessen sozialistischen Freunden auch die jüdisch-ukrainische Herkunft des Betrügers besonders herauszustellen. Noch am Tag nach den Unruhen tritt Premierminister Édouard Daladie r, Mitglied der Parti Radical Socialist, nach nur sechs Tagen erneut im Amt als Chef seiner nun so genannten »Regierung von Mördern« zurück. Die politische Lage stabilisiert das kaum.
Wenige Tage danach schreibt Weil ihrer guten Freundin (und späteren Biographin) Simone Pétremen t aus Paris in die Schweiz: »Hier keine Neuigkeiten, abgesehen davon, dass das Land auf dem direkten Weg in den Faschismus ist oder zumindest einer sehr reaktionären Diktatur: Aber das weißt du ja alles. Sämtliche Informationen aus Russland sind ebenfalls niederschmetternd. Und was Deutschland betrifft, besser kein Wort davon. … Ich habe beschlossen, mich vollständig aus der Politik zurückzuziehen, abgesehen von theoretischen Forschungen. Dies schließt allerdings in keiner Weise die etwaige Beteiligung an einer großen, spontan entstehenden Massenbewegung aus (im Rang der Mitläuferin, als Soldatin), aber fortan will ich keine Verantwortung mehr übernehmen, so gering sie auch sein mag, nicht einmal in indirekter Form, denn ich bin sicher, dass all das Blut, das vergossen werden wird, vergebens vergossen werden wird, und dass die Schlacht im Vorhinein verloren ist.« [31]
Die kommenden Monate will Weil ihre gesamte geistige Energie einem Essay widmen, den sie Freunden gegenüber als ihr »geistiges Vermächtnis« bezeichnet. Weil ist damals 25 Jahre alt. Sein Titel taugte auch als prophetische Überschrift für das gesamte kommende Jahrzehnt: »Reflexionen über die Ursachen der Freiheit und sozialen Unterdrückung«. [32]
Bedroht
Als Simone de Beauvoirs Kollegium am 12. Februar 1934, wie vier Millionen andere Franzosen und Französinnen auch, geschlossen dem Aufruf der Gewerkschaften zum Generalstreik folgt, überlegt sie »nicht einmal, ob ich mich ihnen anschließen sollte, so fern stand ich jeder politischen Tätigkeit.« [33] Schließlich bedeutet zu streiken, sich mit den Interessen anderer berufstätiger Menschen solidarisch zu zeigen. Genau dazu aber fehlt Beauvoir jeder innere Impuls. Weder ist sie bereit, sich »mit der Lehrerin zu identifizieren, die ich war« [34] , noch vermag sie in dieser Phase ihres Lebens zu begreifen, wozu das Dasein anderer Menschen überhaupt gut sein sollte. »Die Existenz des Anderen«, schreibt sie in der Rückschau, »blieb für mich stets eine Gefahr … ich blieb immer in Abwehrstellung. Bei Sartr e hatte ich mich aus der Affäre gezogen, indem ich erklärte: ›Wir sind eins‹. Ich hatte uns beide in den Mittelpunkt der Welt gestellt. Um uns kreisten widerwärtige, lächerliche oder spaßige Personen, die keine Augen hatten, mich zu sehen: ich war der einzige Blick. Deshalb setze ich mich auch ungeniert über die Meinung anderer Leute hinweg.« [35]
Seit knapp fünf Jahren bilden Jean-Paul Sartr e und sie nun schon ein Paar der besonderen Art: vereint in vollkommener geistiger Hingabe bei gleichzeitig gewährter Offenheit für andere Erfahrungen und Abenteuer. Im Jahr 1929 hatten sie bei den landesweiten Abschlussprüfungen für Philosophielehrer (Agrégation) die ersten Plätze belegt [36] und wurden darauf, wie es den Regeln des Systems entsprach, für die ersten Lehrjahre von Paris in die Provinz entsandt.
Zumindest in dieser Hinsicht bedeutete Beauvoirs 1932 erfolgte Versetzung von Marseille nach Rouen eine Rückkehr ins Zentrum der eigenen Existenz. Denn Sartr e unterrichtete zu dieser Zeit in der nördlichen Hafenstadt Le Havre, nur noch eine Zugstunde entfernt. Paris war an den Wochenenden ebenfalls viel leichter zu erreichen.
Doch selbst diese neu gewonnene Nähe vermochte nicht den gefühlten Abgrund zu überbrücken, der ihr Leben prägte. Zumal es mit dem literarischen Schreiben nicht recht werden wollte. Wieder und wieder konzipiert sie in den Cafés von Rouen Romane, verwirft die Anfänge indes schon nach wenigen Wochen; schildern sollten sie die gesellschaftlichen Druckverhältnisse, die sich für Frauen ihres Milieus ergaben, sobald diese nach einer wahrhaft freien Existenz streben.
Die Andere
Man kann die Lebenssituation dieser 26-jährigen, intellektuell hoch veranlagten Philosophielehrerin zunächst auch deutlich prosaischer beschreiben: Trotz ihrer tiefen und einzigartigen Beziehung zu dem zwei Jahre älteren Jean-Paul Sartr e hat sie ihre eigene Stimme, ihren Sitz und Halt im Leben noch nicht gefunden. Weder beruflich noch literarisch. Weder politisch noch philosophisch. Nicht einmal erotisch.
