Berufliche Laufbahn
J
eder, der behauptet, die Würde sei das Einzige, woran man sich noch klammern könne, hat sicher noch nie an einem vereisten Fenstersims im fünften Stock gebaumelt, während zwanzig Meter unter einem der Verkehr der Rushhour unbeirrt toste.
Positiver ausgedrückt: Niemand in London hatte wohl in diesem Moment einen besseren Ausblick auf die funkelnde Weihnachtsbeleuchtung auf der Knightsbridge als ich: Farben und Formen so prächtig, um unvergessliche Erinnerungen in den Köpfen kleiner Kinder zu verankern und bei den Erwachsenen nie vergessene Sehnsüchte neu heraufzubeschwören. Nicht mal die Touristen im London Eye kamen in den Genuss dieses Anblicks, über den Glanz und das Funkeln erhoben und gleichzeitig nah genug, um die einzelnen Birnen der Lichterkette zu erkennen. In dieser Hinsicht war ich wahrlich vom Glück verwöhnt. In der, dass ich nur einen Fingerbreit vom Sturz in den sicheren Tod entfernt war, nicht so sehr.
Es wäre nicht anmaßend oder unbegründet von Ihnen zu fragen, was ich da tat. Die sichere Antwort darauf wäre: Das ist kompliziert, aber die kurze lautet: Journalismus.
Was versteht man unter diesem Begriff?
Laut dem Chambers Dictionary
ist es «der Beruf des Sammelns, Schreibens, Redigierens und Herausgebens von nachrichtlichen Berichten oder anderen Artikeln für Zeitungen, Zeitschriften, das Fernsehen, Radio und andere verwandte Medien». Ich denke, technisch betrachtet stimmt das immer noch, jedoch weicht der Zusatz «andere Artikel» die Definition hinreichend auf, um die hirnlosen Farce zu umfassen, die das traurige Los des modernen «Nurnalisten» geworden ist.
Für den durchschnittlichen Schreiberling von heute ist «Journalismus» der Prozess, offizielle Pressemitteilungen abzuschreiben und so weit zusammenzustreichen, dass sie in den vorherbestimmten Platz auf der Seite passen; Tickermeldungen über eine Gesichtscreme und die neuesten Trendprodukte zusammenzurühren und sie als hippe Eigenkreation zu verkaufen. Das hat zur Folge, dass die «Nurnalisten» härter und länger schuften als ihre Vorgänger, zwanzigmal so viele Storys ausspucken, und das alles, ohne einmal den Hörer in die Hand zu nehmen, um jemandem eine Frage zu stellen. Nichts von all dem hat irgendeinen Newswert, der nicht
von konzerngesteuerten PR-Gurus oder Regierungspressesprechern durchgewinkt worden wäre, aber es füllt
die Spalten, und es ist
kosteneffektiv: um noch mehr Geld in die Kassen der Medienkonzerne zu spülen, das sie dann wiederum einer der großen Wirtschaftskanzleien bezahlen, damit die die Profite schön auf Offshorekonten verstecken, damit ja keine Steuern dafür abgedrückt werden müssen.
Was für eine naive Vorstellung, bei einem Journalisten an jemanden zu denken, der – Schuhsohlen auf Asphalt – nach Hinweisen sucht oder über Jahre geduldig seine Kontakte pflegt, weil sie ihm eines Tages nützlich sein könnten. Haben Sie eine Vorstellung davon, wie viele locker-flockige Stücke man über die neuesten Frisurentrends beim Intimhaar oder die coolsten Haustier-Pool-Partys in der gleichen Zeit ausspucken kann, die ein Reporter bräuchte, um sechs Stationen mit der U-Bahn zu fahren?
Es gibt sie noch, diejenigen unter uns, die sich sehr wohl an die Zeit erinnern, als Journalismus etwas anderes bedeutete, etwas wie: der Macht die Wahrheit ins Gesicht zu sagen oder mit unnachgiebiger Zähigkeit nach Fakten zu graben, bei denen so mancher ein begründetes Interesse daran hatte, dass sie nie ans Licht kamen. Aber lasst uns nicht den guten alten Zeiten nachtrauern. Auch zu meiner Zeit hieß Journalismus schon zum größten Teil, irgendwelchen Celebrity-Schlüpfern nachzuschnüffeln oder sich als Moralapostel im Namen der Öffentlichkeit genüsslich über die korrupten Machenschaften anderer Leute zu empören.
Ich erwähne das nur, weil ich nicht ganz sicher bin, auf welche Seite dieser edlen Trennlinie mein gegenwärtiges Bemühen gehört. Normalerweise neige ich nicht zu solchen tiefschürfenden Grübeleien, aber wenn man plötzlich fünf Stockwerke über den Weihnachtsbummlern hängt, weil man den Laptop eines gehobenen Regierungsbeamten aus Whitehall klauen wollte, während der nur wenige Meter weiter weg so lautstarken Sex mit einer Industrie-Lobbyistin hat, dass sich einem der Magen umdreht, dann fragt man sich doch schon mal, ob man karrieremäßig da ist, wo man sich einst hingeträumt hatte.
Ich sollte vermutlich ein bisschen was über den Kontext erzählen, der zu dieser Situation geführt hat.
