KAPITEL 28
Anfangs spüre ich nur die erdrückende Schwere des Fiebers. Dann das Gefühl, auf eine harte, ebene Fläche gezogen zu werden.
Nur nicht das Bewusstsein verlieren …
Wo bin ich? Wieder im Sanatorium? Ich will um mich schlagen, schaffe es aber nur, mich kraftlos im Griff der Hände zu winden, die mich festhalten.
Fest, aber überraschend sanft.
»Immer langsam, es gibt keinen Grund, ihr wehzutun«, sagt einer der Wachmänner.
Diese Stimme kenne ich so gut wie meine eigene. Selbst im Wahn des stetig steigenden Fiebers weiß ich genau, wem sie gehört. Es kommt mir vor wie eine halbe Ewigkeit, seit ich diese Stimme zuletzt gehört habe, aber sie ist unverkennbar.
Ich mühe mich ab, die Augen zu öffnen. Mein Kopf rollt auf die Seite und ich sehe silberblondes Haar aufleuchten. Länger als bei unserer letzten Begegnung. Breite Schultern, muskulöse Arme …
Wieder ein Trick. Ich darf meinen Augen nicht trauen, nicht in diesem verdammten Palast.
Das Letzte, was ich höre, ist eine Eisentür, die ins Schloss fällt. Der Klang fährt schmerzhaft durch jeden einzelnen Muskel. Dann zieht mich ein heftiger Hustenanfall nach unten in einen dunkelblauen Abgrund.
Das Erste, was ich höre, als ich wieder aufwache, ist eine andere Stimme: »Glaub mir, so habe ich mir das wirklich nicht vorgestellt.«
Ich drehe mich zu der Stimme hin. Mein Hinterkopf fühlt sich an, als ob er gegen den Stein schrammt, auf dem ich liege.
Ich warte, bis das Hämmern in meinem Schädel etwas abnimmt, ehe ich die Augen aufschlage. Seltsamerweise bin ich erleichtert, dass ich in einer gewöhnlichen Zelle liege und nicht im Sanatorium. Mein Gefängnis ist etwa halb so groß wie mein Zimmer im Quartier der Frauen und aus einem dunklen Stein gehauen. Es gibt kein Fenster, lediglich eine vergitterte Tür.
Dahinter sehe ich die Silhouette einer Frau. Ihre Hände umfassen die Gitterstäbe. Auf einer davon prangt eine Brandwunde.
»Kennan?« Ich spüre, wie mein Atem über die dunklen Adern in meiner Kehle streift. Ich klinge nicht wie ich selbst. »Was machst du denn hier?«
Diese Frage kommt mir idiotisch vor. Ich weiß, warum sie hier ist. Sie will sich an meinem Anblick ergötzen. Oder mich umbringen.
»Du hättest dort sein sollen«, sagt Kennan unvermittelt. »Im Haus. Bei deiner Mutter. Du bist diejenige, die wir hätten töten sollen.«
»Und jetzt willst du beenden, was du angefangen hast?«, keuche ich. Das Sprechen ist so anstrengend, dass ich wieder husten muss.
Kennan schüttelt den Kopf. »Das war nicht meine Absicht.«
»Ich habe keine Lust mehr auf Rätsel.« Rasselnd sauge ich flache Atemzüge ein.
»Also schön«, seufzt Kennan, holt ein Stück Papier hervor und faltet es auf. »Sag mir, was du darin siehst.«
Ich funkele sie böse an, aber sie weicht nicht zurück. Es kostet mich all meine Kraft, mich aufzusetzen. Jeder Knochen in meinem Körper fühlt sich an, als würde er in Flammen stehen. Vor Schmerz stöhnend stemme ich mich von dem Bett aus Stein hoch und schlurfe auf die Zellentür zu.
Kennan zuckt nicht einmal mit der Wimper, als ich ihr das Stück Papier mit blauen Fingern aus der Hand nehme. Ich halte es ins Licht, das vom Gang her in die Zelle fällt. Eine andere Beleuchtung gestattet man mir nicht.
Es ist eine von Nialls Karten, eine genaue Darstellung meines Hauses und des umliegenden Tals. Aber jetzt ist da, wo früher die Weide war, ein Erdrutsch.
»Niall hat den Erdrutsch ausgelöst?« Ich runzele die Stirn. »Warum? Um zu vertuschen, dass du meine Mutter getötet hast?«
Kennan fixiert mich mit einem nüchternen Blick. Ihre blassen Augen sind nachdenklich. Bevor sie antwortet, zuckt ihr Mund kurz.
