Kap

KAPITEL 16

Ich ziehe mein altes weißes Hemd über meine Trainingskluft und stecke mein Haar in den Kragen. Die Verkleidung ist ziemlich armselig, aber sie wird hoffentlich ausreichen, damit man mich bei flüchtigem Hinsehen für einen Diener hält. Die Diener sind nämlich so gut wie unsichtbar für die Barden. Wenn sie einen von ihnen eines Blickes würdigen, dann mit derselben kalten Gleichgültigkeit, die sie allen Menschen außerhalb ihres exklusiven Kreises entgegenbringen.

Die Sonne ist noch nicht aufgegangen, als ich durch die dunklen Gänge gehe. Die Fackeln sind niedergebrannt; die Wachablösung steht an. Die wenigen Leute, die ich sehe, sind durch den Morgendunst kaum zu erkennen, also werden auch sie nicht bemerken, dass mit dem vermeintlichen Diener etwas nicht stimmt. Was ein Glück ist, denn nach einer Weile fällt mir auf, dass ich mich verlaufen habe und an denselben Fackeln und geschlossenen Türen vorbeikomme wie vor ein paar Minuten.

Als Ravod mich zu meinem Zimmer brachte, kam mir der Grundriss verzwickt und weitläufig, aber trotzdem logisch vor. Doch jetzt, allein und in der Stille des frühen Morgens, scheinen die Wände beweglich zu sein und nach Belieben ihre Position zu verändern. Eine leise Unruhe macht sich in meiner Magengegend breit. Vielleicht war das doch keine so gute Idee. Unterschwellig nehme ich das Murmeln der Schutzbeschwörung wahr – einige Wächter dürfen niemals ruhen, auch tief in der Nacht kann man den Singsang hören.

Ich versuche, mich auf den Rhythmus zu konzentrieren, um meinen Geist zu beruhigen, aber dann durchbricht ein leises Schniefen die murmelnden Stimmen. Ein Weinen. Ein Hilferuf, kaum zu vernehmen, gedämpft, wie durch eine Tür am hinteren Ende des Ganges.

Kieran. Das ist Kieran, der da weint. Er ist allein und er braucht mich. Ein idiotischer Gedanke, ich weiß, aber ich kann ihn nicht abschütteln.

Ich eile den Gang entlang und stoße die Tür auf, hinter der ich das Geräusch hören kann, aber da ist niemand. Das Weinen verstummt und ich stehe allein in einer leeren Vorhalle. Habe ich mir das in meiner Einsamkeit bloß eingebildet? Mein Bruder. Kieran. Der seit fast fünf Jahren tot ist.

Was ist los mit dir, Shae?

Erregung lässt mir die Kehle eng werden, als ich eine andere Tür aufdrücke. Ich stehe auf einer der Terrassen oberhalb des Übungsplatzes. Erleichtert atme ich auf und umfasse das Balkongeländer, um mich zu sammeln.

Der Platz unter mir sieht um diese Stunde aus wie ein geisterhafter See. In dem allmählich verblassenden Kohlschwarz des Himmels funkeln immer noch ein paar Sterne.

Ich husche die Treppe hinunter, die von der Terrasse zum Übungsplatz führt, und dann auf den offenen Platz hinaus. Meine Beine protestieren wütend, als ich versuche zu rennen. Mein Körper ist dermaßen erledigt und erschöpft, dass ich nur ein leichtes Joggen bewerkstellige. Die Stufen hinunter zum Schießplatz kommen mir in der Dämmerung noch tückischer vor als im hellen Tageslicht. Ich habe das Gefühl, in einen Abgrund aus rauchgrauem Nebel hinabzusteigen.

Ich verstecke mich hinter einer der massiven Zielscheiben, wo ich selbst nicht gesehen werde, aber trotzdem einen guten Blick auf die Tür zu den Baracken habe. Dann warte ich. Es dauert nicht lang, da öffnet sich die Tür und die Barden treten heraus, manche allein, andere zu zweit oder in kleinen Gruppen, gelegentlich in eine Unterhaltung vertieft. Sie gehen zum Speisesaal, und während sie frühstücken, habe ich Gelegenheit, ein wenig herumzustöbern.

Nialls rote Haare sind nicht zu übersehen, wenn auch noch zerzaust vom Schlaf. Er gähnt.

»Wieder auf und davon?«, fragt ein Barde ihn.

»Du kennst mich doch.« Niall grinst und rückt den Beutel zurecht, den er über eine Schulter gehängt hat. »Ich kann nicht lange still sitzen. Wenn ich ewig im Palast bleiben müsste, würde ich verrückt werden.«

Also verlässt er das Hohe Haus, um in den Dörfern den Zehnten einzusammeln oder Rekruten zu suchen. Oder um Schmerz und Leid über unschuldige Menschen zu bringen.

Ich schiebe vorsichtig meinen Kopf weiter um die Zielscheibe herum, um Nialls Beine sehen zu können.

In seinem Stiefel steckt immer noch kein Dolch.