Offenbar gärte ein unerhörtes, ganz anderes Ich in ihr. Sie leidet, zumal es in ihrem Umfeld gleichaltrige Frauen gibt, die bereits viel weiter wirken. Etwa die in kommunistischen Gruppen stark engagierte Colette Audr y, als einzige Kollegin am Ort, mit der Beauvoir so etwas wie Freundschaft sucht. Sowie natürlich Audrys engste Kameradin:
Colette … berichtete mir manchmal von Simone Weil, und obgleich ich es nicht gerne zuließ, drängte sich diese Fremde in mein Leben: Sie war Lehrerin … Man erzählte, sie wohne in einer Rollkutscherherberge und lege am Ersten jeden Monats ihr Gehalt auf den Tisch: jeder konnte sich bedienen. … Ihre Intelligenz, ihr Asketentum, ihr Extremismus flößten mir Bewunderung ein; ich wußte, umgekehrt würde es nicht so sein, hätte sie mich gekannt. Ich konnte sie nicht für mein Universum annektieren und fühlte mich vage bedroht. [37]
Bereits mit 19 Jahren, als Beauvoir ihr Philosophiestudium an der Sorbonne antritt, beschreibt sie den Gegensatz zwischen dem »Selbst und den anderen« als die sie eigentlich treibende Fragestellung. [38] Und genauso, wie ihr der tief in seiner eigenen Kreativität ruhende Sartr e während der Studienzeit zum beglückend »großen Gleichen« wird, nimmt die Existenz ihrer Kommilitonin Simone Weil in dieser Zeit die Position der »großen Anderen« ein.
Wie zwei Magneten stießen die beiden einander gleich bei der ersten Begegnung entschieden ab: »Eine große Hungersnot hatte China heimgesucht, und man hatte mir erzählt, daß sie (Weil) bei der Bekanntgabe dieser Nachricht in Schluchzen ausgebrochen sei: Diese Tränen zwangen mir noch mehr Achtung für sie ab als ihre Begabung für Philosophie. Ich beneidete sie um ein Herz, das imstande war, für den ganzen Erdkreis zu schlagen. Eines Tages gelang es mir, ihre Bekanntschaft zu machen. Ich weiß nicht, wie wir damals ins Gespräch gekommen sind; sie erklärte in schneidendem Tone, dass eine einzige Sache heute auf Erden zähle: eine Revolution, die allen Menschen zu essen geben würde. In nicht weniger peremptorischer Weise wendete ich dagegen ein, das Problem bestehe nicht darin, Menschen glücklich zu machen, sondern für ihre Existenz einen Sinn zu finden. Sie blickte mich fest an. ›Man sieht, daß Sie noch niemals Hunger gelitten haben.‹ Damit waren unsere Beziehungen auch schon wieder zu Ende.« [39]
Weils Wille zur absoluten Identifikation mit dem Leid aller anderen, gerade auch Fernsten trifft dabei auf Beauvoirs angestrebt absolute Identifikation des eigenen Ich mit sich selbst und ihrem Nächsten – gegen alle anderen. Für Beauvoir verbirgt sich hinter der Herausforderung, »einen Sinn für die Existenz der Menschen zu finden«, in Wahrheit ein Doppelproblem: Erstens: Worauf gründet eine sich als sinnvoll erfahrende Existenz? Und zweitens: Welche Rolle wird oder soll dabei die Existenz anderer Menschen spielen? Anders gefragt: Welchen Sinn, wenn überhaupt, gebiert deren offenbare Existenz für die eigene Existenz?
Soweit es sie und ihren Lebenssinn auf dieser Welt betrifft, ist die Existenz Sartre s vollkommen ausreichend. Dem Rest konnte mit gleichgültiger Ironie begegnet werden; wo aber nicht, taten andere vor allem eines: Sie störten ganz gewaltig.
Eingekapselt
Beauvoirs bis dato lebensprägender Unwille, sich in andere Menschen empathisch hineinzuversetzen oder auch nur anzuerkennen, dass sie ebenfalls existierten, geht weit über eine nur psychologische Eigenheit hinaus. Schließlich war das gesamte Gebäude der modernen Philosophie – von René Descarte s ausgehend – von dem Zweifel belastet, woher und wie man als ganz in seinem eigenen Denken eingekapseltes Subjekt überhaupt wissen konnte, dass auch andere denkende Subjekte existierten. Buchstäblich in sie hineinkriechen ließ sich schließlich nicht. Alles, was in Bezug auf das Bewusstseinsleben anderer Menschen blieb, waren Rückschlusse auf der Basis ureigener Erfahrungen. Ganz nach dem Motto: »An seiner oder ihrer Stelle würde ich jetzt Folgendes erfahren, denken, spüren …« Wie Descartes aber in seinem Grundlagenwerk »Meditationen« [40] ein für alle Mal gezeigt zu haben schien, konnten diese Schlüsse falsch sein – ja, im Extremfall sogar jeder wirklich begründbaren Basis entbehren. Einmal in der Kunst philosophischer Skepsis ausreichend geübt, konnte einem an dem gezeigten Verhalten anderer Menschen damit nichts und niemand Gewissheit verschaffen, dass es sich bei all den anderen ebenfalls um denkende und empfindende Wesen handelte. Schließlich konnte es sich auch um bloße Automaten oder Roboter ohne wirkliches Innenleben handeln: In Descarte s Worten aus dem 17. Jahrhundert:
… oft sehe ich zufällig vom Fenster aus Menschen auf der Straße vorübergehen, von denen ich ebenfalls gewohnt bin zu sagen, ich sehe sie – und doch sehe ich nichts als Hüte und Kleider, unter denen sich ja auch Automaten verbergen konnten. [41]
Buchstäblich eine Beschreibung der Haltung, die auch Beauvoir und Sartr e als gedanklich tief vorverständigtes Pärchen in den Cafés von Rouen, Le Havre und Paris an den Tag legten. Die anderen existieren für sie nicht wirklich als Menschen. Sie beide sind die einzigen wirklich empfindenden Wesen. Der Rest der Menschheit dient nur als Kulisse zur Anregung der eigenen Gedankenspiele. Eine ebenso attraktive wie – Sartre und Beauvoir spüren es genau – letztlich verarmende Einstellung, wird der absolute Schutz der imaginierten Einzigkeit doch notwendig mit einem Verlust an Unmittelbarkeit und möglicher Wirklichkeitsfülle bezahlt. [42]
Durchaus alterstypisch treibt sie als philosophierendes Paar in dieser Phase deshalb das Rätsel um, wie sich dieses Verblassen der Wirklichkeit wohl verhindern ließe, ohne dabei jedoch die unantastbare Souveränität des ureigenen Bewusstseins antasten zu müssen. Wie konnte man der Einkapselung aus der eigenen Hirnhöhle entkommen, ohne sich von der Welt der anderen direkt Vorschriften machen lassen zu müssen? Wie die Welt und ihre Ansprüche wörtlich nehmen, ohne alle ironische Distanz fahren zu lassen?
