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H ektor Thaler hatte längst aufgehört, die Tage zu zählen, an denen die Temperaturen in Frankfurt die Fünfunddreißig-Grad-Marke überstiegen. Nach mehreren Wochen mit tropischen Nächten, in denen sich die Straßen und Gebäude der City kaum abkühlten, näherte sich die Stadt allmählich dem Kollaps. Obwohl Hektor einen Hut mit breiter Krempe und langärmelige dunkle Kleidung aus selbstkühlender Nanokompositfaser trug, schwitzte er, und das Atmen fiel ihm schwer. Natürlich lag das hauptsächlich an seinem Übergewicht. Er wusste, dass er zu viel Fast Food in sich hineinstopfte. Aber hey, er konnte es sich immerhin leisten. Er fuhr mit den Händen über seinen stattlichen Bauch, der sich über dem Gürtel seiner Hose wölbte. Seit Monaten hatte er keinen Gedanken mehr an den Fitnessraum im zweiten Stock seines Penthouse-Appartements verschwendet. Von gesunder Ernährung ganz zu schweigen. Außer man zählte die Zitronenscheiben in Hektors Wodka zur Kategorie Obst. In dem Fall konnte Hektor seinem Hausarzt gegenüber mit gutem Gewissen behaupten, die Fünf-am-Tag-Regel locker einzuhalten.
Hektor stöhnte. Nicht ein Hauch von Wind wehte heute durch Frankfurts Straßen. Dazu strahlte der Asphalt eine Gluthitze ab, die selbst dem Teufel in der Hölle ein anerkennendes Nicken abringen würde. Hektor verfluchte den schwarzen Asphalt, den man in dieser Form kaum noch sah, seitdem man dazu übergegangen war, Straßen mit heller, hitzeabweisender Farbe zu beschichten – ebenso wie die Fassaden von Wohn- und Bürogebäuden. Ohne diese Anstriche sowie den Begrünungen von Dächern und Parkflächen würden sich die Städte tagsüber noch stärker erhitzen. Allerdings konnte man in den alten, versifften Stadtvierteln Frankfurts, in denen Hektor sich notgedrungen herumtrieb, von modernem Hitzemanagement nur träumen. Hoffentlich würde die brütende Hitze die bevorstehenden Abbrucharbeiten nicht beeinträchtigen.
Hektors Blick wanderte über den angrenzenden Parkplatz der abbruchreifen Klinik. Der Parkplatzbelag war an vielen Stellen aufgeplatzt; typische hitzebedingte Blow-ups. Aus den Ritzen spross Unkraut, überall lag Plastikmüll herum, vor einem großen Müllcontainer brannten mehrere Autoreifen. Schwarzer Qualm stieg kerzengerade empor, bis hoch über das Klinikdach hinaus. Hektor erinnerte sich an den Werbeflyer eines Autoaufkäufers, den er heute Morgen unter dem Scheibenwischer seines Pick-ups vorgefunden hatte, und fächelte sich damit Luft zu. Die Hitze drückte auf sein Gemüt. Den Kammerjägern erging es ebenso. Vor wenigen Minuten erst hatte Hektor einen Streit zwischen seinen beiden Vorarbeitern schlichten müssen. Sie hatten sich um einen Platz im Schatten des gewaltigen Abrissbaggers gestritten, der vor den Absperrgittern des Parkplatzes auf den Einsatzbefehl wartete. Menschen reagierten unterschiedlich auf Hitze. Die meisten verfielen in Lethargie, andere wurden aggressiv. Hektor konnte den Männern ihre miese Stimmung nicht verübeln. Wenigstens waren sie im Besitz von genügend Trinkwasservorräten, während sie auf den Startbefehl für die Ausräucherung warteten. Mehr konnte Hektor im Augenblick für seine Leute nicht tun.
Er sah auf seine Rolex. Noch fünf Minuten. Um Punkt zwölf Uhr mittags trat die Genehmigung zur Ausräucherung des alten Klinikareals in Kraft. Hektor betrachtete die dreißig kräftigen Männer, die im Schatten des Abrissbaggers und der beiden schweren Muldenkipper saßen und nur darauf warteten, endlich loszulegen. Ihre Gereiztheit kam Hektor nicht ungelegen. Je schlechter die Laune der Männer war, desto kompromissloser würden sie bei der Ausräucherung vorgehen. Je schneller sie die Kanalratten vertrieben, die sich im Innern des ehemaligen Kreiskrankenhauses aufhielten, desto schneller konnten sie diesen hässlichen Betonklotz dem Erdboden gleichmachen.