Soweit ich das beurteilen kann, stellen die Barden den goldenen Dolchgriff in ihren Stiefeln fast wie eine Ehrenmedaille zur Schau. Dass Kennan und Niall ihre nicht tragen – aus welchem Grund auch immer –, ist im besten Fall ungewöhnlich, im schlimmsten ein Beweis für die Schuld der einen oder des anderen.

Ich ducke mich wieder in mein Versteck, bis der Strom der Barden, die zum Frühstück pilgern, versiegt. Nachdem die letzten durch die Tür getreten sind, warte ich noch ein paar Minuten, um sicherzugehen, dass die Luft rein ist.

Die Tür zu den Baracken ist nicht verschlossen. Hineinzukommen ist der einfache Teil des Plans. Jetzt muss ich Nialls Quartier aufspüren und hoffentlich darin irgendetwas, das seine Schuld beweist, ehe jemand mich aufspürt.

Vielleicht bewahrt er Trophäen seiner Verbrechen und Eroberungen auf. Vielleicht finde ich ein blutbesudeltes Hemd oder den gondalesischen Ochsen, der uns gestohlen wurde. Irgendetwas.

Die Tür vom Schießplatz führt in einen großen Gemeinschaftsraum aus dunklem Stein. Bequeme Sessel und ein paar Tische mit leeren Trinkgefäßen, Weinflaschen und liegen gelassenen Spielkarten stehen willkürlich herum. Diese Unterkunft ist viel größer als die der Frauen, was verständlich ist, weil es von uns vergleichsweise wenige gibt. In der Luft hängt der Geruch nach Asche und Moschus und an der Wand die ausgestopften Trophäen etlicher Jagdspiele in Form von Tierköpfen: Hirsche, Kojoten, Wölfe, sogar ein Berglöwe. Über dem großen Kamin ist der Kopf eines Büffels ausgestellt.

Am gegenüberliegenden Ende des Raums führt eine Treppe zu einer Galerie im ersten Stock. Ich husche hinauf, wobei ich mir Mühe gebe, mich so geräuschlos wie möglich zu bewegen, für den Fall, dass doch noch jemand hier ist. Als ich oben bin, trete ich durch eine weitere Tür.

Einen Moment lang schwanke ich zwischen der ungeheuren Befriedigung, es in die Männerquartiere geschafft zu haben, und der ängstlichen Frage, wie es mir gelingen soll zu finden, wonach ich suche: Es gibt einfach zu viele Orte, an denen ich suchen müsste. In einem Bereich des Saals stehen Stockbetten, jeweils drei übereinander, und am Fuß jedes Bettgestells Spinde für die persönlichen Habseligkeiten. Ein Stück weit entfernt sehe ich in den Stein gehauene Kammern, die mit Vorhängen abgetrennt sind.

Ich bin wirklich froh, dass ich kein Mann bin, denke ich.

Langsam gehe ich durch die Reihen mit den Stockbetten. Nervosität und sinkende Hoffnung verschlingen sich in meinem Magen zu einem engen Knoten. Mir läuft die Zeit davon, bald muss ich mich für das tägliche Training fertig machen.

Am anderen Ende der Baracke befindet sich ein weiterer Kamin. Eine kleine Gestalt in der schwarz-weißen Dienstbotenuniform hockt davor und fegt eifrig die kalte Asche aus.

Mein Herz macht einen Satz und ich umklammere fest meine Sticknadeln. Zitternd hole ich Atem und weiche dann langsam zurück. Aber vor lauter Nervosität bleibe ich mit dem Stiefelabsatz an einem Bettpfosten hängen und es rumst so laut wie ein Donnerschlag. Ich gerate ins Stolpern und falle zwischen zwei Bettgestellen auf den Allerwertesten.

Zu spät. Die Dienstmagd eilt herbei. Auf ihrer Wange prangt ein Rußfleck, aber trotzdem erkenne ich sofort das junge Mädchen mit den dunklen Locken und der Zahnlücke, das mir an meinem ersten Tag im Hohen Haus – vor einer halben Ewigkeit, so kommt es mir vor – das Frühstück serviert hat.

»Alles in Ordnung, Mylord?«, fragt sie und reicht mir die Hand, um mir aufzuhelfen. Zögernd greife ich zu und lasse mich von ihr nach oben ziehen. Trotz ihrer zierlichen Gestalt ist sie kräftiger, als sie aussieht.

»Alles bestens«, brumme ich, »die reinste Streicheleinheit im Vergleich zu den letzten Tagen.«

»Oh, Mylady! Ich habe Euch nicht erkannt!« Ihre Augen weiten sich erschrocken und sie legt die Stirn in Falten. »Ihr dürftet nicht hier sein! Das ist nicht …«

»Nicht schicklich, ich weiß.«

»Ich darf nur hier hinein, um die Kamine zu säubern«, sagt sie. »Und ich würde in große Schwierigkeiten geraten, wenn ich nicht weg wäre, bis die Herren Barden zurückkehren.«

»Ich muss nur Nialls Schlafkammer finden«, erwidere ich. Ich setze alles auf eine Karte, indem ich ihr vertraue. »Ich bin ganz schnell wieder weg, versprochen.«