Es ist ein paar Wochen her. Ich wartete nach der Arbeit am Bahnhof Blackfriars auf den Zug, der mich nach Hause bringen sollte; ich kam von der Schicht bei einer der nationalen Zeitungen, bei der ich wenig mehr tat, als die Agenturmeldungen für die Nachrichtenseite umzuformulieren. Nach dem, was ich in meinem Beruf schon erreicht hatte, ist es ein wenig demütigend, sich wieder so weit unten auf der Leiter abzurackern, wenn man aber andererseits bedenkt, wie mir während der Leveson-Untersuchung der Arsch aufgerissen wurde, hätte ich vielleicht schon dankbar sein müssen, beim Cardboard Manufacturer Monthly
die Klos putzen zu dürfen.
Nun, hier muss ich wohl auch noch etwas weiter ausholen.
Zunächst einmal ist es wichtig zu wissen, dass ich keinen sehr guten Tag hatte. Allgemeiner formuliert, hielt die schlechte Phase nun schon über drei Jahre an, aber an manchen Tagen macht einem das mehr aus als an anderen. Anders formuliert: Du weißt, dass du gerade keinen Höhenflug hast, wenn selbst der Versuch, auf dem Weg zur Arbeit ein Schinkenbrötchen zu erstehen, in einem Desaster endet.
Die Schicht fing früh an, was hieß, dass ich kaum wach genug war, um Hunger zu haben, als ich aus meiner Wohnung in das morgendliche Dunkel trat, ich aber fast umkam vor Magenknurren, als mein Zug nach mehreren Stopps mitten auf der Strecke endlich widerwillig in Central London einrumpelte. Ich machte einen Umweg über eine kleine Seitenstraße der Queen Victoria Street, um bei meiner Lieblingsimbissbude vorbeizugehen. Der Laden hieß einfach Der Schuppen
, und damit zeigte er sich auch völlig immun gegen jüngste Ernährungstrends, Marketingstrategien, Einrichtungs-Must-haves und wahrscheinlich auch gegen die neuesten Hygienevorschriften.
An diesem speziellen Dezembermorgen hatte ich gerade einem jener Freiluftbürger unserer Weltklassestadt™ ein paar Münzen in den Becher geworfen und war noch etwa drei Meter von der verwitterten Eingangstür des Schuppen entfernt, als mich das plötzliche Aufjaulen eines in der Gasse vor- und zurücksetzenden Fahrzeugs aufschreckte. Das demonstrativ herausgebollerte Motorgedröhne kam von einem roten Lamborghini, der von drei BMW
X6s verfolgt wurde, die wie übergroße metallene Kakerlaken hinter ihm her schlingerten. Ihre tiefschwarze Farbe hob sich gegen die helle Schneeluft noch schärfer ab. Der Lamborghini hielt direkt vor dem Schuppen, und als dann auch noch eine Horde schwarzer Anzugträger auf dem schmalen Stück Straße wild durcheinanderlief, wurde die eben noch verlassene Gasse zu einer dichtbevölkerten Bühne, die mir den Weg zu meinem Frühstück versperrte. Einer der Anzugträger öffnete die Fahrertür des Lamborghini, und heraus trat Joleon Culper-Huistra, trotz des Wetters mit einer Sonnenbrille im Haar und in einem extrem marktschreierischen Outfit, das von seinem PR-Team bestimmt Fokusgruppen getestet war. Joleon, ein eindeutig heller hummeldummer Influenzer-Star, war der Sprössling des milliardenschweren Immobilien-Tycoons Lance Culper-Huistra und Schwarm der Hochglanz-Schundmagazine, seit irgendein Scripted-Reality-Produzent herausgefunden hatte, dass seine absolute Unausstehlichkeit sich blendend verkauft und er ihn und sein Verrückt nach Mayfair
ins Zentrum einer Lifestyle-Pornoshow gerückt hatte.
Joleon war das, was man früher einen Playboy genannt hätte, aber das klang nicht mehr richtig. Diesem Begriff haftete noch etwas fast Unschuldiges an, verglichen mit der Brutalität, mit der die neue Kleptokratie ihre Privilegien zur Schau stellte. Den Playboy umgab noch die Aura eines fast beiläufigen, sorglosen Lebensstils, von schnittigen Cabriolets und natürlichem Glamour. Heute hatten die Sportwagen drei Vans im Schlepptau, die wie überdimensionierte Edelsärge aussahen und hinter deren abgedunkelten Scheiben eine ganze Entourage an Sicherheitsberatern, persönlichen Assistenten, PR-Hanseln und Anwälten saß.
Mein Weg wurde mir von einem Typen mit Ohrstöpsel und kaltem höflichem Lächeln versperrt. Früher wäre er einen halben Kopf größer und 25 Kilo schwerer gewesen, hätte ein paar Tattoos und die ein oder andere Narbe zur territorialen Abgrenzung gehabt. Aber Joleon konnte sich bei seinem Sicherheitspersonal den Unterschied zwischen einem Exelitesoldaten und einem Extürsteher leisten.
