Karrieretechnischer Selbstmord
K
endra ging langsam den Flur zu dem Büro hinab, in dem sie die Schlüssel für die Dienstwohnungen deponierten. Sie befanden sich in der obersten Schublade im Aktenschrank neben dem Fenster: Das wusste sie, weil Mead sie in der Vergangenheit schon häufiger gebeten hatte, sie für ihn zu holen. Es waren keine zehn Meter mehr. Sie fühlte sich elend, und das, obwohl sie noch gar nichts gemacht hatte, wofür sie Ärger bekommen könnte.
Aus ihr wäre nie eine anständige Spionin geworden, dachte sie. Sie fühlte sich, als stünde ihr die Absicht ins Gesicht geschrieben, lesbar für jeden, dem sie begegnete. Trotzdem bedachte sie niemand mit einem zweiten Blick. Vielleicht war es ja das, was man bei der Spionage brauchte: die Fähigkeit, seine Ängste zu verstecken, und die Gewissheit, dass die Absicht einem eben nicht
ins Gesicht geschrieben war.
Sie musste das hier nicht tun. Sie konnte immer noch mit allem aufhören, Parlabane erzählen, dass das Protokoll geändert worden war und sie nicht mehr an die Schlüssel herankam. Wenn sie dabei erwischt wurde, sie unerlaubt an sich zu nehmen, wäre sie vielleicht ihren Job los; nicht auszudenken, was passieren würde, wenn herauskam, dass sie ihm die Schlüssel nachgemacht hatte.
Sie wollte ihren Job nicht verlieren, aber er sollte trotzdem noch von Bedeutung erfüllt sein. Was brachte es, wenn sie zum Wohl der Staatssicherheit arbeitete, wenn Leute in demselben Gebäude, demselben Büro ihre persönlichen Bedürfnisse über ebendiese Sicherheit stellten? Wozu gab es Gesetze, wenn nicht für alle die gleichen Regeln galten?
Naiv war sie nicht. Sie wusste, dass es nirgends so lief; aber sie wusste auch, dass der einzige Weg, die Dinge zu ändern und dafür zu sorgen, dass es eines Tages so laufen würde
, der war, dass Leute wie sie eine Grenze zogen und anfingen, für ihre Prinzipien zu kämpfen.
Kendra betrat das Büro und versuchte, sich möglichst normal zu verhalten, wusste aber nicht mehr so recht, was normal war. Begrüßte sie Margaret und Liz, die beiden Sekretärinnen, die sich den L-förmigen Schreibtisch teilten, normalerweise mit einem Hallo? Wäre es weniger verdächtig, wenn sie den Kopf, als wäre sie in Eile, nicht hob?
Sie entschied sich für Letzteres, ging zu dem Schrank am Fenster und öffnete die erste Schublade.
Die Schlüssel waren nicht da.
Erst spürte sie Panik, dann Erleichterung, die schließlich in Enttäuschung überging.
Sie griff ein wenig tiefer in die Lade hinein, und da fühlte sie das kalte Metall an ihren Fingerspitzen. Sie zog zur Tarnung eine Akte heraus und steckte die Schlüssel schnell in ihre Jacketttasche, jederzeit damit rechnend, dass ihr jemand auf die Schulter tippte.
Das passierte aber nicht. Niemand fragte sie, warum sie da im Schrank herumwühlte. Warum auch? Sie hatte das vorher schon hundertmal getan. Trotzdem schlug ihr Herz so laut, dass sie meinte, jeder müsste es hören.
In der Mittagspause ließ Kendra in einem kleinen Laden nahe Charing Cross die Dubletten anfertigen. Während sie wartete, biss sie nervös ein paarmal von ihrem Sandwich ab. Sie verstaute die Nachschlüssel in einem kleinen Reißverschlussfach ihrer Handtasche und steckte die Originale zurück in ihre Jacke.
Da sich in ihrem Posteingang eine Flut von Mails angesammelt hatte, wurde es drei, bis sie die Schlüssel zurückbringen konnte. Die Akte, die sie vorher genommen hatte, fest umklammert, betrat Kendra das Büro und meinte, den Boden unter den Füßen zu verlieren, als sie Stafford vor dem besagten Aktenschrank stehen sah – das Gesicht rot vor Wut.
Margaret und Liz hingegen waren aschfahl. Ganz eindeutig hatten sie ihr Donnerwetter schon abbekommen.
«Wissen Sie etwas darüber?», fragte Stafford scharf.
«Worüber?», entgegnete Kendra, um eine feste Stimme bemüht.
«Die Schlüssel zu unserer Abteilungswohnung sind nicht da, und die Entnahme wurde nicht ordnungsgemäß registriert.»
Gleich würde alles auffliegen. Sie sah sich schon in einem winzigen Verhörraum, und gefeuert zu werden wäre die geringste ihrer Sorgen.
Dann aber folgte sie einem blinden Instinkt.
«Sind sie nicht in der obersten Schublade?», fragte sie, ging auf den Schrank zu und hielt die Akte hoch, um zu signalisieren, dass sie einen Grund hatte, hier zu sein.
«Ich dachte, das hätte ich bereits erwähnt, ja», erwiderte er gereizt.
Unbemerkt zog sie die Schlüssel aus der Jacketttasche, versteckte sie in ihrer Hand, zog die Schublade weiter heraus, griff hinein und brachte die Schlüssel dann zum Vorschein. Mit genervtem Blick legte sie sie Stafford in die Hand.
«Noch kein Grund, den Flughafen zu sperren», sagte sie zu ihm.