Das Mädchen runzelt unsicher die Stirn. »Niall? Er ist der Rothaarige, nicht wahr?« Ich nicke. »Oh, da seid Ihr hier völlig falsch. Aber …« Sie verstummt und zieht eine Augenbraue hoch. »Was wollt Ihr in seiner Kammer?«

Ich schweige und kaue auf meiner Lippe. Mein Herz rast, wenn ich daran denke, dass kostbare Sekunden vergehen. »Es ist wirklich wichtig«, flehe ich. »Du musst mir vertrauen, bitte!«

Ihre Augen werden schmal und sie kratzt sich den Nacken unter dem Ansatz ihrer dunklen wilden Locken, die am Hinterkopf zusammengebunden sind. Weitere Sekunden verrinnen, die mir wie Stunden vorkommen, während sie mich abschätzend anstarrt.

»Also schön, aber nur dieses eine Mal«, sagt sie schließlich. Sie wartet nicht, bis ich reagieren kann, sondern richtet sich auf und geht wieder zurück in Richtung des Gemeinschaftssaals, wobei sie mir bedeutet, ihr zu folgen.

»Warte!«, rufe ich sie zurück. »Danke. Wie soll ich …? Wie heißt du?«

Das Mädchen errötet. »Ich …« Sie zögert und ich frage mich, ob ich wieder etwas Unschickliches getan habe, weil ich mich nach dem Namen einer Dienstmagd erkundigt habe. »Mein Name ist Imogen«, sagt sie leise.

»Ich bin Shae.« Ich schenke ihr ein zögerliches Lächeln, während ich zu ihr aufschließe. »Danke, dass du mir vertraust, Imogen.«

»Wir Frauen müssen einander doch vertrauen, nicht wahr?« Sie wirft mir einen Seitenblick zu und grinst und ich merke, dass ich sie richtig gernhabe. Sie denkt wie ich.

»Ich missachte nicht oft die Regeln. Es ist ziemlich aufregend, nicht wahr?«

»Stimmt«, gebe ich zu.

Wir gehen an einem Bett nach dem anderen vorbei und mir wird klar, dass es etwas gibt, was ich nicht zugeben würde: dass mich der Gedanke, dort zu sein, wo Ravod schläft, mit einer nervösen Erregung erfüllt. Kaum eins der Quartiere hat eine persönliche Note, hin und wieder sehe ich ein Bild an der Wand oder einen bunten Läufer auf dem Boden, aber das ist schon alles. Ich frage mich, was ich in Ravods Kammer vorfinden würde. Vielleicht ist er ein Kunstliebhaber oder er sammelt Kuriositäten. Auf jeden Fall verbirgt sich hinter dieser glatten, würdevollen Fassade mehr, als er preisgeben will, und ich würde zu gerne wissen, was es ist.

Ich zwinge mich, nach vorn zu schauen. Ich bin nicht wegen Ravod hier, auch wenn er es immer wieder schafft, sich in meine Gedanken zu mogeln, und zwar zu den unpassendsten Gelegenheiten.

Imogen hat einen beschwingten Gang, und als wir das Ende des Saals erreichen und sie sich nach rechts wendet, wippt ihr lockiges Haar bei der Bewegung. Sie steuert auf eine weitere Reihe mit Steinkammern zu.

»Nur die Rekruten und Junior-Barden schlafen in den Stockbetten. Die älteren haben hier ihre Unterkünfte«, erklärt sie, bleibt vor der zweiten Reihe stehen und deutet auf einen geschlossenen Samtvorhang. »Das ist Nialls Kammer.«

»Nochmals vielen Dank.« Ich lächle und berühre kurz ihre schmale Schulter, in der Hoffnung, sie könnte irgendwie durch den Druck meiner Hand spüren, dass ich es ernst meine. »Du solltest jetzt verschwinden, falls es Ärger gibt.«

Imogen legt den Kopf schräg. »Und was ist mit Euch?«

»Ich komme schon zurecht. Du sollst nicht wegen mir bestraft werden, falls etwas schiefgeht.« Aus irgendeinem Grund habe ich den Drang, sie zu beschützen.

»Ich bin fast dreizehn Jahre alt, wisst Ihr. Ich kann allein auf mich aufpassen«, versichert mir Imogen und richtet sich zu ihrer vollen Größe auf, was sie fast auf Augenhöhe mit mir bringt.

Ich seufze, aber mir ist klar, dass ich keine Zeit zum Streiten habe. Ich nicke knapp und husche dann hinter den Vorhang.

Hier in der Kammer herrscht nur spärliche Beleuchtung und es dauert eine Weile, bis sich meine Augen an das Dämmerlicht gewöhnt haben. Schließlich erkenne ich einen Schreibtisch und darauf eine Lampe, die ich anzünde. Schatten flackern in der Dunkelheit.

Nialls Quartier ist viel kleiner als meins. Es ist kaum genug Platz für ein schmales Bett und eine Kommode, beides ordentlich aufgeräumt und asketisch – ein starker Kontrast zu dem Schreibtisch, der an der Wand steht: Bei der Unordnung auf der Tischplatte ist kaum auszumachen, dass es sich überhaupt um einen Schreibtisch handelt.