«Es tut mir leid, aber das Café ist heute Morgen geschlossen», sagte er zu mir in nicht unfreundlichem, aber bestimmtem Ton.
«Ich möchte nur ein Schinkenbrötchen. Das dauert höchstens zwei Minuten.»
Mit einem beinahe entschuldigenden Lächeln schüttelte er den Kopf, während hinter ihm in der Wärme des Ladens Joleon von Arthur, dem buckligen und asthmatischen Eigentümer, begrüßt wurde.
Ich zog mein Handy aus der Tasche, damit ich wenigstens ein Foto dieser absurden Szene machen und es später der Promi-Redaktion anbieten könnte. Ebenso gut aber hätte ich auch nach einer Waffe greifen können, so schnell hatte der Kerl von der Sicherheit mein Handgelenk umfasst. Sein Griff war nicht sehr fest, gerade stark genug, um meine Hand zurückzuhalten und die Sinnlosigkeit jeglichen Widerstands zu verdeutlichen.
«Tut mir leid, Sir. Das ist privat.»
Sein Ton war ruhig, als erwartete er mein Verständnis dafür, dass weder er noch ich etwas daran ändern konnte.
Früher hätten diese Typen dich direkt verprügelt und deine Kamera zertrümmert, erst recht in so einer menschenleeren Sackgasse wie dieser. Heute waren sie schrecklich höflich, darauf trainiert, dich so zu behandeln, dass es sich nicht mal wie eine Konfrontation anfühlte. In vielerlei Hinsicht aber war diese Art bedeutend erniedrigender, betonte sie doch nicht nur, wie absolut machtlos man war, sondern zudem noch, dass man es nicht mal wert war, eingeschüchtert zu werden.
Himmel. Wenn ich wirklich der Meinung war, dass ein Tritt in die Eier von einem Aufpasser mir ein besseres Gefühl der Gleichberechtigung gab, dann war ich echt alt geworden.
Arthur hat mir später während meiner Mittagspause alles brühwarm erzählt – streng vertraulich, versteht sich. Joleon hatte eine Charme-Offensive gestartet: Unter dem Oberbegriff «Niedrigsteuersatz» kursierten jede Menge Gerüchte, nach denen die Superreichen dank des konsequenten Wegschauens der Regierung jährlich einen geringeren Prozentsatz an Steuern an das Finanzamt zahlten als ein durchschnittlicher Lehrer, eine Krankenschwester oder ein Polizist. In Joleons Fall war es aber nicht einfach eine Frage der Prozente oder des Verhältnisses: Ein Aufmacher im Mirror
enthüllte, dass Joleon im vergangenen Jahr weniger Steuern gezahlt hatte als die Juniorärzte, deren Alltag man in einer Reality-Doku beiwohnen durfte, die von derselben Produktionsfirma gemacht wurde wie Verrückt nach Mayfair.
Joleons PR-Team war sein Geld schnell wert. Im Telegraph
erschien ein Kommentar von einem ehemaligen Redenschreiber BoJos, in dem er erklärte, wie viel Geld Joleons Großtaten in anderer Weise in die britische Wirtschaft gepumpt hätten. In Phase zwei nun sollte es darum gehen, ihm Punkte auf der Salz-der-Erde- oder Mann-des-Volkes-Skala einzubringen. Joleon wurde an Orten interviewt und fotografiert, die seine andere Seite zeigen sollten, seine geheimen Lieblingsplätze jenseits des Glamour-Images. Er erzählte den dressierten Journalisten alles über seine Liebe zu diesem Café und wie er sich dort schon immer mit dem «echten London» verbunden gefühlt hatte.
Arthurs Version war ein wenig anders.
«Der Mistkerl hat nie ’nen Fuß über die Schwelle gesetzt, aber seine Leute haben mir drei Riesen hingeworfen, wenn mich also jemand fragt: Er ist ’n scheißnormaler Typ.»
Also: So fing mein Tag an, und als ich im Büro war, wurde er auch nicht besser. Das wurde er in der permanent unterbesetzten Nachrichtenredaktion von Clarion
nie. Jede Schicht war nicht nur die zermürbende Erinnerung daran, wie sehr die ganze Branche auf den Hund gekommen, sondern besonders wie tief ich selbst gefallen war.
Dem Printsektor ging schon vor dem Telefonhacking-Skandal der Arsch auf Grundeis, aber als dann überall die Jobs drastisch gestrichen wurden, half es mir auch nicht wirklich, so etwas wie das Aushängeschild für all das zu sein, was die Leute an meiner Zunft falsch fanden.
Angesichts des wachsenden öffentlichen Drucks gegen die neugierigen Schnüffeleien der Presse kam es mehreren meiner früheren Arbeitgeber ganz gelegen, mich als das Exemplar einer Spezies zu stilisieren, von der man sich künftig unbedingt distanzieren wollte. Wie die Protokolle später zeigten, war von der Freude, die Früchte meiner Arbeit zu ernten, ohne die für beide Seiten unangenehmen Fragen nach der Herkunft meines Materials zu stellen, keine Rede mehr. Und es wurde auch kaum erwähnt, dass meine speziellen Talente in den dunklen Künsten nicht beim Abhören von Promis oder beim morbiden Ausschlachten von minderjährigen Mordopfern zum Einsatz kamen, sondern bei dem Versuch, die Machenschaften ansonsten sehr gut geschützter Individuen, Institutionen und Vereinigungen aufzudecken. Das wiederum machte mich noch weniger vermittelbar. Heute war sauberer investigativer Journalismus nicht nur ein Luxus, der unter Rentabilitätsgesichtspunkten nicht mehr tragbar war: Er war den Eigentümern und Verlegern, die keinerlei Lust verspürten, eine Kultur der Neugier, des Nachhakens, des Gegencheckens und der Analyse zu fördern, regelrecht verhasst.