»Ich …« Sie hält inne. »Ich glaube, dass ich deine Mutter getötet habe.«
Sie hat Glück, dass sie auf der anderen Seite einer Eisentür ist und ich keine Kraft für eine Beschwörung habe. Ich muss mich sogar zusammenreißen, um mich aufrecht zu halten.
»Wie, du bist dir nicht sicher?«, frage ich durch zusammengepresste Zähne. »Das scheint mir etwas zu sein, an das man sich erinnern sollte.«
»Genau das meine ich auch«, sagt Kennan mit leiser Stimme. »Ich habe die ganze Zeit versucht, die Wahrheit herauszufinden. Ich wollte die Sache in Ordnung bringen. Ich dachte, ich würde im Buch der Tage Antworten bekommen. Ich …« Sie wendet den Blick ab. »Es spielt keine Rolle. Aber ich dachte, du solltest es wissen.«
»Du bist schon ein fieses Miststück, Kennan«, fauche ich sie an. »Diese ganze Sache mit den Gegenbeschwörungen und den Gemeinheiten während des Trainings hat dir ja so leidgetan!«
»Du …« Sie bricht abrupt ab, bevor sie mir eine weitere Beleidigung an den Kopf werfen kann. Dann atmet sie tief durch und setzt noch einmal an. »Wenn du versagt hättest, wärst du in Sicherheit gewesen. Ich tat es, um dich zu schützen, um deine Identität geheim zu halten.«
Was sie sagt, klingt plausibel. »Vor Cathal«, flüstere ich.
»Vor wem sonst?« Kennan verdreht die Augen. »Er hat mit mir das Gleiche gemacht, weißt du. Hat mit meiner Verletzlichkeit gespielt und so getan, als sei er mein einziger Freund. Es war alles nur eine Täuschung. Er will das Buch der Tage und es ist ihm egal, wen er dafür opfert. Ich war ebenfalls im Labyrinth und bin gerade so mit dem Leben davongekommen.«
Ich zittere am ganzen Leib. »Selbst wenn das wahr wäre, warum sollte ich dir je wieder vertrauen, nach dem, was du meiner Ma angetan hast?«
»Würdest du mir bitte mal fünf Sekunden zuhören? Ich versuche gerade, das Richtige zu tun!«, fährt Kennan mich an. Ihr Ton ist nicht anders als sonst, aber in ihren Augen liegt jetzt Bedauern.
Ich straffe die Schultern und umklammere mit beiden Händen die Gitterstäbe der Zellentür. »Dann tu es. Sag, was du zu sagen hast.« Ich seufze. Wenn sie so weitermacht, werde ich am Blauen Tod gestorben sein, ehe sie ihr Gewissen erleichtert hat.
Sie atmet durch. »Die Eintreibung des Zehnten war nur ein Grund, warum wir an diesem Tag nach Aster geschickt wurden«, sagt Kennan. »Cathal versicherte mir, dass diese Aufgabe mein Versagen im Labyrinth wiedergutmachen würde. Wir verfolgten die Spur von jemandem, der sich von den Barden und von Cathal abgewandt hatte, lange bevor ich ins Hohe Haus kam. Unsere Späher in der Ebene informierten uns über Gerüchte, sie sei in Aster.«
»Sie?«
Kennan legt den Kopf schräg. »Wusstest du nicht, dass deine Mutter eine Bardin war?«
Ich erstarre. Die Frage hängt in der Luft wie eine Gewitterwolke kurz vor dem Sturm. Ma? Eine Bardin?
»Niall und ich wurden beauftragt, mit ihr zu reden. Sie sollte lebend zurückgebracht werden. Sie leistete Widerstand«, fährt Kennan fort. »Ich erinnere mich nur noch daran, dass ich nach deiner Mutter griff. Dann schleuderte mich eine Beschwörung gegen die Wand. Ich weiß nicht, wessen Beschwörung es war. Als ich zu mir kam, schleifte mich Niall gerade aus dem Haus und versprach, er würde niemandem verraten, was ich getan hatte.«
»Und du hast ihm geglaubt?«
»Ich weiß es nicht«, sagt sie. Einen Augenblick lang schweigen wir beide. »Ich weiß nur, dass ich seitdem von Albträumen heimgesucht werde. Ich sehe schreckliche Dinge.« Sie verzieht das Gesicht zu einer Grimasse und die Qual, die darin liegt, kenne ich gut: Ich spüre sie selbst, seit ich ins Hohe Haus gekommen bin. Die Angst, verrückt zu werden. Und dass es nichts gibt, was man dagegen tun könnte. »Du scheinst zu wissen, wovon ich rede«, setzt sie hinzu.