Ich bleibe wie angewurzelt stehen, als ich sehe, was genau sich auf diesem Schreibtisch aufhäuft. Mir stockt der Atem und mein Blut scheint in den Adern zu gefrieren.

Papiere … Schreibfedern … Bücher … Tinte.

Ich beiße die Zähne zusammen und mache einen zögernden Schritt nach vorn. Ich muss daran denken, was mir Ravod an meinem ersten Abend im Hohen Haus erzählt hat.

Das hier ist nichts Ungewöhnliches. Die Barden lernen Lesen und Schreiben.

Noch ein kleiner Schritt und ich stehe vor dem Schreibtisch. Vor mir ausgebreitet liegt alles, was man mich gelehrt hat, zu fürchten und abzulehnen. Plötzlich bin ich froh, dass ich nicht gefrühstückt habe. Ich bin mir nicht sicher, ob ich diesen Anblick mit vollem Magen verkraftet hätte. Meine Hand zittert, als ich nach einem Stapel Papiere greife. Ich erkenne keins der Symbole auf den Seiten, aber es gibt auch ein paar Diagramme, mit denen ich vielleicht etwas anfangen kann.

Die Zeichnungen auf dem ersten Stapel sagen mir nichts. Viele sehen aus wie Querschnitte von verschiedenen Organen und Körperteilen, was bei meinem unruhigen Magen nicht hilfreich ist. Einige Wörter sind durchgestrichen oder korrigiert, aber ich kann mir auf die ganze Sache keinen Reim machen.

Ein zweiter Stapel, der ordentlicher zusammengeschoben ist, steckt im Einband eines Buchs. Ich ziehe an den Papieren, weil ich Angst habe, das Buch anzufassen, und seufze erleichtert auf, als sie herausgleiten, ohne dass etwas passiert.

Ich zittere so sehr, dass ich mich auf das Bett setzen muss, um nicht umzufallen, während ich die Papiere durchsehe.

Diese Zeichnungen sind vollkommen anders und ich erkenne sofort, um was es sich handelt: Landkarten. Fein gezeichnete Symbole bedecken die Seiten, die Details sind genau herausgearbeitet und jeder Orientierungspunkt handschriftlich benannt. Niall macht äußerlich den Eindruck eines Mannes, der gern und lange unterwegs ist, und offensichtlich hat er auch eine Leidenschaft für die Kartografie. Er hat Zeichnungen angefertigt von Orten, an denen er gewesen ist: Felsformationen, Baumgruppen und Haine, Berghänge – alle mit makelloser Präzision, beinahe liebevoll, zu Papier gebracht.

Ich starre das Bild eines Tals an, eingerahmt von Bergen mit einem Feldweg quer hindurch. Es erinnert mich sehr an zu Hause. Wenn da neben dem Weg noch ein kleines Haus stünde …

Plötzlich packe ich die Ränder des Papiers fester.

Da ist ein Haus. Mein Haus. Der Platz, den es einnimmt, ist verschwindend gering, aber die Einzelheiten stimmen überein. In einem Kreis stehen einige Worte, von denen ein Pfeil direkt auf mein Zuhause weist.

Das Papier darunter zeigt ebenfalls eine Karte, diesmal eine von Aster. Ich würde mein Dorf überall erkennen. Ich kann der Straße folgen durch die Tore, vorbei am Turm des Wachtmeisters, durch das Zentrum mit dem Laden von Fionas Vater, den Hügel hinauf zu der Mühle von Mads’ Familie. Der Pass im Norden, der zu meinem Haus führt, ist mit einem roten Kreuz markiert, so rot wie Blut.

Blut. Mein Herzschlag pocht in meinen Ohren und findet seinen Widerhall in den schweren Schritten, die sich nähern. Ich springe auf, falte die Zeichnungen von meinem Zuhause zusammen und stecke sie in meine Hosentasche. Dann schiebe ich die anderen Unterlagen hastig wieder in das Buch zurück, wo ich sie gefunden habe. Schließlich husche ich zum Vorhang.

Ich muss raus hier. Sofort.

Meine Hüfte stößt gegen einen kleinen Tisch, woraufhin die leere Branntweinflasche, die darauf steht, umfällt und zu Boden rollt, wo sie mit einem ohrenbetäubenden Krachen zerspringt.

»Was war das?«, dröhnt eine Stimme aus dem Schlafsaal.

Hektisch ducke ich mich und versuche, die Glassplitter aufzuheben, ehe ich dazu übergehe, sie einfach unter das Bett zu fegen. Ich zucke zusammen, als mir die scharfen Kanten in die Fingerspitzen schneiden.

Schnell husche ich wieder zum Vorhang. Mein Herzschlag vibriert in meiner Brust.

»Guten Morgen, Mylord!« Imogens Stimme lässt mich erstarren. Die näher kommenden Schritte verstummen. »Schon zurück?«

»Ich habe etwas vergessen.« Ich schlucke entsetzt, als ich Nialls Stimme erkenne.