Mein Name war Gift, zumindest wenn er als Verfasser eines Artikels auftauchte. Ein paar Freunde waren mir noch geblieben, die mir ab und zu einen Knochen hinwarfen, aber ich begann zu akzeptieren, dass meine Tage als investigativer Reporter vorbei waren. Ich schrieb schon unter Pseudonym, aber wenn dein Gesicht mal durch alle Medien gegangen ist, und dann auch noch unter diesen Umständen, ist es schwer, das Vertrauen einer neuen Quelle zu gewinnen, geschweige denn undercover zu arbeiten.
Deswegen musste ich für diese todlangweiligen Schichten dankbar sein, bei denen ich Agenturmeldungen «analysierte» und Meldungen daraus «generierte», anstatt ein paar Quellen anzurufen und eine wirklich eigene Geschichte zu schreiben. Früher oder später würde ich mir ohnehin Ärger einhandeln, und weil der Tag schon so bescheuert begonnen hatte, beschloss ich ausgesprochen leichtfertig, dass es heute so weit war.
Irgendwann musste der stellvertretende Chefredakteur bemerken, dass ich seit fast einer Stunde nichts geliefert hatte, und kam an meinen Schreibtisch geschlendert, um herauszufinden, warum.
«Wo hakt’s?», fragte er. «Es ist fast zwölf, und ich warte noch immer auf den Aufmacher für die 18 und die Kurzmeldung unten auf der 12. Hinter beiden steht dein Kürzel. Spielt das System verrückt, weil die Versionen nicht zusammenpassen?»
Er fragte das so, weil es in seinem Kosmos für diese Verspätung tatsächlich nur ein technisches Problem geben konnte. Er hieß Rowan, so ein zottelhaariger Kiwi, der jeden seiner Vokale so behandelte wie Super Mario seinen Wachstumspilz. Er kam mehr aus dem Marketing als aus dem Journalismus, was hieß, dass er eine andere Vorstellung von dem Nachrichtenwert einer Meldung hatte als ich, wodurch das eine oder andere Missverständnis vorprogrammiert war. Zudem kann festgestellt werden, dass sein Auftreten in der Mitarbeiterführung deutlich davon profitieren würde, wenn man ihm draußen vor der Tür mal so richtig eine reinhauen würde.
«Nein», antwortete ich. «Ich warte darauf, noch ein Kontrollinterview machen zu können. Bei dem Aufmacher für die 18 ist was faul.»
«Ein Kontrollinterview?», fragte er und sah dabei aus, als wäre ihm eine Schmeißfliege direkt von einem Hundehaufen in seinen Mund geflogen. Ich war mir nicht sicher, ob er fragte, weil er nicht wusste, was der Begriff bedeutete, oder ob er schlicht nicht glauben konnte, dass jemand tatsächlich so etwas tat.
«Ja. Die Tickermeldung über die Frau, die eine Versicherung gegen Gewichtszunahme abgeschlossen hat: Ich hab das mal überprüft. Es stellte sich heraus, dass dieselbe Frau seit 2008 alle zwei Jahre so eine Versicherung abgeschlossen hat, nämlich immer dann, wenn Nu-Earth Health Publishing eine Neuauflage eines bestimmten Diätbuches herausgibt. Die Pressearbeit für Nu-Earth Health Publishing wird von Flashlight PR gemacht, die zufälligerweise auch Rest EZ
Versicherungen vertritt, mit denen diese Frau die Verträge hat. Und wenn man ein bisschen im Archiv wühlt, findet man heraus, dass sie auch eine Versicherung dagegen abgeschlossen hat, wieder mit dem Rauchen anzufangen, nachdem sie bei einem Versandgeschäft ein Nikotinpflaster-Abo erstanden hatte, und sich auch abgesichert hat, wieder single zu sein, nachdem sie sich bei einer Internet-Dating-Agentur registriert hatte. Und jetzt rate mal, wer die PR für Patch Power und Love Bytes macht?»
Rowan sah mich halb erwartungsvoll, halb ungläubig an, so als wartete er darauf, dass ich endlich zum Punkt käme.
«Die Meldung ist reine PR», erklärte ich geduldig. «Ein Publicity-Stunt.»
Rowans Augen wurden mit jedem meiner Worte größer. Und dann legte er los.
«Ja, natürlich ist das aufgeplusterter PR-Dreck, du Wichser. Du hast, wie viele, fünfundvierzig Minuten verschwendet, vielleicht sogar fünfzig, um das
rauszufinden?»
«Ja, weil es Schwachsinn ist. Das ist keine Nachricht. Das ist noch nicht mal wahr!»