Durch die Stäbe des Absperrgitters hindurch hefteten sich Hektors Augen auf die Bauruine. Die abbröckelnde Fassade war auf Höhe des Erdgeschosses mit Graffiti übersät. Neben dem Haupteingang hatte jemand mit schwarzer Farbe einen Kreis gemalt, durch den ein Blitz von links unten nach rechts oben verlief – das Symbol dafür, dass dieses Gebäude illegal besetzt war. Die dunklen Löcher, die einmal Fenster gewesen waren, erinnerten Hektor an leere Augenhöhlen. Ganze drei Jahre hatte es gedauert, bis seine Firma Frankfurt Mining die Abrissgenehmigung für dieses Objekt erhalten hatte. Das hatte Hektor mehr Schmiergeld gekostet als zunächst veranschlagt. Doch die zu erwartenden Erträge aus dem Recycling der Rohstoffe, die in diesem Gebäude steckten, waren enorm. Urban Mining war längst zu einem extrem profitablen Geschäft geworden, denn der Bausektor war der Wirtschaftszweig mit dem höchsten Ressourcenverbrauch in Deutschland. Noch dazu war er für rund ein Viertel aller CO 2 -Emissionen verantwortlich und das, obwohl man in den letzten Jahren dazu übergegangen war, überwiegend CO 2 -neutralen Beton zu verwenden. Gleichzeitig verursachte die Baubranche beinahe sechzig Prozent des gesamten deutschen Abfallaufkommens. Was also lag näher, als hier mit umfangreichem Recycling anzusetzen? Experten gingen davon aus, dass der gesamte Gebäudebestand Deutschlands inklusive aller Infrastrukturen ein menschengemachtes Rohstofflager von etwa dreißig Milliarden Tonnen Material bildete. Als einer der ersten Bauunternehmer hatte Hektor das enorme Potenzial erkannt, das demnach im Recycling von Baustoffen lag. Diese Weitsicht hatte ihn zu einem der wohlhabendsten Einwohner Frankfurts gemacht. Und abgesehen von Geld punktete Urban Mining mit einem weiteren nicht zu unterschätzenden Vorteil: Recycling generierte CO 2 -Credits.
Für dieses Projekt rechnete Hektor mit Credits in sechsstelliger Höhe, die dem Aequitas-Konto von Frankfurt Mining gutgeschrieben werden würden. Er lächelte. Frankfurt Mining, mit Filialen in fünf deutschen Metropolen, war eine Goldgrube. Alleine die beiden Filialen im ehemaligen Osten Deutschlands warfen Millionen ab. In den abgelegenen strukturschwachen Gegenden Mecklenburg-Vorpommerns und Brandenburgs gab es ganze Dörfer, die im Laufe der letzten Jahre mangels Perspektiven von ihren Einwohnern verlassen und aufgegeben worden waren. Frankfurt Mining machte diese Orte dem Erdboden gleich. Die Rohstoffe, die in diesen Geisterstädten schlummerten und nur darauf warteten, recycelt zu werden, waren heiß begehrt. Der Rubel rollte, und in wenigen Jahren schon würde er, Hektor Thaler, zu den reichsten Männern Deutschlands gehören. Was wohl Georg dazu sagte, dass Hektor, das schwarze Schaf der Familie, es so weit gebracht hatte? Nur allzu gerne hätte er dem Bruder seinen Erfolg unter die Nase gerieben, doch ihr Kontakt war schon vor Jahren abgerissen. Umso erstaunlicher fand Hektor, dass die Polizei sich ausgerechnet bei ihm nach Georg erkundigt hatte. Ob Georg für ihn arbeite, hatte der Beamte am Telefon wissen wollen. Beinahe wäre Hektor an einem Lachanfall erstickt. Selbst wenn Georg auf Knien angekrochen käme, würde Hektor ihm keinen Job geben. Ginge es nach ihm, konnte sein älterer Bruder getrost zur Hölle fahren, und genau das hatte er dem Beamten auch gesagt.
Doch Georg war heute nicht Hektors Problem.
Finster starrte er auf die ehemalige Klinik. Bevor der Abrissbagger loslegen konnte, mussten zunächst die Kanalratten ausgeräuchert werden. Obwohl Hektor hinter den leeren Fenstern keine Bewegungen ausmachen konnte, wusste er, dass sie da waren. Sie waren immer da. Schätzungsweise hielten sich zweihundert, vielleicht sogar dreihundert Hausbesetzer in diesem Gebäude auf. Die galt es zu vertreiben, bevor Hektors Arbeiter die Klinik mitsamt dem verbliebenen Innenleben ausschlachten konnte. Auf die Unterstützung der Polizei konnten Mining Unternehmen dabei nicht bauen. Dafür bezahlte Hektor private Subunternehmer, die Kammerjäger. Diese gingen kompromisslos vor, und wenn es mal gebrochene Knochen gab, dachte niemand auch nur im Traum daran, sich dafür zu rechtfertigen.