Verzweifelt schaue ich mich nach einem Versteck um. Kalter Schweiß bricht mir auf der Stirn aus, als mir klar wird, dass ich in der Falle sitze. Der Schreibtisch ist zu klein, das Bett zu niedrig und in der Ecke sieht er mich sofort.

Wenn ich nur eine Beschwörung zustande bringen könnte! Ich bewege meine Finger und versuche, das fremdartige Gefühl hervorzurufen, das ansonsten immer nur ungebeten kommt.

Nichts. Die Schritte nähern sich wieder.

»Ich bitte um Verzeihung, Mylord«, höre ich wieder Imogens Stimme. »Ich habe eine Maus im Gang gesehen. Würdet Ihr mir helfen, sie einzufangen? Ich verspreche Euch, es wird nicht lange dauern.«

Die Stille, die nun folgt, drückt mich förmlich zu Boden.

»Also schön«, seufzt Niall. »Aber es muss schnell gehen.«

Imogens und Nialls Schritte verschwinden um die Ecke und ich atme erleichtert aus.

Leise und in Windeseile verlasse ich die Baracken und nehme mir vor, etwas ganz besonders Hübsches für Imogen zu sticken.

abs

Als ich den Übungsplatz betrete, ist die Sonne aufgegangen und ich habe das Gefühl, dass ich bereits mein Tagewerk hinter mich gebracht habe, so fix und fertig bin ich von meinem Ausflug in die Baracke der Männer. Ich versuche, meine Erschöpfung mit einem tiefen Atemzug frischer Bergluft zu vertreiben. Mein Magen grummelt laut und erinnert mich daran, dass ich kein Frühstück hatte.

Verstohlen fasse ich in meine Tasche und berühre die Papiere, die ich aus Nialls Kammer entwendet habe. Ich bin der Lösung einen Schritt näher gekommen.

Ich warte am Rand des Übungsplatzes auf Kennan. Ich habe vergessen, ob fünf Tage vergangen sind oder schon sechs. Alles verschwimmt ineinander und ich weiß nicht, ob ich Fortschritte mache oder komplett versage. Kennan ist unergründlich und ich habe nicht das Gefühl, dass ich in meinem Bemühen, meine Gabe zu begreifen, irgendwie weitergekommen bin – wenn ich denn tatsächlich über irgendeine Gabe verfüge.

»Du bist ja immer noch da.« Die tiefe, melodische Stimme schreckt mich auf. Ich drehe mich um. Ravod steht in der Nähe, die Arme vor der Brust verschränkt und mit einem rätselhaften Lächeln auf den Lippen. Ich frage mich, ob er weiß, dass seine Worte bei mir das Gegenteil von dem bewirken, was er beabsichtigt: Je mehr er mich verspottet, je mehr Warnungen er ausspricht, desto entschlossener werde ich. Ich will den Ausdruck auf seinem Gesicht sehen, wenn ich ihm beweise, dass er eine falsche Meinung von mir hat.

»Du wirst deine Wette verlieren, Ravod«, sage ich und genieße es, dass meine Stimme selbstsicher klingt – viel selbstsicherer, als ich mich fühle. Aber ich habe keine Lust mehr, mich unterwürfig vor ihm zu ducken. Von heute an werde ich ihn als meinesgleichen behandeln. Außerdem muss ich gestehen, dass ich mich über seinen Anblick freue. Ich würde zu gern wissen, wo er die letzten Tage gesteckt hat. »Ich gehe nirgendwohin.«

Ravods Augen wandern über mein Gesicht, ob vor Belustigung oder Zweifel kann ich nicht sagen. »Wir werden sehen.« Dann runzelt er die Stirn. »Was ist passiert?«

Ich folge seinem Blick zu dem langen Schnitt an der Seite meines Fingers. Unwillkürlich halte ich den Atem an, als ich an die Glassplitter in Nialls Kammer denke.

»Ach, nur ein kleiner Unfall.« Ich umfasse meine Hand, als ob er die Wunde vergessen würde, sobald er sie nicht mehr sieht.

»Du solltest die Wunde verarzten«, meint Ravod. »Sonst läufst du Gefahr, dass sie sich entzündet.« Ehe ich noch etwas sagen kann, zieht er eine kleine Phiole aus einem Beutel an seinem Gürtel. »Darf ich?«

Ich überlasse ihm meine Hand – vielleicht ein bisschen zu bereitwillig – und fühle die Wärme seiner Finger durch den Stoff seiner Handschuhe.

»Hast du ständig Desinfektionsmittel bei dir?«, frage ich ihn.

»Meine Mutter war Ärztin in …« Er bricht ab, dreht meine Hand um und träufelt ein paar Tropfen der kalten Flüssigkeit auf meine Wunde. Seine dunklen Augen sind ruhig und konzentriert und durch die Intensität darin noch anziehender als sonst. Das Mittel brennt und meine Hand zuckt. Sanft drückt er meine Handfläche, damit ich die Wunde nicht berühre. »Ich habe früher in ihrer Klinik manchmal ausgeholfen. Alte Gewohnheit, nehme ich an. Halt still, damit es einziehen kann.«

»Wolltest du auch Arzt werden?« Ich will die Gelegenheit, Fragen zu stellen, nicht verstreichen lassen. Es ist das erste Mal, dass er so offen mit mir spricht.

