29

S ie fuhren die Zufahrtsstraße entlang, bis sie an eine Hauptverkehrsstraße kamen und sich dort in den fließenden Verkehr einfädelten. Wohin sie fuhren, war Julian in diesem Augenblick egal. Er wollte nichts weiter, außer einen möglichst großen Abstand zu dem Ort zu schaffen, an dem ihr Onkel soeben zu Brei zerquetscht worden war.

»Und jetzt?«, fragte Leni. Sie starrte zum Seitenfenster hinaus, und ihre Stimme klang tonlos.

»Keine Ahnung«, antwortete Julian wahrheitsgemäß.

»Onkel Hektor ist tot. Was bedeutet das für uns?«

Er zuckte mit den Schultern. »Lass uns erst mal irgendwohin fahren, wo wir in Ruhe nachdenken können. Der Tank ist fast voll. Ich will aus der Stadt raus. Ich mag die Stadt nicht.«

»Ich auch nicht.«

»Schön, dich wiederzusehen, Schwesterherz.«

»Dito, Jules.« Sie lächelte matt. »Auch wenn du ganz schön müffelst.«

Er erwiderte ihr Lächeln. »Im Gegensatz zu dir hatte ich die letzten Tage leider kein eigenes Band mit fließend Wasser zur Verfügung.«

Schlagartig wurde sie ernst. »Dafür musstest du nicht jeden Abend Angst haben, dass dein eigener Onkel stockbesoffen deine Tür eintritt und wer-weiß-was mit dir anstellt.«

Julian schluckte. »Hat er dich angefasst? Du weißt schon …«

»Nein«, sagte sie rasch. »Nach dieser ersten schlimmen Nacht hat er wohl selbst gecheckt, dass die Aktion von ihm Scheiße war. Er hat zwar jeden Abend getrunken, aber er ist nicht mehr ausfällig geworden. Das Problem war, dass er mich keine Sekunde aus den Augen gelassen hat. Ich durfte die Wohnung nicht verlassen. Schätze mal, er hatte Angst, dass ich zum Jugendamt gehe oder abhaue.«

»Es war richtig von uns, den passenden Moment abzuwarten. Ich bin froh, dass dir nichts passiert ist.«

»Es gab da diesen einen Moment, da dachte ich echt, jetzt bringt er mich gleich um. Ich hab dir ja erzählt, wie ich das Notizbuch abfotografiert habe. Du erinnerst dich?«

»Na klar.«

»Also, da waren meine Haare nass und haben getropft. Ich habe in der ganzen Aufregung zu spät bemerkt, dass der ganze Boden vor dem Sofa nass war. Keine Ahnung, was Onkel Hektor mit mir angestellt hätte, wenn er das entdeckt hätte.«

»Wie hast du es geschafft, dass er nichts bemerkt hat?«

»Pures Glück.« Sie schüttelte den Kopf, als könnte sie es immer noch nicht fassen, dass sie an diesem Tag ungeschoren davongekommen war. »Es war nicht Hektor, der da in diesem Augenblick zur Tür hereinkam, sondern Borjana, die Haushälterin. Sie ist okay. Sie hat mir geholfen, den Boden zu wischen, und sie hat mich nicht verraten.«

»Wie hast du es eigentlich geschafft, dass Hektor dich heute zu dieser Ausräucherung mitgenommen hat?«

»Das war leicht. Ich musste nur Interesse an seiner Arbeit heucheln. Er wollte, dass ich ihn für das bewundere, was er erreicht hat. Es sollte mir wohl imponieren, ihm dabei zuzusehen, wie er arme Menschen aus ihrer Zuflucht vertreibt. Was für ein Arsch.«

»Er kann dir nichts mehr anhaben.«

»Ich weiß.«

Für einen Moment genossen beide das Gefühl, in Sicherheit zu sein. Zudem erfreute sich Julian an der kalten Luft, die aus der Klimaanlage strömte. In einem Cupholder steckte eine Plastikflasche mit stillem Wasser. Mit einer Hand am Steuer öffnete Julian sie und trank gierig. Erst jetzt wurde ihm bewusst, wie durstig er gewesen war. Seine letzte Ration Trinkwasser hatte er gestern Abend aufgebraucht.

»Auf dem Rücksitz sind noch mehr Flaschen«, meinte Leni.

»Echt?«

»Klar. Jede Menge.« Sie schnallte sich ab, kletterte über die breite Mittelkonsole nach hinten und ließ sich kurz darauf mit zwei vollen Flaschen in der Hand wieder auf den Beifahrersitz fallen. Sie öffnete eine Flasche und hielt sie Julian hin. Dankbar griff er zu.

Er folgte der Beschilderung zur A661 und reihte sich auf der Autobahn auf der rechten Spur ein, zwischen autonom fahrenden Lastwagen. Dort aktivierte er den Selbstfahrmodus des Pick-ups und nahm die Hände vom Steuer. Sie fuhren in Richtung Offenbacher Kreuz und somit grob in Richtung Heimat. Allerdings war Julian unschlüssig, ob sie tatsächlich nach Hause fahren sollten. Sein Herz verlangte danach, sein Verstand legte heftigen Widerspruch ein. Bei einer Pause würden er und Leni darüber reden müssen.