Zaubertrank
Zum Jahreswechsel 1932/1933 verabreden sich die beiden mit einem ehemaligen Studienkollegen, Raymond Aro n, auf einen Drink. Aron ist gerade von seinem Berliner Stipendiumsjahr für eine Stippvisite zurück in Paris. Bei einem Treffen in der Bar Bec de Gaz in der Rue du Montparnasse macht der Rückkehrer die beiden mit einer ganz neuen deutschen Strömung des Philosophierens vertraut, der sogenannten »Phänomenologie«. Beauvoir erinnert sich: »Wir bestellten die Spezialität des Hauses: Aprikosencocktail. Aron wies auf sein Glas: ›Siehst du, mon petit camarade , wenn du Phänomenologe bist, kannst du über diesen Cocktail reden, und es ist Philosophie!‹ Sartr e erbleichte vor Erregung; das war genau, was er sich seit Jahren wünschte: man redet über den nächstbesten Gegenstand; und es ist Philosophie. Aron überzeugte ihn, daß die Phänomenologie genau diese Forderung erfülle: Überwindung von Idealismus und Realismus, Bejahung der Souveränität des Bewußtseins und der Präsenz der Welt, wie sie uns gegenwärtig ist.« [43]
Da schien er also urplötzlich als lang gesuchte Möglichkeit auf: ein neuer, dritter Denkweg, hinein in eine frei erlebte Alltäglichkeit, die weder auf die quecksilbrige Geschmeidigkeit des eigenen Gedankenlebens noch den unverstellten Kontakt zur sogenannten Wirklichkeit Verzicht leisten musste. Doch worin bestand dieser Weg genau? Wodurch zeichnete er sich in seinen Grundsätzen aus?
Wie Sartr e und Beauvoir bald in ebenso intensiven wie sprachlich fordernden Originallektüren ermitteln, hatte der Mathematiker und Philosoph Edmund Husser l bereits vor dem Ersten Weltkrieg von Göttingen und Freiburg aus tatsächlich eine neue Form von philosophischer Untersuchung etabliert. Unter dem Slogan »Zurück zu den Sachen selbst« forderte Husserl seine Adepten schlicht zu einer möglichst präzisen, unverstellten und insbesondere auch vorurteilslosen Beschreibung dessen auf, was sich dem Bewusstsein als Gegebenem darbot. Wie zeigen sich die Dinge dem Bewusstsein wirklich?
Die für Husserl s Methode prägende, durchaus meditationsnahe Haltung einer Konzentration auf das rein Gegebene – unter Vermeidung allen Hinzufügens oder Abweichens – nannte er »Reduktion«. Und eine seiner ersten zentralen Einsichten daraus bestand in Folgendem: Bewusstsein, wie immer es sich konkret ausgestaltet oder womit es auch beschäftigt sein mag, ist schon immer Bewusstsein von oder über etwas! Wir schmecken die Süße des Likörs, wir stören uns am Lärm des vorbeiratternden Autos, erinnern uns an den Urlaub in Spanien, hoffen auf gutes Wetter. Sofern Bewusstsein für uns also überhaupt zu fassen ist, ist es als Bewusstsein von etwas zu fassen. Dieses wesensgemäße Gerichtetsein auf oder Handeln von des Bewusstseins nennt Husserl »Intentionalität«. In Wahrheit reichte schon ein Aprikosencocktail mitten in Paris, um sich diese Wahrheit klarzumachen.
Eng damit verbunden machte Husser l noch ein zweites prägendes Merkmal des Bewusstseins aus: Indem es gerichtet (intentional) ist, handelt das Bewusstsein immer auch von Dingen, die ihm wesensgemäß äußerlich und anders sind (der Likör, das Auto, die Landschaft, das Wetter). Um überhaupt es selbst sein zu können, drängt Bewusstsein deshalb schon immer aus sich selbst heraus ins Freie und andere. Ihm eignet, mit anderen Worten, der wesensgemäße Drang, sich selbst zu übersteigen – oder eben, mit Husserl gesprochen, sich zu »trans-zendieren«.