Ravod hebt kurz die Schultern. »Wahrscheinlich hätte ich die Klinik eines Tages übernommen. Aber ich besitze nicht ihre Geduld und Nachsicht im Umgang mit Patienten.«

»Als deine Patientin kann ich dir versichern, dass du dich nicht schlecht machst.« Ich lächele ihn an. »Deine Mutter … klingt so, als sei sie eine wirklich bemerkenswerte Person.«

Ein winziges Lächeln spielt in seinen Mundwinkeln. »Das war sie«, flüstert er. »Sie … ist fort.«

Ich fühle, wie seine Hand zittert wie ein kleines verwundetes Tier. Ich habe Angst, dass er sie wegziehen wird, aber das tut er nicht. Er schaut unverwandt auf die Stelle, wo sich unsere Hände berühren, als ob der Anblick ganz und gar fremdartig und unerwartet wäre.

»Ich habe auch meine Mutter verloren«, sage ich leise. »Ich weiß, wie weh das tut.«

Er schaut mich an und seine Augen weiten sich leicht. Ich weiß nicht, ob es daran liegt, dass ich ihm an jenem ersten Abend von dem Mord an meiner Mutter erzählt habe, oder ob er mit einem alten Schmerz zu kämpfen hat, jedenfalls zwingt er sich, den Blick abzuwenden. Dann räuspert er sich.

»Es gibt noch andere Dinge als den Tod«, flüstert er, »viele Gründe, warum der Mensch, den man liebt, nicht mehr bei einem sein kann.« Seine Stimme ist über dem Rauschen des Windes zwischen den Berghängen kaum zu verstehen.

»Und wenn du Medizin bei dir trägst, hast du das Gefühl, dass sie immer noch bei dir ist, nicht wahr?«

Abrupt lässt Ravod meine Hand fallen und steckt die Phiole wieder in seinen Beutel. Ich bin zu weit gegangen.

»Das sollte sowohl eine Entzündung als auch die Bildung einer Narbe verhindern«, sagt er. »Und sei in Zukunft etwas vorsichtiger.«

Sein Blick zuckt zur Seite. Kennan kommt auf uns zu. Ravod nickt ihr knapp zu, ehe er sich abwendet und weggeht. Und als ich seiner hochgewachsenen, muskulösen Gestalt nachschaue, muss ich all meine Willenskraft aufbringen, um ihm nicht hinterherzulaufen.

Es stimmt, ich finde ihn faszinierend, aber die Wahrheit ist, dass ich jeden – egal wen – lieber in meiner Nähe haben würde als Kennan.

»Ich habe beschlossen, heute einen anderen Ansatz zu versuchen«, sagt Kennan ohne Begrüßung, doch daran habe ich mich mittlerweile gewöhnt. »Komm mit.«

Ohne ein weiteres Wort dreht sie sich um und verlässt den Übungsplatz. Wir gehen durch den Haupteingang in den Flügel der Barden, an den Sälen und Räumen vorbei, die ich bereits kenne, bis zu einem hohen Tor am hinteren Ende des Trakts, das in einen dunklen Tunnel führt.

Ein kalter Luftstrom weht mir entgegen und ich fange an zu zittern. Der Weg wird lediglich vom Licht einiger weniger Fackeln erhellt, was das Laufen auf dem unebenen Untergrund erschwert. Nach einigen Biegungen und Kurven stehen wir vor einem zweiten Tor, das Kennan aufstößt.

Noch ein paar Stufen abwärts und wir betreten einen Gang, der hinter dem südlichen Wasserfall in den Felsen gehauen ist und an einem steilen Abgrund endet. Der Wasserfall hängt wie ein riesiger Vorhang am Tunnelende, gehüllt in weiße Gischt. Hier gibt es keine Fackeln mehr, die Luftfeuchtigkeit würde jede Flamme sofort auslöschen. Stattdessen sorgen kleine, leuchtende Steine, die in einer Schlangenlinie in die Wände eingelassen sind, für eine gewisse Helligkeit. Die Steine haben die gleiche blassgelbe Farbe wie Kennans Augen und ich habe das Gefühl, von Dutzenden Kennans angestarrt und abgeschätzt zu werden.

»Das ist wunderschön«, hauche ich.

»Freut mich, dass es dir gefällt«, sagt Kennan. »Denn wenn der heutige Tag so verläuft wie der Rest der Woche, werden wir viel Zeit hier verbringen.«

Ich gebe es nur ungern zu, aber sie hat vermutlich recht.

»Ihr werdet doch hoffentlich nicht von mir verlangen, über die Felskante zu springen, oder?«, frage ich zögernd.