«Hör mal, du Arschloch, ich verstehe schon, dass du neu hier bist, und ich weiß ja nicht, wo du vorher gearbeitet hast, also lass mich dir mal die Hierarchie hier erklären. Ich bin der stellvertretende Chefredakteur der Nachrichtenredaktion. Ich entscheide, was verdammte Nachrichten sind, ist das klar? Ich sage dir, dass du diesen Artikel schreiben sollst, also schreibst du ihn. Was tut es zur Sache, wenn das ein Fake ist? Es ist eine fucking Story
! Wir spielen doch alle dasselbe Spiel, Kumpel. Nu-Earth möchte ein Buch verkaufen, Rest EZ
will ein Produkt promoten, Flashlight muss seine Kunden zufriedenstellen, und wir müssen unsere fucking Seiten
füllen. Sofern du also nichts anderes hast, was du innerhalb der nächsten fucking neunzig Sekunden in die verdammt offensichtliche Lücke oben auf der 18 setzen kannst, schlage ich vor, du schreibst jetzt mal fix deine Geschichte, oder du kriegst einen scheiß Arschtritt und bist raus.»
Ich spürte, wie die Hitze meinen Nacken und meine Wangen hinaufschoss, weil mir schmerzhaft bewusst war, wie jeder um mich herum mitbekommen hatte, wie dieser neureiche Mittelmanagement-Scheißkerl mich zur Schnecke gemacht hatte. Ich hab schon Seite-1-Aufmacherstorys geschrieben, da hatte er noch kein einziges Haar im Schritt, aber das machte es ja nur noch schlimmer.
Der Teil, der echt gesessen hat, war: Ich weiß ja nicht, wo du vorher gearbeitet hast.
Der Typ hatte keine Ahnung, wer ich war und was ich gewesen bin. Ich vermute, das ist wohl die treffende Definition von «Am Ende sein», die offizielle Bestätigung dafür, dass ich ausgedient hatte.
So stellen Sie sich also meine Laune vor, als ich in Blackfriars am Bahnsteig stand und auf den Zug wartete, der mich «nach Hause» bringen sollte – in die Besenkammer mit fließend Wasser, die ich auf der anderen Seite des Flusses gemietet hatte. Hass durchzuckte mich wie eine Ladung Starkstrom, und ich hoffte innerlich, es käme jemand, an dem ich ihn abreagieren konnte.
Mein Zustand war überaus gefährlich. Wir alle kennen das, und normalerweise passiert in solchen Situationen nichts, vielleicht weil die Leute diese blinde, schwelende Wut spüren können, die verzweifelt nach einem Leichtsinnigen sucht, der sich als Zielscheibe anbietet. An diesem Tag war das Problem, dass meine potenziellen Opfer zu sehr mit etwas anderem beschäftigt waren.
Ich stand mit dem Rücken zur Wand, als eine junge Frau an mir vorbeiging und sich auf eine Stuhlreihe ein paar Meter entfernt setzte. Ich schätzte sie auf Mitte, Ende zwanzig. Unter ihrem dicken Wintermantel trug sie einen dunkelblauen Hosenanzug, die krausen Haare waren zu einem Pferdeschwanz gebunden, und ihre dunklen Augen wirkten leicht gerötet. Ihre allzu aufrechte Haltung wirkte fast hochmütig, aber etwas sagte mir, dass es sie all ihre Kraft kostete, den Kopf nicht hängenzulassen.
Vielleicht projizierte ich nur etwas in sie hinein, oder ich war für solche Schwingungen aufgrund meines eigenen Zustands etwas empfänglicher, auf jeden Fall sah es für mich so aus, als ob sie einen ähnlich guten Tag gehabt hätte wie ich. Ihre Wut schien allerdings etwas anders gelagert: Sie wirkte zerbrechlich, verwundet, als zählte sie jede Minute, bis sie sich im Schutz ihrer Wohnung auf ihrem Sofa zusammenrollen und einfach mal schön hemmungslos losweinen konnte.
Vielleicht hätte ich mir ein Beispiel daran nehmen sollen. Aber anders als bei ihr wurde mein Wunsch nach einem Wutausbruch erhört.
Vier Männer in Anzügen und in bester Laune stolzierten lärmend über den Bahnsteig; mit gelockerten Krawatten rissen sie eine Zote nach der anderen. Offenbar hatte die Weihnachtsfeier gegen Mittag angefangen, und niemand hatte etwas dagegen, bis in den Abend hinein weiterzumachen. «Ausgelassen» war das Wort, das man für so ein Proleten-Verhalten bei diesen Großstadttypen benutzte, im Gegensatz zu «pöbelhaft», wenn sie einen nördlichen Akzent hatten, oder «einschüchternd», wenn ihre Haut etwas dunkler war.
Ich gebe es zu: Ich wollte, dass sie mir querkamen, aber warum sollten sie mich überhaupt bemerken, wenn gleich neben mir eine junge Frau alleine auf der Bank saß und sich offensichtlich mit ihrem eigenen Kram beschäftigte?
«Hey, lach doch mal, schöne Frau! Auf einem so hübschen Gesicht sollte man ein Lächeln sehen!»