Aro n hatte es Sartr e und Beauvoir also durchaus richtig erklärt, die philosophische Sprengkraft dieses Ansatzes voll erfasst: Die Phänomenologie eröffnete eine Weise, die eigene Existenz radikal neu zu verstehen: Denn in Husserl s Welt richtet sich das Bewusstsein weder ganz und gar passiv nach den Dingen (Realismus), noch ist das Bewusstsein ein Kompass, auf den die Dinge ausgerichtet sind (Idealismus). Vielmehr sind Realismus und Idealismus unverrückbar aufeinander bezogen, ohne jemals wirklich eins werden zu können. Weder verschwindet die Welt ganz im Bewusstsein, noch geht das Bewusstsein völlig in der Welt unter. Wie bei einem schönen Tanz sind beide ganz sie selbst, und doch der eine ohne den anderen jeweils nichts. [44]
Mauern
Es sagt viel über den in Sartr e entfachten Enthusiasmus aus, dass er nur ein halbes Jahr später, im Sommer 1933, selbst einen einjährigen Studienaufenthalt am Maison de France in Berlin antritt, um die neue Lehre im Land und der Sprache ihres Ursprungs zu studieren. Hinein ins Auge des neuen Gedankensturms also, hinein in eine neue Wirklichkeit. Auch Beauvoir, nach wie vor in Rouen, intensiviert in diesem Herbst ihre philosophischen Untersuchungen: Sie nimmt bei einem Flüchtling eigens Deutschstunden, studiert Husser l im Original und steht mit Sartre in intensivem Lektüreaustausch. Literarisch experimentiert sie derweil, auf den Spuren Virginia Woolf s, mit neuen, von der Phänomenologie methodisch nahegelegten Erzähltechniken wie etwa dem »Bewusstseinsstrom«.
Es bewegte sich also etwas, nicht zuletzt mit Blick auf ihre gemeinsame Beziehung. Vorbei die Zeit der absoluten Einheit und dialogischen Intimität. Insbesondere aus Sartre s Sicht hatte man einander zu Genüge erkannt. Getreu den neuen philosophischen Vorgaben galt es, sich nun auch leiblich zu zersprengen. Sartre macht den Beginn und setzt Beauvoir – wie es ihr Vertrauenspakt von 1929 ausdrücklich einfordert – zum Winter hin en détail von seinem Verhältnis mit der Ehefrau eines Berliner Mitstipendiaten in Kenntnis. Zwar gibt Beauvoir an, keinesfalls so etwas wie Eifersucht zu verspüren, dennoch bleibt ihr das Ereignis Anlass genug, sich Ende Februar 1934 von einem Pariser Psychiater für zwei Wochen krankschreiben zu lassen (Grund: mentale Erschöpfung) und den nächsten Schnellzug ins winterkalte Berlin zu nehmen. Alles halb so wild. Sartres »Mondfrau«, wie die Dame von beiden genannt wird, ist tatsächlich keine ernste Bedrohung. Und Berlin, ja Deutschland allemal eine Reise wert. Auch oder gerade im Jahr 1934.
Beauvoirs Schilderungen ihrer damaligen Zeit in Deutschland sind bis heute eindrückliche Beispiele dafür, wie komplikationslos bemerkenswerte philosophische Wachheit mit beinahe vollkommener Blindheit für politische Realitäten einhergehen kann – insbesondere, wenn man diese Aufzeichnungen mit den Reportagen vergleicht, die Simone Weil nur 18 Monate zuvor aus eben jenem Berlin mitbrachte.
Jedenfalls bleiben die lebensweltlichen Folgen der Machtübernahme Hitler s in Beauvoirs Protokollen weitgehend unerwähnt. Man besucht gemeinsam das Leibni z-Haus in Hannover (»sehr hübsch mit Butzenscheiben«), die Dresdner Altstadt (»noch hässlicher als Berlin«) und die Hamburger Reeperbahn (»wo geschminkte Dirnen mit gekräuseltem Haar sich hinter blankgeputzten Fensterscheiben zeigten« [45] ). Der Fokus liegt auf architektonischen und kulinarischen Eindrücken und solchen des Nachtlebens, wie etwa in folgender Passage: »Cantin führte uns in die Kaschemmen rund um den Alexanderplatz. Besonderen Spaß machte mir ein Schild an einer Wand: ›Das Animieren von Damen ist verboten.‹ … Ich trank Bier in gewaltigen Bierhäusern. Eines bestand aus einer ganzen Flucht von Sälen, und drei Orchester spielten gleichzeitig. Um elf morgens waren alle Tische besetzt, die Leute hakten sich unter und schunkelten singend. ›Das ist Stimmung [46] , erklärte mir Sartr e.«
Zurück in Rouen, nähert sich Beauvoirs Stimmung zum Sommer indes einem neuen depressiven Tiefpunkt. Anstatt Befreiung zu spüren, stößt ihr Blick dort »überall an Mauern«. [47] Die Zeit des großen »Wir« ist ebenso vorbei wie die Jahre einer unbeschwert zu genießenden Adoleszenz. Politisch weitgehend desinteressiert, beruflich gelangweilt, privat in der Krise und literarisch stagnierend, ist das einzige Gefühl, das sie in Bezug auf ihre soziale Umwelt wirklich aufrichtig zu empfinden vermag, ein vager Hass »auf die bürgerliche Ordnung«. Derweil der Blick des eigenen Über-Ichs in den Spiegel nur negative Gedanken gebiert: »kein Ehemann, keine Kinder, kein Heim, keine Stellung in der Gesellschaft. In diesem Alter will man etwas gelten auf der Welt!« [48]
Während Sartr e sich in Berlin jeden Tag eine neue Welt zu erschließen vermochte, drohte sie in der Eintönigkeit des Alltags endgültig jeden weiteren Sinn für sich und die Welt zu verlieren. Beauvoir war mehr als nur allein. Sie war einsam. Als ob sich das Universum selbst über sie lustig machen wollte, logierte sie in einem Hotel namens »La Rochefoucauld«, lehrte in einer Schule namens »Jeanne d’Arc«, und das alles in einer Stadt, deren provinzielle Enge Gustave Flauber t einst als perfekter Schauplatz für den Suizid seiner »Madame Bovary« gedient hatte. Alles andere als die Erzählung und vor allem Wirklichkeit, die sie einst für sich erträumt hatte. Alles andere als die erhoffte Rettung der Philosophie.