»Deine Aufgabe ist kinderleicht.« Mit einer Kopfbewegung deutet sie auf den Wasserfall. »Teile das Wasser.«

»Was?« Fassungslos schaue ich zu der mächtigen, donnernden Wasserwand hin. »Ich dachte, die Aufgaben wären bloß eine Erweiterung meiner natürlichen Fähigkeiten. Ihr sagtet, eine Beschwörung sei wie das Sichtbarwerden dessen, was in uns steckt. Aber das Wasser teilen? Das ist …« Unmöglich, liegt mir auf der Zunge, doch Kennan hat die Erde gespalten. Auch das war unmöglich. Trotzdem – was sie von mir verlangt, würde das Können eines ausgebildeten Barden erfordern, nicht das tollpatschige Herumeiern eines Lehrlings.

Kennan seufzt, als hätte sie meine Gedanken gelesen. »Wasser besitzt bereits die Eigenschaft zu fließen, aber es verfügt auch über die Fähigkeit, jede Form anzunehmen, die du ihm gibst – anders als die Luft, die davongeweht wird, oder die Erde, die von Grund auf scheu und widerspenstig ist. Eine Beschwörung bedeutet, eine mögliche Veränderung zu bewirken. Wasser ist das Element, das man am einfachsten formen kann.« Sie sagt das, als ob diese Dinge zum Allgemeinwissen gehören, als ob es eine Tatsache wäre, so wie das Blau des Himmels. »Selbst die ungeschicktesten Barden sind in der Lage, diese Aufgabe zu meistern.« Sie lehnt sich gegen die Felswand. »Zum Glück hast du meine Erwartungen im Verlauf der Woche deutlich heruntergeschraubt.« Sie verstummt kurz. »Gehe in das Wasser hinein.«

Nervös trete ich an den Rand des Abgrunds. Verlangt sie etwa von mir, in den Wasserfall zu springen? Die Strömung sieht schlichtweg tödlich aus und ich kann nicht einmal schwimmen …

Ich drehe mich zu ihr um und auf meinem Gesicht muss pures Entsetzen stehen, denn sie fängt an zu lachen. »Nicht mit deinem Körper. Gehe mit deinem Geist in das Wasser hinein. Fühle, was es fühlt. Dränge es dazu, sich zu teilen. Befehle ihm zu tun, was es im Grunde genommen tun will: Platz machen. Sich dir unterordnen.«

Während Kennan spricht, verändert sich ihr Gesicht. Verschwunden ist die übliche Strenge und an ihre Stelle tritt etwas anderes, etwas, das man beinahe weich und nachgiebig nennen könnte, als ob sie über einen alten Freund spricht und nicht über einen Wasserfall. Doch der Moment geht schnell vorbei und gleich darauf macht sich wieder die bedrohliche Kälte auf ihrer Miene breit.

Ich erwidere ihren bösen Blick – und schicke ihn gleich danach in Richtung Wasserfall. Aber beide ignorieren mich. Na gut, denke ich und holte tief Luft.

Wenn selbst die ungeschicktesten Barden dazu in der Lage sind, kann es ja so schwer nicht sein.

abs

Im Zustand der Erschöpfung verändert sich der Lauf der Zeit.

Kennan macht es sich in einer Felsnische gemütlich, während ich ein ums andere Mal bei dem Versuch scheitere, das Wasser zu teilen. Allein schon das Bemühen, einen Gedanken zu Ende zu führen, kommt mir vor, als müsste ich ihn vom Grund eines morastigen Moorsees heraufziehen. Meistens rutscht er mir weg und fällt wieder nach unten, wo er sich im dunklen Wasser verliert.

»Noch mal.«

Ihre Stimme bohrt sich wie ein scharfer Fingernagel in meinen Schädel. Ich bin einfach zu erledigt, um noch klar zu denken.

»Ich rede mit dir, Bauerntrampel.« Kennan richtet sich zu ihrer stattlichen Größe auf. Ihre Lippen verziehen sich zu einem Knurren. »Noch mal.«

»Ihr behauptet, Wasser ließe sich leicht formen.« Ich kann nur noch flüstern, zu mehr bin ich nicht mehr in der Lage, während ich meinen schmerzenden Kopf umklammere. Das Hämmern darin passt sich dem Pulsieren des Wassers an, über beides habe ich keine Kontrolle. »Aber nur, weil etwas flüssig ist, heißt das noch lange nicht, dass es sich verbiegen lässt.«

»Ach, tatsächlich?« Neugier tritt in Kennans Augen. Ihre Stirn liegt noch immer in übellaunigen Falten und ihre Arme sind verschränkt, aber ich sehe, dass sich ihre Finger leicht entspannen. »Du bezweifelst also meine Fachkenntnisse, Bauerntrampel? Gibt dir deine … Erfahrung ein besonderes Wissen, das mir vorenthalten ist?«

»Natürlich nicht.« Ich knirsche mit den Zähnen, weil das Hämmern in meinem Schädel mir allmählich Übelkeit verursacht. »Ich …«

Was wenn ich die Sache falsch angegangen bin? Ich starre das herabfallende Wasser an und fühle seine Kraft, mit der es an mir vorbeirauscht. Bilder aus Aster zucken vor meinem inneren Auge auf: das Tuscheln in der Zuschauermenge, als die Leute sich bei der Ankunft der Barden dicht aneinanderdrängen, angezogen von jener herrlichen Macht, die ihre Körper bewegt, näher und näher heran an den Traum von Erlösung …