»Der Wahnsinn«, sage ich und nicke.
Kennan zögert kurz und zieht dann vielsagend die Augenbrauen hoch. »Nur dass ich nicht daran glaube.«
»Warum sollte …?« Ich breche ab. Kennans Blick liegt bleischwer auf mir. Der Gedanke ist beängstigend, aber sie könnte recht haben.
Ich muss daran denken, was Cathal zu mir gesagt hat: Je mehr ich dir erzähle, desto mehr glaubst du mir und desto mehr wird es Wirklichkeit. Der Wahnsinn und die Vorstellung, dass Frauen empfänglicher dafür sind – das war nur eine weitere Lüge, um uns zu kontrollieren.
»Glaubst du denn daran, nach allem, was du gesehen hast?«, fragt sie.
Ich schüttele den Kopf und gebe mir alle Mühe, meine sich überschlagenden Gedanken zu sortieren. »Also … warum hast du nach dem Buch der Tage gesucht?«
»Ich dachte, ich könnte dafür sorgen, dass alles wieder so wird wie früher. Dass ich ungeschehen machen könnte, was passiert ist«, erklärt Kennan. »Meine Fehler ausradieren.«
»Du hast gesagt, dass meine Ma mit dir gesprochen hätte«, erwidere ich. »Du hast zu mir gesagt: Sie hat behauptet, es sei real.«
Kennan erschauert, doch sie nickt kaum merklich. »Gondal.«
Mir bleibt der Mund offen stehen.
»Sie meinte, dass sie Leuten helfen würde, es zu finden. Dass man dort frei sein kann und nicht unter der Fuchtel des Hohen Hauses steht.« Sie zögert. »Du wusstest es nicht?«
Ungläubig schüttele ich den Kopf. Die Vorstellung, dass Ma gesprochen hat, und noch dazu mit Kennan, kann nur ein schlechter Witz sein. Aber wenn ich an meine Zeit mit Ma denke, an ihr Schweigen nach Kierans Tod, dann frage ich mich allmählich, ob ich meine Mutter überhaupt kannte.
»Warum erzählst du mir das ausgerechnet jetzt?«
»Ich muss dich nicht leiden können, um zu wissen, dass es das Richtige ist.«
Ich taumele rückwärts und setze mich auf das steinerne Bett. Ich kann mich einfach nicht mehr aufrecht halten. Die Stille dehnt sich aus.
»Und ich habe dieses Versteckspiel satt. Diese Schuldgefühle …« Kennan verzieht das Gesicht. »Ich erkenne mich selbst kaum wieder. Je länger ich daran festhalte, desto mehr verliere ich. Vielleicht habe ich deine Mutter nicht getötet …«
»Aber du hast sie auch nicht gerettet.«
Kennans Blick zuckt zu mir hin. Zum ersten Mal erkenne ich das Ausmaß ihres Schmerzes, den sie mit sich herumträgt. Bislang konnte sie ihn gut verbergen.
»Ich werde dich nicht um Vergebung bitten, denn es liegt nicht in deiner Macht, sie mir zu erteilen«, sagt sie. »Aber ich würde gerne für meine Taten – oder meine Tatenlosigkeit – Buße tun, wenn du mir das gestattest.«
Ich halte ihren Blick fest. Ihre hellen Augen starren mich an, ohne zu blinzeln. Vielleicht werde ich Kennans Moralvorstellungen nie begreifen, aber ich habe keinen Zweifel daran, dass sie es ernst meint.
»Und wie willst du das anstellen?«
»Ich werde dich hier rausholen«, antwortet Kennan. Ehe ich etwas sagen kann, macht sie auf dem Absatz kehrt und verschwindet aus meinem Blickfeld. Sobald sie weg ist, treten zwei Wachmänner vor und beziehen rechts und links der Tür Stellung.
Ich gebe es nur ungern zu, aber die ganze Zeit habe ich gehofft, Ravod würde auftauchen und mir erklären, dass nicht er es war, der das Buch der Tage gestohlen hat. Dass es keine Falle war. Ich wünschte, ich würde ihn verstehen. Warum hat er es genommen? Und wohin hat er es gebracht?
Rasselnd atme ich ein. Ich schaue nach unten auf meine zitternden Hände, die dunkel von den Flecken sind. Als ich meinen Ärmel nach oben schiebe, ist die Färbung bereits bis über meinen Ellbogen gewandert. Die Adern brennen unter meiner Haut, an meinen Beinen, meinem Rücken, in meinem Kiefer. Im Grunde genommen ist es egal, ob ich fliehe oder nicht.
Mein Schicksal ist besiegelt.