Verletzlichkeiten
W
enn man als Reporter dem Glück begegnet, braucht man die Urteilsfähigkeit, um es zu erkennen, und den Willen, die Chance zu ergreifen. Ich war in beidem nicht schlecht, aber mir war nicht ganz wohl bei der Sache, diesen Zufallstreffer gnadenlos zu meinem Vorteil zu nutzen. Während ich den Park hinter mir ließ, fragte ich mich, ob ich trotz meines Outings nicht dennoch ausnutzte, dass eine junge Frau verletzlich war. Sie war aufgewühlt, wütend und emotional angegriffen. Wenn sie sich erst wieder etwas beruhigt hatte, bereute sie vielleicht, was sie in Gang gesetzt hatte. Es macht mir nichts aus, ein paar Regeln (oder sogar Gesetze) zu brechen, wenn jemand sich auf die Verschwiegenheit anderer Leute verlässt, damit die eigenen schmutzigen Geheimnisse nicht ans Licht kommen. Aber in diesem Fall hatte ich mehr Skrupel als je zuvor um etwaige Kollateralschäden. Sollte ein weiterer Unschuldiger möglicherweise zwischen die Fronten geraten, würde das mein Gewissen nur schlecht aushalten.
Trotzdem, sie war vielleicht unschuldig, naiv jedoch sicher nicht. Denn sie hatte mir ihre Handynummer gegeben, aber nur ihren Vornamen, und vielleicht auch nur einen Teil: Kay. Bis zu einem bestimmten Punkt diente sie als Quelle, ergriff aber auch Maßnahmen zu ihrem Schutz. Eine davon war, dass sie darauf bestand, dass diese Affäre auf nachvollziehbare Weise öffentlich werden müsste, ohne dass man die Spuren zu ihr zurückverfolgen könnte.
Ich sagte ihr, dass ich mir dazu etwas überlegen würde.
Der «Chef», auf den sie sich bezog, war ein hoher Regierungsbeamter namens Sir Anthony Mead: ein lebendes und, wie sich nun zeigte, auch vögelndes Beispiel der Auswüchse des Klassensystems. Ich konnte nur vermuten, dass er sich seinen Adelstitel dank langjähriger Verdienste in den piekfeinen und bestens vernetzten Clubs des noblen britischen Establishments erworben hatte. Soweit ich herausgefunden hatte, war Mead absolut unauffällig, einer von den Menschen, die vorankommen und diverse einflussreiche Posten in Whitehall bekleiden, ohne je eine Spur zu hinterlassen; deren Name nie auf einem Wahlzettel auftaucht und die niemals durch irgendetwas hervorstechen. Trotz seiner erstklassigen Herkunft und Entwicklungschancen und der besten Bildung, die man für Geld kaufen konnte, hatte er es in Oxford nur auf eine bescheidene 2,2 gebracht, was seiner Karriere jedoch keinen Abbruch getan hat.
Kay beschrieb Mead als «ganz tüchtig, aber auf eine einfältige Weise, wie jemand, der sich selbst im Leben nie zu etwas herausgefordert hat».
Nie hätte sie ihm etwas so Waghalsiges wie eine Affäre zugetraut. Und egal, wie sehr Macht anziehend machen soll: Wenn einer aussah wie Iain Duncan Smith und das Charisma eines Danny Alexander hatte, nährte das in Kay den Verdacht, dass man sich Sorgen machen sollte, als sie ihn vor ein paar Wochen bei einem Empfang mit Vertretern der Rüstungsindustrie eng umschlungen mit jemandem im Treppenhaus gesehen hatte.
Danach hatte sie einige Telefonate mit seiner Frau mitbekommen, in denen er sagte, er würde bis spät arbeiten müssen, um dann doch zur gewohnten Zeit beschwingt und mit möglicherweise gespanntem Hosenschlitz das Büro zu verlassen.
«Ich habe im Grunde direkt neben ihm gesessen, in absoluter Hörweite», erzählte sie mir. «Männer mögen das. Wenn du eine Frau bist – eine schwarze Frau –, glauben sie, du wärst taub, blind und unsichtbar. Falls der Mann einfach nur glücklich war und eine Affäre hatte, dann waren seine Versuche, sie zu verheimlichen, einfach nur katastrophal. Das allein ist schon schlimm genug, aber sollten wir es hier mit einer Art Mata Hari zu tun haben, dann ist er offen wie ein Buch. Das
machte mir Sorgen.»