Schreib-Maschine
Im Frühling 1934 holt die »Große Depression« auch das Ehepaar Rand endgültig ein. Gleich der einem Loire-Schlösschen nachempfundenen Fassade ihres Wohnhauses wirkt äußerlich zwar alles in Ordnung, in Wahrheit jedoch sind die finanziellen Ressourcen der jungen Künstler – er Filmschauspieler, sie Drehbuchautorin – weitgehend aufgebraucht. Seit Jahren stagniert Frank O’Connor s Hollywood-Karriere auf niedrigem Niveau. Als bisher größten Erfolg hat der 37-jährige Sohn eines Stahlarbeiters aus Ohio – hoch gewachsen, dunkler Teint, schlanke Eleganz – eine Nebenrolle in »King Kong II « vorzuweisen. [49] Auch bei Ayn Rand klafft noch immer ein gewaltiger Abgrund zwischen privater Ambition und gewonnener Anerkennung.
An mangelndem Willen liegt dies in ihrem Fall gewiss nicht. »Von jetzt ab wirst du dir keinen Gedanken mehr an dich selbst erlauben, nur an deine Arbeit. Du existierst nicht. Du bist nichts als eine Schreib-Maschine. Das Geheimnis des Lebens besteht darin, reiner Wille zu sein. Zu wissen, was du willst – und es dann zu tun! … Nur Wille und Kontrolle. Alles andere kann zur Hölle fahren« [50] , hatte sie sich 1929 ins Tagebuch geschworen. Keine Woche war seither ohne Fortschritt vergangen. Über Kurzgeschichten und Treatments tastete sie sich in der ihr noch immer fremden Sprache Schritt für Schritt an die großen literarischen Formen heran – Drama, Drehbuch, Roman.
Als Autorin besteht die für sie alles entscheidende Frage nach wie vor darin, wie es Werken der Fiktion gelingen kann, philosophisch anspruchsvolle Fragestellungen zu behandeln, ohne dabei das Interesse des breiteren Publikums zu verlieren. Die Gewissheit, dass dergleichen wenigstens im Prinzip möglich sei, hat sie in Russland quasi mit der Muttermilch eingesogen. Was waren die Romane Dostojewski s und Tolstoi s schließlich anderes als metaphysische Blockbuster, an deren spannungsreichem Tiefsinn sich ein ganzer Kulturkreis erfreute? Oder Tschechow s Dramen? Nun galt es, dieses Wunder auch für das 20. Jahrhundert zu etablieren, gerne auch im eigentlichen Zukunftsmedium dieser Zeit, also dem Film.
Nach sieben Jahren in Hollywood steht ihr die Rezeptur klar vor Augen: Der betreffende Plot war unbedingt mehrschichtig anzulegen. »Man muss es«, schreibt sie dem Filmproduzenten und Regisseur Kenneth MacGowa n am 18. Mai 1934, »so anstellen, dass ein und dieselbe Geschichte als etwas funktioniert, das keinerlei Tiefgang besitzt, sodass es diejenigen, denen der Sinn nicht nach tieferen intellektuellen oder künstlerischen Zugängen steht, es nicht als Belastung empfinden, und gleichzeitig diejenigen, die genau das erwarten, die tieferen Aspekte in exakt demselben Material finden werden.« [51]
Beispielsweise in Form einer romantischen Dreieckskonstellation, in der eine Frau sich einem zweiten Mann hingeben muss, um so den Mann zu retten oder zu gewinnen, den sie wirklich liebt. Dergleichen ist bereits auf der Ebene des reinen Handlungsfortgangs spannend genug – man will wissen, wie es angestellt wird und ausgeht. Auf einer zweiten Ebene gewährt derselbe Plot aber auch tiefere Einsichten in das Gefühlsleben und die spezifischen Anfechtungen der handelnden Personen. Auf einer dritten, philosophischen schließlich verhandelt solch ein Plot die existentielle Grundspannung zwischen »Pflicht« und »Neigung«, »Opfer« und »Lebensglück« oder auch »Mittel« und »Zweck«.