Jetzt, da er sein Augenmerk nicht mehr auf den Verkehr richten musste, fiel ihm etwas ein. »Erzähl mir noch mal in aller Ruhe von Hektor und dieser Kilian. Du warst am Telefon so aufgeregt. Ehrlich gesagt, habe ich nicht einmal die Hälfte kapiert.«

Ruckartig drehte sich Leni auf dem Sitz zu ihm hin. »Du, das glaubst du mir nie.«

»Dann schieß los.«

Sie erzählte von Kilians Gespräch mit ihrem Onkel und auch von dessen gelbem Notizbuch. Sie plapperte aufgeregt und wild durcheinander, und gelegentlich hatte Julian Mühe, ihren Gedankensprüngen zu folgen.

»Es war also kein Zufall, dass die ACON nach dem Brand bei uns aufgetaucht ist?«, fragte er, nachdem sie ihre Geschichte beendet hatte.

Sie schüttelte energisch den Kopf. »Onkel Hektor hat immer ein Auge auf unsere Familie gehabt. Wie er aber von dem Feuer erfahren und wie Kilian es angestellt hat, uns den Hof wegzunehmen und mich hierher zu vermitteln, das ist mir immer noch ein Rätsel. Ich weiß nur, dass alles irgendwie zusammenhängt.«

»Es ging Kilian also in Wahrheit nie um den abgebrannten Stall?«

»Nein. Onkel Hektor ahnte zu dem Zeitpunkt ja nicht, dass Papa schon lange tot ist. Erst diese Kilian hat es dann herausgefunden, und auch nur, weil sie Zugriff auf unsere Aequitas-Konten hat. Niemand außer einem Bluthund hätte das herausfinden können. Selbst Kilian ist uns nur auf die Schliche gekommen, weil sie explizit nach etwas gesucht hat, womit sie uns unter Druck setzen konnte.«

»Ich würde mal sagen, das ist saudumm gelaufen für uns«, kommentierte er. »Woher kennen Hektor und Kilian sich?«

»Keine Ahnung. Aber die beiden haben ganz schön Dreck am Stecken. So viel steht fest.«

Julian warf ihr einen nachdenklichen Blick zu. »Du denkst also, die beiden betrügen die ACON

Sie nickte heftig. »Nach allem, was ich heraushören konnte, sorgt diese Kilian dafür, dass Onkel Hektor Insiderinformationen zu öffentlichen Ausschreibungen erhält. Dank diesen Informationen kann er die Angebote der Konkurrenz unterbieten und erhält die begehrten Aufträge.«

»Damit meinst du Aufträge wie der heute? Ausräucherungen und anschließendes Gebäuderecycling?«

»Ja. Und im Gegenzug überweist Onkel Hektor dieser Kilian dann ihren Anteil an den CO 2 -Credits, die Frankfurt Mining aus dem Recycling generiert.«

»Bestechung also.«

»Und Betrug«, fügte sie an. »Und da ist noch was …«

»Was?«

»In dem Gespräch hat Kilian angedeutet, dass sie nicht mehr weiter mit Onkel Hektor Geschäfte machen will. Anscheinend hat sie etwas Neues am Start.«

»Etwas Neues?«

»Eine größere Sache, mit der sie mehr Geld machen kann als mit Frankfurt Mining. Ziemlich sicher ist auch das etwas Illegales.«

»Was weißt du darüber?«, fragte er.

»Nichts. Es fiel nur ein Name: Wolf oder Wulf Ahrend. Hektor war deswegen ziemlich sauer, aber gegen diese Kilian kam er wohl nicht an.«

Am rechten Straßenrand erschien ein Schild, das auf einen Parkplatz in einem Kilometer Entfernung hinwies.

»Lass uns da mal rausfahren«, schlug Julian vor. »Ein wenig durchatmen und nachdenken.«

»Klar.«

»Ich würde mir gerne die Fotos vom Notizbuch ansehen«, sagte er. »Vielleicht finden wir darin ein paar Antworten.«

»Klar.«

Die Parkplatzausfahrt kam in Sicht. Julian aktivierte die Handsteuerung und fuhr von der Autobahn ab. Langsam rollte er an parkenden Lkw und Tankwagen vorbei, bis er eine Lücke fand und hineinfuhr. Abgesehen von einem Fernfahrer, der auf einem Klappstuhl im Schatten seines Lastwagens saß und rauchte, war kein Mensch zu sehen. Julian stellte den Motor ab, und sie stiegen aus. Endlich konnte er Leni in die Arme nehmen. Er drückte sie so fest an sich, dass ihr die Luft wegblieb. Als er sie losließ, lächelte sie.