Ich sah, wie sie schluckte und ganz langsam den Kopf hob: ein wenig abweisend, ein wenig bittend, aber zu hundert Prozent unzweideutig.
Jetzt standen sie vor ihr, unnötig nah für einen alles andere als vollen Bahnsteig.
«Na komm schon, sei nicht so», traute sich der Zweite. «Leb mal ein bisschen. Es ist die Zeit zum Fröhlichsein. Wir gehen aus. Warum kommst du nicht mit? Ich garantiere dir, dass wir dir ein Lächeln ins Gesicht zaubern.»
Ohne eine Antwort zu erwarten, kicherten sie vor sich hin. Das war keine ernstgemeinte Einladung an die Frau, auch wenn ich
anfing, sie als solche zu verstehen.
«Und wenn sie mit zu mir käme», nuschelte einer der Typen sotto voce
seinen Kumpels zu, «hätte sie am Ende nicht nur ein Lächeln auf dem Gesicht … Wir reden von Kaffee und Sahne.»
Ich war weiter von ihnen entfernt als die junge Frau und verstand trotzdem jedes Wort. Und damit hatte ich auch genug gehört.
Ich machte ein paar Schritte von der Wand weg und stellte mich neben die Frau ans Ende der Sitzreihe.
«Ich glaube, die Dame möchte gern allein sein», sagte ich und sah jedem der Typen der Reihe nach in die Augen.
Der, der mir am nächsten stand, gab einen ungläubig amüsierten Ton von sich, so als könnte er nicht fassen, womit er sich da abgeben musste.
«Komm mal runter, Jocko», sagte er mit einem abfälligen Lachen. «Wir versuchen doch nur, nett zu sein.»
Ich machte einen Schritt auf ihn zu und sah ihm fest in die Augen.
«Lass mich das kurz erklären, Cecil.
Weißt du noch, früher, im Internat? Wenn der Junge in dem Bett über deinem zu dir runterkam – ohne Vaseline? Etwa so willkommen sind deine Annäherungsversuche gegenüber einer Frau, die du nicht kennst und die allein an diesem öffentlichen Ort sitzt.»
Einer der Typen konnte sich ein Lachen nicht verkneifen und löste damit auch die Anspannung der anderen. Der Größte von ihnen, ein Kerl, der aussah wie ein Rugbyspieler, murmelte ein «Lass gut sein» und machte Anstalten zu gehen.
Cecil machte einen Schritt zurück, war aber noch nicht bereit, das Ganze auf sich beruhen zu lassen, was mir nur recht war.
«Und was, zum Henker, geht dich das an?», fragte er. «Du bist ein bisschen zu blass, um ihr Vater zu sein.»
Nicht schlecht für die kleine Pussy: Damit hatte er einen Treffer gelandet.
«Lass gut sein», appellierte der Rugby-Junge erneut, aber Cecil fühlte sich durch das Ausbleiben einer Entgegnung ermutigt fortzufahren.
«Meine Kumpels und ich bleiben da drüben stehen», sagte er zu mir, um dann mit lüsternem Blick zu der Frau hinüberzuschauen. «Und nur, dass du es weißt, Jocko, die ganze Zeit über werde ich mir vorstellen, wie die Kleine über einen Tisch gebeugt ist, der Rock halb über die Oberschenkel hochgerutscht.»
Mit einem Schritt nach vorne versperrte ich ihm die Sicht auf sie.
«Und ich werde mir vorstellen, wie du vor Schmerzen vornübergebeugt dastehst, deine Eier halb die Kehle runtergerutscht.»
Das reichte dem Rugby-Jungen, um sofort seine Hand auf die Schulter seines Kumpels zu legen und ihn wegzuziehen. Er war ein kräftiger Kerl, der so wirkte, als könnte er sich gut um sich selbst kümmern, aber er war auch der mit dem richtigen Gefühl für die Situation. Er hatte erkannt, was sich hinter meiner Stirn abspielte. Er wusste es.
Ich beobachtete, wie sie sich entfernten, und erst als die Anspannung nachließ, wurde mir ansatzweise bewusst, in was ich mich da fast reingeredet hätte. Ich seufzte erleichtert und schaute zu der Frau auf der Bank.
«Danke», sagte sie mit klarer und bedachter Stimme, als wäre dies das wohlüberlegteste Statement, das sie in diesem Jahr von sich gegeben hatte.
«Dafür nicht», erwiderte ich. «Ich entschuldige mich für meinen Testosteronüberschuss. Normalerweise bin ich nicht so. Sind Sie okay?»
«Nicht wirklich», sagte sie. Sie versuchte ihr Bestes, um die Tränen zurückzuhalten, denn sie wusste, käme auch nur eine, würde der Damm brechen.
Ich nickte.
Etwa eine Minute später fuhr der Zug kreischend in den Bahnhof ein, und während er zum Halten kam, hielten Cecil und seine Kumpane schon auf die Türen zu.
«Ist das Ihrer?», fragte ich.
«Ja, aber ich steig noch nicht ein. Nach dem hier gerade ist mir nicht danach, mich auf engem Raum einpferchen zu lassen.»