»Ey! Chef!«
Hektor drehte seinen Kopf und sah Tufan mit einem digitalen Notizblock in der Hand auf sich zukommen. Tufan war einer der beiden Vorarbeiter, die vor wenigen Minuten wegen einer Lappalie aneinandergerasselt waren. Er trug wie üblich schwarze Jeans und ein verwaschenes schwarzes Muscle-Shirt mit dem verschnörkelten Schriftzug einer arabischen Rockband. Tufan war vor vielen Jahren aus Syrien geflohen. Damals hatte Hektor händeringend nach billigen Arbeitskräften Ausschau gehalten, die zupacken konnten, nicht zimperlich waren und keine Fragen stellten. Also war er eines Tages einfach in eine Flüchtlingsunterkunft spaziert, wo er Tufan sowie drei seiner Freunde für Frankfurt Mining angeheuert hatte. Die anderen hatten sich längst aus dem Staub gemacht, doch Tufan war geblieben.
»Wir haben ein Problem«, sagte er, als er vor Hektor stand, und deutete auf die wartenden Kammerjäger. »Es ist heiß. Die Leute verlangen mehr Wasser.«
»Dann gib jedem eine zusätzliche Flasche«, entgegnete Hektor. »Wo liegt das Problem?«
»Sensationelle Idee, Chef. Da wäre ich von alleine nie drauf gekommen.« Er hielt Hektor den digitalen Notizblock vors Gesicht. »Und wo soll ich die Flaschen hernehmen?«
Grummelnd nahm Hektor ihm den Digiblock aus der Hand und überflog die Inventarliste. »Wo sind die Wasserkanister abgeblieben?«
»Ganz genau.« Tufan nickte. »Die Kanister waren das Einzige, worum ich mich nicht selbst gekümmert habe. Mustafa war für das Wasser zuständig. Er behauptet, der Lastwagen mit den Kanistern habe das Lager pünktlich verlassen. Irgendwo auf halber Strecke ist dann anscheinend die Kommunikation mit dem Fahrer abgebrochen. Wie auch immer, der Lastwagen ist nicht da. Mustafa sagt, er kann nichts dafür, aber ich glaube, er erzählt Scheiße. Entweder hat er schlicht und einfach vergessen, das verdammte Wasser zu verladen oder …«
Tufan verstummte, aber Hektor wusste genau, worauf der Syrer hinauswollte. Ein Lastwagen voller Trinkwasserkanister war heutzutage eine ganze Menge wert. Ein Überfall war eine Möglichkeit. Ebenso denkbar war, dass Mustafa mit einem Schwarzmarkthändler gemeinsame Sache machte. Hektor würde dieser Sache gleich morgen früh nachgehen. Sollte Mustafa ihn tatsächlich bescheißen, würde er ihm eigenhändig die Eier abreißen.
»Wir brauchen das Wasser nicht nur für unsere Leute, sondern auch für die Ausräucherung«, gab Hektor zu bedenken. »Ohne Trinkwasser werden die Kanalratten nicht kooperieren. Schick Gerry mit dem Transporter los. Er soll auf der Stelle neue Kanister herschaffen.«
»Geht klar.«
Hektor gab Tufan den Digiblock zurück. »Punkt zwölf Uhr. Es ist so weit. Gehen wir rein.«
Tufan hob eine Augenbraue. »Du willst mit der Ausräucherung beginnen, obwohl wir den Ratten kein Wasser anbieten können?«
»Denkst du, ich verschiebe deswegen die ganze Aktion?«, blaffte Hektor ihn an. »Jede Stunde Verzögerung kostet mich Unsummen. Auf diesen Moment warte ich seit drei Jahren. Wir gehen rein. Und zwar jetzt!«
Tufan nickte und eilte zurück zu den Kammerjägern, um ihnen den Einsatzbefehl zu überbringen.
Während Hektor zusah, wie die Männer ihre Kevlarwesten und Schutzhelme anzogen, klickte er seine Trinkflasche vom Gürtel und genehmigte sich einen ordentlichen Schluck Wodka. Sofort ließ die Anspannung ein klein wenig nach.
Voller Vorfreude beobachtete er, wie die Männer ihre Schlagstöcke in die Hand nahmen und die Funktionsfähigkeit ihrer elektrischen Viehtreiber testeten. Neben dem Pfefferspray waren die Viehtreiber ihre effektivste Waffe. Vor Elektroschocks fürchteten sich die Hausbesetzer sehr viel mehr als vor blauen Flecken.
Hektor gönnte sich einen weiteren Schluck Wodka und verfluchte dabei Mustafas Nachlässigkeit. Das fehlende Wasser würde für Ärger sorgen. Die Ratten würden einen Aufstand anzetteln. Ziemlich sicher würde es zu Handgreiflichkeiten kommen. Hektor hoffte nur, dass niemand ernsthaft Schaden nehmen würde. Der Papierkram hinterher war immer extrem lästig.