Gewiss, gesteht Rand in besagtem Brief, das klinge zunächst seltsam: »sich in einem Kinofilm an philosophischen Themen zu versuchen. Aber wenn die Philosophie nur für diejenigen zum Tragen kommt, die das auch wollen, und es all die anderen derweil nicht stört oder langweilt … nun, warum nicht?« [52] Das künstlerische Ziel ihres Schaffens steht Rand jedenfalls klar vor Augen: Philosophie für alle, auf höchstem Niveau – umgesetzt in Form von Drehbüchern und Romanen mit absolutem Bestsellerpotential! Das war es, was sie wollte. Und sie würde nicht ruhen, bis sie es erfolgreich ins Werk gesetzt sah.
Luftdicht
Ihr Kampf um dieses Ideal war nicht ohne erste Erfolge geblieben. So hatten 1932 gleich mehrere Studios Interesse an ihrem ersten ausgearbeiteten Drehbuch gezeigt. Unter dem Titel »Red Pawn« (frei übersetzt: Rotes Bauernopfer) entwickelt sie darin die Geschichte einer ebenso hübschen wie mutigen Amerikanerin, die sich auf eine entlegene Gulag-Insel einschiffen lässt, um ihren dort inhaftierten Ehemann zu befreien – ein russischer Ingenieur, der im sowjetischen System aufgrund seines besonderen Talents und allzu großer Eigeninitiative verleumdet worden ist. Der Plan der Heldin besteht darin, ein Verhältnis mit dem Lagerleiter einzugehen, dessen Herz zu gewinnen und ihm schließlich die Augen für den unbedingten Wert jedes Menschen zu öffnen, insbesondere natürlich ihres inhaftierten Gatten.
Alles nach Rands Rezeptur: eine klassische romantische Dreieckskonstellation, mit philosophisch-ideologischem Akzent auf der menschenverachtenden Natur des Sowjetsystems sowie der alles befreienden Kraft des Traumes vom »pursuit of happiness« – dieser bereits durch und durch amerikanisch aufgepäppelt. Als Rand das Drehbuch 1932 fertigstellt, ist sie noch Vollzeit in der Requisitenabteilung des Filmstudios RKO angestellt; 14 Stunden stupide Logistikarbeit täglich. Sie schrieb nachts und an den Sonntagen. [53]
Letztlich ging der Zuschlag für »Red Pawn« für 700 Dollar an Universal, plus weitere 800 Dollar für eine von der Autorin zu erstellende Endversion. Rand hätte ihr Werk lieber in den Händen von Metro-Goldwyn-Mayer gesehen. Marlene Dietric h, dort unter Vertrag, hatte sich für den Stoff begeistert, ihr damaliger Mentor und Regisseur Josef von Sternber g indes entschieden abgewunken. Denn nur wenige Monate zuvor war ein anderer russischer Filmstoff bei ihm gründlich gefloppt. [54]
Noch in der Woche der Vertragsunterzeichnung kündigt Rand ihren tief verhassten Brotjob und wagt, auf dem vorläufigen Höhepunkt der Wirtschaftskrise, den Sprung in die freie Schriftstellerinnenexistenz. Jetzt oder nie!
Doch selbst zwei Jahre danach wartet »Red Pawn« noch immer auf Umsetzung. Und auch Rands erster großer Roman, in den sie seither fast alle kreative Energie gesteckt hat, findet keine Interessenten. »Airtight« (dt. Luftdicht), so der Arbeitstitel des im Frühling 1934 gut zur Hälfte vorliegenden Buches, handelt einmal mehr von dem Streben willensstarker Individuen nach Selbstverwirklichung, Liebe und Glück. Ort der permanenten Freiheitsberaubung ist diesmal kein sibirischer Gulag, sondern die junge Sowjetunion als Ganzes. Bereits der Titel bringt die das Werk bestimmende Atmosphäre aus Mangelwirtschaft, Alltagsverwahrlosung, omnipräsenter Angst und institutionalisiertem Machtmissbrauch treffend zum Ausdruck.
Rand stellt »Luftdicht« als das erste Werk aus der Feder eines Menschen vor, der die Zustände in der jungen Sowjetunion am eigenen Leibe erlebt hat, diese aber aus distinkt amerikanischer Perspektive und Haltung beschreibt. Das musste doch unterzubringen sein! Umso mehr, als der amerikanische Leser, wie Rand ihrer Literaturagentin Jean Wic k nach New York schreibt, ja »nicht die geringste Vorstellung (von den Lebensbedingungen in Leningrad) besitzt. Andernfalls gäbe es hier nicht so eine abstoßend hohe Anzahl von heimlichen Bolschewiken und idealistischen Sympathisanten mit dem sowjetischen System, diese liberals (hier im Sinne von: Linken) würden Schreie des Entsetzens ausstoßen, wüssten sie nur die Wahrheit über die sowjetischen Lebensverhältnisse. Gerade für diese Menschen wurde das Buch geschrieben.« [55]
Im Grunde verhandle der Roman aber viel mehr und Tieferes als nur die Verhältnisse in Russland oder den Liebes- und Freiheitskampf von dessen weiblicher Heldin: »Airtight ist keineswegs die Geschichte von Kir a Argounova. Es ist die Geschichte von Kira Argounova und den Massen … Das Individuum gegen die Massen, das ist das eigentliche, das einzige Thema dieses Buches. Denn dies ist das größte Problem unseres Jahrhunderts – zumindest für alle, die es begreifen wollen.« [56]
Die Lektoren New Yorks führender Literaturhäuser zählen augenscheinlich nicht dazu. Und falls doch, stehen sie mit Blick auf diese Schlüsselfrage im Jahr 1934 wohl eher auf der Seite der Masse als des Individuums.