Sie schlenderten zu einer Bank auf einem vertrockneten Rasenstreifen und setzten sich.

»Ich will nach Hause«, sagte Leni.

»Das können wir im Moment noch nicht. Zuvor müssen wir ein paar Dinge regeln.«

»Wenn du meine Sachen in Onkel Hektors Appartement meinst, die brauche ich nicht so schnell.«

Er schüttelte den Kopf. »Zunächst einmal sollten wir der Polizei melden, was heute passiert ist. Ich kann mir gut vorstellen, dass Hektors Tod ansonsten eine ganze Weile lang unbemerkt bleiben wird. Seine Leute hatten sich ja längst aus dem Staub gemacht, als er … Nun ja, bei der Gelegenheit können wir vielleicht gleich mit der Polizei reden. Ich meine, was unsere Situation angeht. Wenn wir der Polizei erklären, dass dein Vormund tot ist, und es niemanden gibt, der dich im Augenblick aufnehmen kann, werden sie vielleicht zustimmen, dass du bei mir bleibst. Zumindest bis das Jugendamt erneut entscheidet.«

»Aber was ist mir dir, Jules? Bald ist deine Verhandlung. Sie werden dich verknacken, und danach werden sie uns den Hof wegnehmen. Das hast du selbst gesagt.«

»Vielleicht können wir mit der ACON einen Deal machen?«, überlegte er laut. »Wenn wir der ACON Beweise liefern, dass einer ihrer Bluthunde sich von Frankfurt Mining bestechen lässt, könnte diese Information der ACON viel wert sein. Sie ist eine der wichtigsten und einflussreichsten Behörden in Europa. Vielleicht kann die ACON mit der Stagrar aushandeln, dass wir den Hof behalten dürfen? Und vielleicht bringt es mir auch Pluspunkte in meiner Verhandlung.«

»Denkst du echt?«

»Einen Versuch ist es zumindest wert. Was haben wir schon zu verlieren? Zeig mir mal die Fotos von diesem Notizbuch. Vielleicht finden wir darin einen Hinweis auf diesen ominösen Ahrend.«

»Hier.« Sie drückte ihm ihr Smartphone in die Hand. »Ist alles in der Cloud.«

Er wischte sich durch die Fotos und runzelte die Stirn. Mit den Zahlen-Buchstaben-Kombinationen und den hastig hingekritzelten Codewörtern konnte er nichts anfangen. Nirgendwo fand er einen Hinweis darauf, für welches System oder welche Webplattform die Codes gedacht waren, geschweige denn, was sie bedeuteten. Für Julian ergab nichts in diesem Notizbuch einen Sinn. Auf einen Wolf oder Wulf Ahrend gab es keinen einzigen Hinweis.

»Kannst du damit was anfangen?«, fragte er und gab ihr das Smartphone zurück.

Sie schüttelte den Kopf.

»Denk nach. Erinnere dich an das Gespräch zwischen Hektor und Kilian. Haben die beiden vielleicht doch noch irgendetwas erwähnt, das uns weiterhelfen könnte?«

»Keine Ahnung. Es ging die ganze Zeit nur um Credits.«

Er verzog das Gesicht. »Das hilft uns nicht weiter.«

»Was ist mit der Polizei?«, fragte Leni.

»Was soll mit ihr sein?«

»Na, wenn wir sowieso zur Polizei gehen, können wir denen doch gleich alles erzählen.« Sie wedelte mit ihrem Smartphone herum. »Wir zeigen denen die Fotos. Die haben doch Spezialisten. Da wird schon jemand dabei sein, der mit diesen Codes was anfangen kann. Oder es zumindest herausfinden kann.«

»Und die Polizei kann dann auch gleich die ACON informieren«, fügte Julian lächelnd hinzu. »Gute Idee. Google zeigt uns den Weg zum nächsten Polizeirevier. Ich geh solange mal für kleine Jungs.«

Sie grinste.

Während er zu den Toiletten ging, konnte er sich ein Lächeln nicht verkneifen. Sie hatten einen Plan. Es gab Hoffnung. Immerhin. Vielleicht würde sich ja doch noch alles zum Guten wenden.

Als er wenig später zum Pick-up zurückkehrte, sah er Lenis Gesichtsausdruck und wusste sofort, dass etwas nicht stimmte. Sie lehnte mit ihrem Hintern gegen die mächtige Motorhaube des Autos und starrte mit offenem Mund auf ihr Smartphone. Ihr Gesicht war kreidebleich.

»Was ist los?«, fragte er.

Sie hob ihren Kopf und sah ihn mit großen Augen an. »Wir können nicht zur Polizei.«

»Wie meinst du das?«, fragte er.

»So wie ich es sage. Vergiss die Polizei.«

»Ich kapier es nicht, Leni. Wovon redest du?«

»Die Polizei wird uns nicht helfen.«

»Aber wie kommst du denn darauf?«

Sie schluckte trocken. »Weil sie dich wegen Mordes suchen, Jules.«