«Denken Sie an einen ganz bestimmten wunden Punkt bei ihm?», wollte ich wissen.
«Nein. Aber uns wurde oft genug eingebläut, dass es genau die nicht zu benennenden, allgemeinen Angriffsflächen sind, auf die wir achten müssen, die Gefahren, auf die niemand kommen würde: Ein Typ wie Mead, dem vielleicht noch nie im Leben eine aufregende, glamouröse Frau Beachtung geschenkt hat, was plappert der wohl alles aus, um sie zu beeindrucken? Plus: Da ist sein Laptop. Er nimmt das Ding jeden Abend mit, und er hat eine ziemlich hohe Sicherheitsfreigabe. Er kann sich von überall einloggen, ist im Netz, und dann könnte er sich leicht von einer Liebhaberin ablenken lassen, die mehr ist, als sie scheint, oder die vielleicht einen Komplizen hat.»
Mein Blatt schien sich endlich zu wenden, aber allein der Gedanke daran ließ mich vorsichtig sein. Einer der ehernen Grundsätze unserer Branche lautete: Du darfst nie wollen
, dass die Geschichte wahr ist.
«Es ist wichtig, dass ich Sie das frage», warnte ich sie. «Warum sind Sie sich so sicher, dass es das ist, was Sie denken? Ich meine, ein bisschen beschwipstes Geknutsche auf einer Party ist eine Sache, aber eine Schwalbe macht noch keinen Sommer.»
Sie warf mir einen geringschätzigen Blick zu.
«Wenn ich engumschlungen sagte, dann war das diplomatisch ausgedrückt. Lassen Sie es mich so formulieren: hier von Vögeln zu sprechen, ist vermutlich leider genau der richtige Ansatz.»
Und damit hatte ich leider ein Bild im Kopf, dass ich so schnell nicht wieder loswerden würde.
«Wie auch immer, das ändert nichts daran: Sie haben die beiden einmal beobachtet. Vielleicht ist es danach nie wieder passiert. Mead könnte sich mit ein paar Kumpels zum Pokern getroffen haben oder sonst einer Aktivität nachgegangen sein, von der seine Frau nichts wissen sollte. Ich kann es mir nicht leisten, die Erklärung, die Ihre Annahme stützt, als Fakt zu nehmen. Ich brauche Beweise.»
Kay wirkte etwas verlegen, aber nicht aus den Gründen, die ich vermutete.
«Ich bin ihm gefolgt. Nachdem er seiner Frau gesagt hatte, er würde später nach Hause kommen. Ich habe das auch Maurice Stafford erzählt, als ich ihm von meinem Verdacht berichtete. Schließlich wollte ich nicht einfach sofort in sein Büro stiefeln wie irgendeine x-beliebige Petze.»
«Sie sind Mead gefolgt? Mehr MI5-Stil als VMi, aber nicht schlecht.»
«Das war nicht so schwer: Ich wusste, wo er hinwollte. Das Ministerium hat eine Wohnung in Knightsbridge. Eigentlich ist es für offizielle Anlässe und Besucher gedacht, aber die leitenden Angestellten nutzen es manchmal zum Übernachten, wenn sie bis spät abends in der Stadt sein müssen und kein Zug mehr in ihre Vorstadtoasen fährt. Ich habe gesehen, wie Mead den Schlüssel genommen hat.»
«Und was haben Sie noch gesehen?»
«Die Frau vom Empfang. Sie trafen sich in einer Bar gegenüber dem Apartment und gingen dann zusammen hoch. Sie könnten natürlich auch Karten gespielt haben …»
«Touché. Dann ist die nächste Frage wohl: Wer ist sie?»
«Ich weiß es nicht. Nicht aus dem Ministerium, so viel steht fest.»
«Können Sie das herausfinden?»
«Ich kann es versuchen. Aber ich muss wirklich vorsichtig sein. Wenn Mead oder Stafford mich erwischen, bin ich meinen Job los, und ich glaube nicht, dass ich mit den besten Empfehlungen gehen werde, oder Sie?»