Der amerikanische Traum, er ist mit den Jahren der Wirtschaftskrise selbst im Land der Freien grau geworden. Als der Demokrat Franklin Delano Roosevel t den Präsidentschaftswahlkampf des Jahres 1932 gegen den Konservativen Herbert Hoove r gewinnt, liegt die Arbeitslosenquote im Land bei 25 Prozent. Zügig setzt Roosevelt sein Wahlversprechen eines New Deals in die Tat um: strenge Regulierung der Finanzmärkte, staatliche Beschäftigungsprogramme, Umverteilung durch Steuererhöhungen, Verbot von privatem Goldbesitz, um den Dollar zu stabilisieren.
Ayn Rand musste niemand erklären, wie eng das eigene Leben schon immer mit politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen verflochten war. Gerade mit Blick auf die Traumatisierungen, die sie und ihre Familie zu Beginn der Revolution in Sankt Petersburg erlitten hatten, kam ihr das neue präsidiale Maßnahmenpaket samt begleitender Rhetorik verdächtig bekannt vor. Schon bald befürchtete sie das Schlimmste. Dass darüber hinaus auch ihr Manuskript zurückgewiesen wird, begreift sie als weiteres untrügliches Anzeichen, wie weit insbesondere die kreativen Eliten der Ostküste bereits kommunistisch unterwandert waren.
Wollte denn selbst hier niemand begreifen und bekämpfen, was ihr nunmehr als weltweites Szenario konkret vor Augen stand: die Unterwerfung des Einzelnen unter das Diktat der rebellierenden Massen, ja des Mobs? Das alles war keine Fiktion mehr, man musste ja nur die Zeitung aufschlagen: Ob in Moskau, Berlin, Paris und nun auch Washington, bald jeden Tag gewann der Kollektivismus eine weitere Schlacht! Wie nie zuvor seit ihrer Ankunft in den USA fühlte sie sich in ihren tiefsten Sehnsüchten und Hoffnungen enttäuscht. In den dramatischen Originalworten ihrer Romanheldin Kir a: »Es galt Ich gegen 150 Millionen.« [57]
Ideale
Derart auf sich zurückgeworfen, beginnt Rand im Krisenfrühling des Jahres 1934 ein »philosophisches Denktagebuch« [58] . In ihm soll es ganz explizit um die Durchdringung eben jener Fragen gehen, die den Grund oder Abgrund jedes menschlichen Lebens bedeuten: das Problem der Willensfreiheit, das Verhältnis von Gefühl und Vernunft, das Wesen der Sprache, die Existenz unbedingter Werte, die ethische Spannung zwischen Egoismus und Altruismus.
Bereits die ersten beiden Einträge vom 9. April 1934 legen Zeugnis von ihrem besonderen Selbstbewusstsein ab, mit dem sie diese Menschheitsfragen anzugehen gedenkt:
Dies sind die vagen Anfänge einer Amateur-Philosophin. Einer erneuten Prüfung zu unterziehen anhand der Einsichten, die vorliegen, wenn ich die Philosophie gemeistert haben werde – dann beurteilen, wie viel davon bereits vorher gesagt wurde, ob ich irgendetwas Neues zu sagen habe oder irgendetwas Altes zu sagen habe, nur eben besser.
Die menschliche Gattung verfügt nur über zwei unbeschränkte Fähigkeiten: zu leiden und zu lügen. Ich werde die Religion als Wurzel alles menschlichen Lügens und als einzige Entschuldigung für das Leiden bekämpfen.
Ich bin überzeugt – und will dafür alle verfügbaren Fakten sammeln –, dass der größte Fluch der Menschheit in deren Fähigkeit besteht, Ideale als etwas rein Abstraktes aufzufassen und damit als etwas, das mit dem alltäglichen Leben nichts zu tun hat. Also die Fähigkeit, ganz anders zu leben , als man denkt , und also das Denken ganz aus dem konkreten Leben zu eliminieren. Dies nicht nur mit Blick auf gezielte und planvoll vorgehende Heuchler, sondern vielmehr angewandt auf all die weitaus gefährlicheren und hoffnungsloseren Fälle, die, ganz auf sich allein gestellt, einen vollkommenen Bruch zwischen ihren tiefsten Überzeugungen und ihrer faktischen Existenz erdulden – und dennoch glauben, Überzeugungen zu besitzen. Diese Menschen halten entweder ihre Ideale oder ihr Leben für wertlos – in der Regel aber beides. [59]
Nietzsch e und ich
Ausgeprägter Religionshass, unverblümter Elitismus, Zurückweisung jeder Leidensnotwendigkeit; die Aufforderung, bejahte Entwicklungsideale bruchlos in den eigenen Lebensvollzug zu integrieren … überdeutlich bezeugen Rands erste systematische Gehversuche den Einfluss Friedrich Nietzsche s, tatsächlich des einzigen philosophischen Autors, dessen Werken sie sich intensiver gewidmet hat.