Sie hatte keinen Akzent: keine Hinweise darauf, wo sie aufgewachsen war oder ob sie von der Küste kam.
Erst jetzt bemerkte ich, dass die Bündchen ihres Mantels leicht abgewetzt waren: vermutlich ein Job, der eine ordentliche Erscheinung verlangte, aber nicht genug abwarf, um sich regelmäßig neu einzukleiden. Ich hatte sie vorher als Anwältin eingestuft. Wenn das stimmte, dann zumindest keine auf Unternehmensebene.
«Verstehe», erwiderte ich. «Kommt dazu, dass unsere neuen Freunde an Bord sind.»
«Heißt das, Sie nehmen auch gern den nächsten?»
«Ja, wie ich schon sagte, normalerweise gebe ich nicht den Captain Caveman. Bin schon wieder im Captain-Feigling-Modus.»
Ich dachte, das könnte sie zum Lächeln bringen, aber sie schien mit ihren Gedanken zu weit weg.
«Hören Sie, hätten Sie Lust, fünf Minuten mit mir spazieren zu gehen?», fragte sie. «Ich brauche etwas frische Luft, aber ich möchte nicht allein sein.»
Wir spazierten Victoria Embankment Richtung Westen entlang. Meine Schicht war am Nachmittag zu Ende gewesen, und doch war es jetzt schon dunkel. Die Passanten eilten vorbei und zogen ihre Jacken zum Schutz gegen die klirrende Kälte enger um sich. Manche von ihnen hatten Einkaufstüten von Läden wie Selfridges oder John Lewis dabei. Ich versuchte mir nicht vorzustellen, wie Weihnachten dieses Jahr für mich sein würde, oder besser, wie nicht.
Die Frau war auf die Seite der Straße gegangen, die nicht direkt am Wasser lag, für mich eine merkwürdige Wahl, wo mich der Anblick von Wasser, das fließt, doch immer beruhigt hatte. Ihre Absicht klärte sich jedoch, als wir auf eine der wenigen grünen Oasen inmitten dieser Wüste aus Stein und Beton zusteuerten.
«In meinem letzten Job habe ich oft meinen Lunch in diesem Park gegessen.»
Sie klang wehmütig – das müssen definitiv glücklichere Zeiten gewesen sein.
«Nicht so viel Spaß bei der Arbeit heute?»
Sie antwortete nicht. Vielleicht verstand sie es als rhetorische Frage.
«Ich auch nicht», fuhr ich fort, um meinen kläglich gescheiterten Versuch, eine Unterhaltung in Gang zu bringen, zu überspielen.
Schweigend liefen wir weiter. Der Park war ruhig. In Form von Achten schlängelten sich die Wege um Büsche und Blumenbeete herum.
«Es tut mir leid», sagte sie schließlich und machte an einer Bank halt. «Ich ignoriere Sie nicht, ich musste nur meine Gedanken sortieren. Das ist alles sehr nett von Ihnen.»
Sie schenkte mir ein erschöpftes Lächeln, das sie einiges an Kraft zu kosten schien und gerade deswegen umso ehrlicher wirkte.
Ich wollte ihr schon sagen, dass ich ohnehin nichts Besseres zu tun habe, hielt mich aber zurück. Zum einen war es nie ratsam, damit hausieren zu gehen, wie armselig das eigene Leben war, aber, noch wichtiger, wollte ich ihr keinesfalls das Gefühl geben, ich könnte der irrwitzigen Idee verfallen sein, dass dies hier zu irgendetwas führen könnte. Das war ich nicht (wie auch, mit Cecils «Vater»-Stachel noch immer im Fleisch?) und wollte es auch nicht. Ich war ein verheirateter Mann, technisch betrachtet zumindest.
Ich hatte seit Wochen – Monaten – nicht mit meiner Frau gesprochen, Sarah. Ohne ins Detail zu gehen, könnte man sagen, dass der mediale Wind um unsaubere journalistische Praktiken in unserem Haushalt nicht gut angekommen war. Nach jahrelangem Betteln darum, mich endlich bei der Arbeit zusammenzureißen, ließ sie es nicht auf einem simplen «Ich hab es dir ja gleich gesagt» beruhen.
Wir waren also getrennt, aber nicht geschieden. Ich glaube, das ist ein wichtiger Unterschied. Ich weiß, dass das jeder behauptet, aber bei mir war es anders. Hier ging es nicht darum, sich vom anderen eine Pause zu gönnen und offen zu schauen, wohin das führte. Die physische Trennung zwischen mir in London und ihr, noch immer in Glasgow, war zumindest für mich nur der Umweg zur Versöhnung.
Ich war hierhergekommen, um mich neu zusammenzusetzen, um den Mann wiederzufinden, in den Sarah sich einst verliebt hatte, und um zu prüfen, ob er noch von dem fertigen und verbitterten Wrack zu retten war, dem sie nicht länger bei seinem Absturz zusehen konnte. Mein Ziel war es, mich vor Sarah zu beweisen, indem ich meine Karriere und meinen Ruf zurückerlangte, wenngleich das nicht passieren würde, solange ich Agenturmeldungen für Rowan zurechtstutzte. Ich brauchte eine echte Geschichte.