»Wenn ich das Wasser nicht zwingen kann, seinen Verlauf zu ändern …«, murmele ich. Meine Finger finden die Nadeln in meiner Hosentasche. Am Rand des Gangs befindet sich ein großer Felsbrocken, über den das Wasser läuft. Aus irgendeinem Grund habe ich das Gefühl, dass dieser Felsen locker ist. Ich tipp-tipp-tippe mit der Nadel, fühle noch einmal, wie sich das Hämmern in meinem Kopf mit dem Pochen des Wassers verbindet, während ich meine Idee in Worte fasse. »Was wenn es einen Grund hätte, sich zu teilen?«

Ich trete näher heran, bis ich direkt unter dem Felsen stehe, und fahre mit den Fingern an der stechenden Wasserkante entlang. Ich stelle mir das Krachen des Donners vor, den Leben spendenden Regen, mit dem die Barden Aster segneten und damit den Blick und die Bewegung der Menge beeinflussten, die ihre Gesichter himmelwärts richtete und anfing zu tanzen.

Kennan keucht auf und das Nächste, was ich spüre, ist der Druck ihrer scharfen Fingernägel in der weichen Haut meines Nackens. Mit einem Ruck reißt sie mich nach hinten und ich schreie auf, als ich das Gleichgewicht verliere und hinfalle.

Doch über mir ertönt der tosende Donner, der immer noch anhält, als der Felsen, unter dem ich eben noch gestanden habe, nach unten kracht und den Fluss des Wassers teilt.

Entsetzt starre ich die Stelle an, wo der Fels niedergegangen ist – unter dem ich jetzt begraben liegen würde –, und krabbele auf allen vieren weg von dem Wasserfall, der sich nun rechts und links des Felsens nach unten in den Abgrund wirft. Das Wasser hat seinen Lauf verändert. Obwohl ich immer weiter nach hinten krieche, spritzt es mir noch über die Füße.

Ich habe es geschafft.

Glaube ich zumindest.

»Willst du dich umbringen?« Kennans zornige Stimme durchbricht meine Schockstarre. Ihre Wangen sind gerötet und sie wischt sich etwas von den Händen ab. Ist das mein Blut? »Du dummes, gedankenloses …«

»Aber ich habe es geschafft.« Ich mache keine Anstalten von dem nassen Boden aufzustehen. Stattdessen genieße ich das Wasser, das um mich herum plätschert und den Schmerz in meinen Schläfen lindert. Ein Lachen dringt aus meinem Mund, als ich nach oben schaue zu der riesigen Lücke, die der heruntergefallene Brocken im Felsgestein hinterlassen hat. »Ich … ich hab’s geschafft.«

»Was dich beinahe das Leben gekostet hätte!« Ich kann mir den Zorn in ihrer Stimme nicht erklären. »Du musst lernen, dich zu beherrschen. Wenn du dich nicht kontrollieren kannst, kannst du auch sonst nichts kontrollieren.« Sie deutet zum Wasserfall. »Deine Aufgabe bestand nicht darin, den Tunnel zum Einsturz zu bringen. Du solltest dich auf das Wasser konzentrieren.«

»Aber auf Eure Weise hat es nicht funktioniert!« Ich halte ihrem Blick stand und erhebe mich. Irgendwie fühle ich mich auf einmal mutig. In Kennans Wut liegt noch etwas anderes, etwas wie … Angst. Ich muss mir diese offene Wunde zunutze machen. »Vielleicht ist es an der Zeit umzudenken.«

In einem Herzschlag ist Kennan über mir und ihre scharfen Krallen schießen auf mich zu, wie um mir meine verräterische Zunge herauszureißen. Ich zucke zusammen und mache mich auf eine Abreibung gefasst.

Doch ein langsames Klatschen lässt Kennan erstarren. Ihre Hände sind nur noch wenige Zentimeter von meinem Hals entfernt.

Jemand … applaudiert?

Eine Gestalt tritt aus den Schatten der Höhle.

Cathal.

»Bravo, Shae.« Er lächelt mich an. »Ich bin beeindruckt.«

Kennan sackt in sich zusammen, als sie ihre Hände zurückzieht. Cathal hat nur ein Stirnrunzeln für sie übrig. Ich sinke auf die Knie, weil meine Beine so kraftlos sind, dass sie mich nicht mehr tragen wollen.

Cathal begutachtet mein Werk. Seine elegante Kleidung und die scharfen Augen glänzen im Licht.

»Danke, Kennan, für die Zeit, die du geopfert hast«, sagt er. »Aber ich denke, deine Dienste werden hier nicht länger benötigt.«

Kennan will widersprechen, aber Cathal macht einen Schritt auf mich zu, ohne sie auch nur eines weiteren Blickes zu würdigen. »Und wenn du jetzt so freundlich wärst: Ich möchte mit meiner neuen Bardin unter vier Augen sprechen.«