Nietzsche s »Also sprach Zarathustra«, das erste Buch, das sie in Amerika auf Englisch gekauft hat, ist über die Jahre zu so etwas wie ihrer Hausbibel geworden. Gerade in dunkleren Stunden kehrt sie immer wieder zu ihm zurück, um Mut zu fassen und sich ihrer eigenen Mission zu vergewissern. Lange bevor sie ein eigentlich »philosophisches Denktagebuch« beginnt, begleiten deshalb Sätze wie »Nietzsche und ich denken« oder »wie Nietzsche schon sagt« ihre persönlichen Aufzeichnungen. [60] In Wahrheit dürfte der erste nähere Kontakt mit Nietzsches Schriften bereits während Rands Jugend in Sankt Petersburg erfolgt sein, wo sich die Schriften des deutschen Denkers vom Übermenschen gerade in den dortigen Unternehmer- und Avantgardekreisen großer Beliebtheit erfreuten. Nicht zuletzt auch in den progressiv jüdischen Milieus der Metropole.
Wie bei Millionen anderen Jugendlichen, die mit dem Denker des Übermenschen einen Weg ins Philosophieren finden, mag neben dem rebellischen Inhalt und der stilistischen Brillanz Nietzsche s auch im Falle Rands das psychologische Moment entscheidend im Spiel gewesen sein. Gewähren Nietzsches Schriften doch gerade geistig besonders wachen, indes in ihrer Altersgruppe weithin isolierten Jugendlichen in dieser kritischen Phase der Selbstwerdung eine existentielle Rechtfertigung ihres sozialen Außenseitertums: eine Art Verstehensmatrix für die eigene Andersheit, die zudem den verführerischen Effekt hat, sich in diesem erfahrenen Ausgestoßensein als Teil einer eigentlichen Elite begreifen zu können.
Kein ungefährlicher Impuls, da immer auch mit narzisstischem Beigeschmack. Selbst die mittlerweile 29-jährige Ayn, ihr Denktagebuch beweist es, ist sich dieser Schlagseite eines elitären Scheins durchaus bewusst.
15. 5. 1934
Eines Tages werde ich herausfinden, ob ich ein ungewöhnliches Exemplar der menschlichen Spezies bin, da in meinem Fall Instinkte und Vernunft untrennbar eines sind, wobei die Vernunft die Instinkte leitet. Bin ich ungewöhnlich oder vielmehr normal und gesund? Versuche ich anderen meine eigenen Besonderheiten als philosophisches System aufzuzwingen? Bin ich ungewöhnlich intelligent oder einfach nur ungewöhnlich ehrlich? Ich denke Zweiteres. Es sei denn – Ehrlichkeit wäre selbst eine Form überlegener Intelligenz. [61]
Zeilen staunender Selbstbefragung, die dem Grundimpuls nach auch von Simone Weil, Hannah Arendt oder Simone de Beauvoir stammen könnten. Sie alle quält von früher Jugend an dieselbe Frage: Was mag es letztlich sein, das mich so anders macht? Was ist es, das ich im Gegensatz zu all den anderen offenbar nicht zu begreifen und zu leben vermag? Bin wirklich ich der Geisterfahrer auf der Autobahn des Lebens – oder nicht eher die Masse wild hupender Menschen, die mir einer nach dem anderen mit aufgeblendeten Lichtern entgegenkommen? Ein Zweifel am Grunde jedes philosophisch geführten Lebens.
Sokratische Spannung
Der philosophierende Mensch erscheint so geradezu wesensgemäß als Paria abweichender Einsichten und Prophetin eines richtigen Lebens, dessen Spuren sich selbst noch in tiefster Falschheit auffinden und entschlüsseln lassen: In jedem Fall bleibt dies eine Weise, die Rolle zu bestimmen, die Ayn Rand wie auch ihre Zeitgenossinnen Weil, Arendt und Beauvoir mit Beginn der dreißiger Jahre immer selbstbewusster annehmen. Nicht, dass sie dabei eine ausdrückliche Wahl getroffen hätten. Sie erfahren sich einfach grundlegend anders in die Welt gestellt. Und bleiben dabei tief im Innern gewiss, wer oder was das eigentlich zu therapierende Problem darstellt: nicht etwa sie selbst, sondern die anderen. Womöglich gar: alle anderen.
Folgte man dieser Sicht, bestünde der eigentliche Impuls des Staunens am Beginn allen Philosophierens nicht etwa in dem Befremden, dass es »überhaupt etwas gibt und nicht nichts«, sondern vielmehr in der ehrlichen Verblüfftheit eines oder einer Einzelnen, dass all die anderen tatsächlich so leben, wie sie leben. Die Ursprungsentkopplung des Philosophierens wäre mit anderen Worten keine ontologische oder erkenntnistheoretische, sondern eine soziale. Sie beträfe nicht das Verhältnis der Ichs zur stummen Welt, sondern des Ich zu den sprechenden anderen.
Für den historischen Moment des Jahres 1934, in dem Roosevel t seinen New Deal aufs endgültig staatliche Gleis setzt, dürfen wir uns Ayn Rand als von dem Gebaren ihrer Landsleute ähnlich befremdet vorstellen wie Hannah Arendt auf der Wache in Berlin, Simone Weil während der Diskussionen in ihren kommunistischen Kreisen oder Simone de Beauvoir als ehrenwertes Mitglied des Gymnasialkollegiums Jeanne d’Arc in Rouen.
Da stimmte ganz offensichtlich etwas ganz grundsätzlich nicht mit dieser Welt – und den Menschen in ihr. Hatte vielleicht nie gestimmt. Doch was genau mochte es sein? Und wie wäre es zu Beginn der dreißiger Jahre möglich, als Individuum dieses offenbar immer drängendere Unbehagen heilend zur Sprache zu bringen?