«Alles gut», versicherte ich ihr. «Ich verstehe, wenn Sie nicht reden möchten.»
Schwerfällig ließ sie sich auf die Bank sacken, als hätte sie eine Last zu tragen, von der sie sich befreien müsste.
«Glauben Sie mir, ich möchte darüber sprechen, aber ich sollte es nicht tun: Das ist der Unterschied. Darüber zu reden, hat mir schon genug Ärger eingebracht, obwohl ich mir auch nicht sicher bin, ob es überhaupt noch schlimmer werden kann.»
Mir war bewusst, dass sie mich damit einlud, weiter nachzubohren, aber eingedenk meiner neuen Selbstverpflichtung, ethische berufliche Standards einzuhalten, brachte ich es einfach nicht über mich, ihre Verletzlichkeit auszunutzen. Jedenfalls nicht, ohne wenigstens meine Karten auf den Tisch zu legen.
«Bevor Sie weiterreden, sollte ich Ihnen fairerweise sagen, dass ich Journalist bin.»
In ihren Augen flackerte etwas auf, und ich war mir sicher, sie würde sofort aufstehen und davonstampfen; oder mich erst wegen meiner wahren, niederen Motive, die unter meiner falschen Besorgtheit verborgen waren, beschimpfen und dann
aufstehen und davonstampfen. Aber als sie mich aufmerksam zu mustern begann, wurde mir klar, dass ich ihre Reaktion missverstanden hatte. Ich hatte keinen Ärger lodern gesehen, sondern eher Übermut.
«Sie sind Reporter?»
Überlegte sie, ob sie mich kannte? Eitler Fatzke, der ich bin, hatte ich diese aberwitzige Phantasie, dass das halbe Land wusste, wie ich aussah, völlig vergessend, dass sich kein normaler Mensch auch nur einen Bruchteil so sehr für ein Ermittlungsverfahren wegen unrühmlichen Verhaltens der Presse interessiert wie ebendiese nur mit sich beschäftigte Presse.
Aber mich musterte sie gar nicht: Sie wog ihre Optionen ab.
«Mein Chef hat eine Affäre», sagte sie. «Na ja, wenn ich Chef sage, dann sind da schon noch einige Hierarchiestufen zwischen ihm und mir, aber Sie verstehen, was ich meine. Der Punkt ist, dass da, wo ich arbeite, Sicherheit von größter Bedeutung ist, und eine Affäre stellt eine ebenso große Gefahr dar wie Drogenmissbrauch oder Spielsucht. Ich hielt es für meine Pflicht, einen anderen weisungsbefugten Kollegen davon zu unterrichten, doch als ich das tat, fing der Ärger für mich
an. Es stellte sich heraus, dass sie zusammen auf der Schule waren, verdammt. Das Ende vom Lied war, dass sie mich ins Abseits manövriert haben, dafür bestraft, weil ich getratscht hätte – dabei habe ich überhaupt niemandem etwas erzählt –, und sie machten mir sehr deutlich, dass ich nun unter besonderer Beobachtung stand.»
«Herrgott. Und damit hatten Sie heute zu tun, bevor
die vier Blödmänner am Gleis auftauchten?»
«Nur das Ergebnis wurde mir heute präsentiert. Von der Affäre hatte ich ihm bereits gestern erzählt, nachdem ich schon länger darauf rumgekaut hatte. Endlich nehme ich all meinen Mut zusammen, um das Richtige zu tun, und das ist jetzt der Dank.»
Ich verstand nicht ganz, warum das das Richtige war, aber ich wollte sie nicht unterbrechen. Sich die Sache von der Seele zu reden, schien sie mit neuer Energie aufzuladen.
«Vielleicht könnten Sie darüber berichten», schlug sie vor. «Wenn diese Bastarde die ganze Geschichte in der Presse lesen, begreifen sie endlich, dass sie mich besser ernst genommen hätten, und dieser Idiot mit der Affäre und der Schwanzlutscher, der ihn deckt, bekommen, was sie verdienen. Sind Sie interessiert?»
Ich versuchte, nicht zu verhalten zu wirken. Sie wirkte so viel weniger ernüchert, wenn sie sich ihr Racheszenario ausmalte, dass ich ihr den Zahn nicht gleich ziehen wollte.
«Ich bräuchte noch einen besseren Aufhänger», sagte ich. «Zweifelsohne sind Sie absolut schäbig behandelt worden, aber die Affäre Ihres Chefs ist immer noch seine Privatangelegenheit. Um ehrlich zu sein, ist das nicht die Art Geschichte, die ich normalerweise schreibe, aber ich könnte Sie natürlich an einen Kollegen …»
«Sie wollen einen Aufhänger? Wie wäre es mit widerlicher Doppelmoral? Heuchelei? Nicht zu vergessen das potenzielle Sicherheitsrisiko.»
Während sie sprach, kamen mir nach und nach verführerische Möglichkeiten, was sie mit «das Richtige tun» beabsichtigt haben könnte, während sich eine Frage aber sofort stellte.
«Wo genau arbeiten Sie denn?», fragte ich.
«Whitehall», antwortete sie. «Im Verteidigungsministerium.»